Kapitel 2

Wie ein Feuer, das bald erlischt

Harrys Augen waren verschleiert und wirkten merkwürdig leer. Es war eine andere Leere als damals. Sie war irgendwie endgültig. Absolut.

Severus fühlte, wie sich diese Leere nach dieser Erkenntnis auch in ihm ausbreiten wollte, doch er ließ es nicht zu, sondern legte seinen gesamten Fokus darauf, die eisige Maske, die er über seine Züge hatte gleiten lassen in dem Moment, in dem Harry erwacht war, aufrecht zu erhalten.

"Einen Gedächtnisverlust kann ich damit wohl ausschließen, Potter." Severus war über die Kälte seiner Stimme selbst erstaunt. Doch die Worte waren mal wieder heraus gewesen, bevor er es hatte verhindern können. – Und irgendwie taten sie ihm auch nicht leid. Auch wenn Harry zusammenzuckte und ein schuldbewußter Ausdruck sich auf das Gesicht des Jungen legte. – Auch wenn er seinen Ärger nicht wirklich an ihm auslassen wollte. An jedem anderen ja, aber eigentlich nicht an Harry.

Harry hob vorsichtig den Arm und betastete seine Stirn. Sie war eiskalt und schweißnaß. Das war kein gutes Zeichen. Wie lange hatte er geschlafen? Er hatte doch gerade erst das letzte Mal... In der verzweifelten Hoffnung, daß sich alles nur als böser Traum herausstellen würde, aus dem er nur erwachen mußte, schloß Harry die Augen wieder, preßte die Lider so fest zu, wie er nur konnte.

Doch als er sie wieder öffnete, war Severus noch immer da. Er lag noch immer in dem gleichen Bett, in dem gleichen Raum, der aussah wie ein Zimmer im Tropfenden Kessel. Harry stöhnte auf und drehte sich auf die Seite, weg von Severus, der inzwischen aufgestanden war.

Harry hörte, wie Severus durch den kleinen Raum ging, gefolgt von leisen Geräuschen, die er nicht identifizieren konnte und schließlich wieder Schritte, als sein ehemaliger Lehrer zu ihm zurück kam. Die Matratze des Bettes gab unter dem Gewicht des anderen Mannes nach, als dieser sich setzte und bevor Harry richtig realisiert hatte, was geschah, hatte Severus ihn wieder herumgedreht und ihm in eine halbwegs aufrechte Sitzposition geholfen.

Harry wollte protestieren, doch noch bevor ein einziger Laut über seine Lippen kam, fühlte er ein kühles Glas an seinen Lippen. Erst in diesem Moment bemerkte Harry, wie durstig er war.

"Langsam Potter, ich hab dich nicht von der Straße geholt, damit du mir hier bei der ersten Gelegenheit erstickst." Wieder zuckte Harry zusammen, doch er gab sich Mühe, nicht mehr ganz so gierig zu trinken. Langsam hob er eine zitternde Hand und umfaßte das Glas an seinen Lippen. Für einen kurzen Moment berührten seine klammen Finger die des älteren Mannes, bevor Severus das Glas los ließ. Ihre Blicke trafen sich und Harry war sich fast sicher, daß die schwarzen Augen nicht mehr ganz so kalt waren wie noch vor wenigen Minuten. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.

"Danke." Murmelte er, als er das Glas schließlich sinken ließ. Severus nickte knapp. Ohne Harry seine stützende Hand im Rücken zu entziehen, richtete er die Kissen und half Harry anschließend, sich gegen das Kopfende des Bettes zurück zu lehnen.

Das Zittern hatte sich von Harrys Händen bereits auf den gesamten Oberkörper ausgebreitet. Obwohl der Junge sich daran klammerte, als hinge sein Leben daran, nahm Severus ihm das Glas aus den Händen und stellte es auf dem Nachttisch ab. Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. – Nichts was nicht irrationales Schreien und haufenweise Vorwürfe zum Inhalt gehabt hätte zumindest.

"Was ... was ist passiert?" Severus blickte auf und musterte Harry einen Moment lang. Der Junge hatte den Kopf zurück in den Nacken fallen lassen und starrte an die dunkle Decke des Raumes. Offensichtlich wußte auch er nicht, wohin mit seinen Augen.

"Eine wirklich gute Frage, Potter." Diesmal zuckte Harry nicht, aber seine Hände in seinem Schoß verkrallten sich ein wenig ineinander.

"Werden Sie sie beantworten?"

"Ich überlasse dir gerne den Vortritt." Harry schloß für einen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er leicht den Kopf drehte und Severus wieder direkt ansah. Dieser hob überrascht die Augenbrauen an, als er die Wut in den Augen des jungen Mannes sah.

"Schön, dann eben nicht, Snape." Mit weniger Schwung und Bestimmtheit als er offensichtlich geplant hatte, schlug Harry die Decke zurück und versuchte aufzustehen, verfing sich aber mit dem rechten Fuß und landete etwas unsanft auf dem alten Bettvorleger.

"Was denkst du, was du da tust?!" rief Severus aus, diesmal nicht in der Lage, seine Sorge hinter eisiger Kälte zu verstecken, und umrundete das Bett mit drei langen Schritten. Doch Harry schien nicht bemerkt zu haben, daß die Maske für einen Moment verrutscht war, denn noch immer funkelten die verschleierten Augen wütend und er schlug Severus' Hand unwirsch fort, als er darum kämpfte, wieder auf seine wackligen Beine zu kommen.

"Ich verschwinde, was sonst?." Ein wenig gehetzt blickte Harry sich in dem kleinen Raum um und entdeckte seine alte Jacke und abgetragenen Schuhe vor dem kleinen Kamin des Zimmers, wo Severus sie zum Trocknen ausgelegt hatte.

"Das denke ich nicht, Potter." Entgegnete Severus und stellte sich ihm mit vor der Brust verschränkten Armen in den Weg. Nur einen Moment noch blitzte Wut in den grünen Augen auf, bevor sie einer resignierten Erschöpfung wich. Vorsichtig tastete Harry nach der Matratze hinter sich und setzte sich, als er sich sicher war, daß er nicht wieder auf dem Boden landen würde.

"Hören Sie, Snape, was auch immer Sie da draußen für mich getan haben, ich bin dafür sehr dankbar. Aber jetzt geht es mir wieder gut und ich werde gehen." Snape schnaubte verächtlich und blickte auf den zitternden Jungen hinab, der unter dem eisigen Blick immer kleiner zu werden schien. Vielleicht war es nicht gerade der beste weg, Harry davon zu überzeugen, daß er Hilfe brauchte und er deshalb hier bei ihm bleiben sollte, aber Severus fühlte sich schlicht überfordert mit seinen Gefühlen. Also tat er das einzige, was er beherrschte wie kein anderer. Er war kalt, grausam und schüchterte ein.

"Es braucht nun wirklich keinen Meister der Zaubertränke, um zu erkennen, daß das Schwachsinn ist, Potter. – Auf was bist du?" Severus wußte nicht, ob er wirklich eine Antwort darauf erwartete, ganz abgesehen davon, daß er es sich schon denken konnte. Die unzähligen Einstiche in Harrys Arm hatten Bände gesprochen. Trotzdem, er wollte es aus dem Mund des Jungen hören.

"Was geht es Sie an?" fragte Harry trotzig zurück und rutschte ein Stück weiter von Severus weg an das andere Ende des Bettes, wo er die Knie an seinen Oberkörper zog und seine Arme schützend darum wickelte.

"Harry, so kommen wir nicht weiter!" Obwohl Harry langsam das Gefühl hatte, daß diese ganze Farce nur noch wie ein Film an ihm vorbeilief und langsam im dunstigen Schleier der immer stärker werdenden Entzugserscheinungen verschwamm, registrierte sein Hirn zwei sehr essentielle Merkmale dieser Worte. Severus hatte ihn zum ersten Mal seit Beginn des Gespräches beim Vornamen genannt und in der Stimme des älteren Zauberers war ein ganz feiner Hauch von verzweifelter Sorge zu hören. Harry hätte es wohl nicht erkannt, wenn er diesen Ton nicht schon einmal vor langer Zeit in Severus' Stimme gehört hätte.

Harry hob langsam den Kopf und blickte Severus aus glasigen Augen an.

"Wie lange bin ich schon hier?" Zu allem Überfluß begann jetzt auch noch sein Magen damit, unangenehme Sprünge zu machen.

"Etwa dreizehn Stunden." Harrys Augen weiteten sich und mit einem leisen Fluchen sprang er erneut aus dem Bett auf und startete einen zweiten Versuch, seine Schuhe und Jacke zu greifen und so schnell wie möglich aus dem Zimmer zu verschwinden.

Wieder wollte sich Severus ihm in den Weg stellen, doch dieses Mal war es gar nicht nötig. Kaum berührten Harrys Füße den Boden des Zimmers, merkte er auch schon, daß er einen Fehler gemacht hatte. Alles begann sich zu drehen und hunderte Sternchen blitzten vor ihm auf, bevor alles um ihn herum schwarz wurde.

Nur knapp schaffte Severus es, Harrys Sturz zu verhindern, als der Kreislauf des Jungen bei diesem viel zu plötzlichen Blitzstart aus dem Bett nachgab und zusammenbrach. Es kam eigentlich nicht wirklich überraschend für ihn. Harry hatte sich zu sehr aufgeregt. Trotzdem fluchte Severus heftig, als er ihn zurück auf das Bett legte und wieder zudeckte.

Wie hatte er nur so dumm sein können, es überhaupt so weit kommen zu lassen?

Severus warf einen langen Blick auf den ohnmächtigen Jungen vor sich. Wie lange es wohl dauern würde, bis er endlich Antworten bekam? Harry machte nicht gerade den Eindruck auf ihn, sich wirklich kooperativ zeigen zu wollen. Das würde mit Sicherheit noch ein hartes Stück Arbeit werden.

Jetzt wo Harry es nicht mehr sehen konnte, erlaubte Severus sich endlich ein Lächeln, als seine eingefrorenen Gesichtszüge langsam wieder entspannten und er Harrys viel zu langes Haar aus dessen Gesicht strich. Es war nicht wichtig, ob es Harry von Anfang an gefiel und ob er ihm aktiv half. Er würde ihn nicht aufgeben und irgendwann würde sogar dieser Sturkopf von einem Gryffindor begreifen. Es brauchte nur Zeit.

Und über Zeit brauchte Severus Snape sich nun wirklich keine Sorgen zu machen, die hatte er. Harry hatte sie ihm geschenkt, zusammen mit seiner Freiheit. Einzig über die Geduld, die er vielleicht über einen langen Zeitraum aufbringen mußte, machte der Zaubertrankmeister sich Sorgen.

Geduld war keine seiner Stärken.

Nachdenklich strich seine Hand von Harrys Haar zu seiner Stirn und anschließend zu seiner Wange. Eiskalt und schweißnaß. Und das Zittern wurde stärker. Es war schon eine Weile her, daß er sich mit Muggelchemie, Biologie und Muggeldrogen beschäftigt hatte, aber dennoch konnte Severus sich noch einige der zu erwartenden Reaktionen ins Gedächtnis zurückrufen.

Wenn er sich nicht täuschte, dann war Harrys Wahl auf Heroin gefallen. Die Einstiche sprachen dafür und auch die Tatsache, daß es wohl eine der Drogen war, die man am leichtesten auf der Straße bekommen konnte.

Das gute daran war, daß der Entzug bei einer solchen Droge zwar schmerzhaft und teilweise langwierig war, aber bei weitem nicht so gesundheitsgefährdend wie der Entzug von Alkohol zum Beispiel. Es bestand das Risiko, daß Harry einen noch schlimmeren Kreislaufzusammenbruch erlitt als den vor wenigen Minuten, bis hin zu einem Maß, wo es dann auch lebensbedrohlich war, aber das war selten.

Severus atmete tief durch und wanderte zu dem kleinen Fenster hinüber. Er lehnte sich mit der Stirn gegen das kühle Glas, den Blick auf das Treiben in der Winkelgasse gerichtet, doch nichts von dem, was sich vor seinen Augen abspielte, schaffte es auch wirklich so weit in sein Bewußtsein, daß er es registrierte.

Er mußte stark bleiben, das war eigentlich das wichtigste an der ganzen Sache. Er durfte nicht nachgeben, egal wie weh es auch tat, Harry leiden zu sehen. Und leiden würde er. Severus wußte nicht wirklich, ob er dazu in der Lage war, Harry leiden zu lassen und ruhig dabei zuzusehen, aber er wußte doch ganz genau, daß er ihm nur noch mehr schadete, wenn er es nicht war.

Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, daß das Gesicht, welches er Harry stets gezeigt hatte und auch jetzt wieder zeigte, ein Spiegel seines wahren Inneren darstellte und wenn es nur für wenige Tage war. Das konnte schon reichen.

Mit einem unwilligen Seufzer riß Severus sich aus seinen Grübeleien und schritt entschlossen auf den Kamin zu. Er würde noch genug Zeit haben, über solchen Dingen zu brüten, jetzt mußte er sich vorbereiten. Mit einem verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht, griff Severus in eine Vertiefung im Mantel des Kamins und warf eine Prise Flohpulver in die Flammen.

"Albus Dumbledore." Sagte er leise, um Harry nicht zu stören, aber nicht weniger bestimmt als sonst. Sekunden später tauchte das Gesicht des alten Direktors von Hogwarts in den Flammen auf und Severus sah ihm sofort an, daß er besorgt war. Die Augen des alten Mannes funkelten nicht mehr so stark wie sonst und auf seiner Stirn zeigten sich ungewöhnlich viele, tiefe Falten.

"Severus!" rief der alte Mann und schien sichtlich erleichtert, seinen Lehrer für Zaubertränke zu sehen. In dem Moment kam Severus zum ersten Mal überhaupt der Gedanke, daß man ihn bereits am vergangenen Abend im Schloß zurückerwartet hatte, da er niemandem gesagt hatte, daß er länger als erwartet in London blieb. Doch bevor auch nur der Hauch eines schlechten Gewissens sich seinen Weg an die Oberfläche bahnen konnte, straffte sich Severus' Haltung und seine Miene wurde noch ein Stück eisiger.

"Albus, ich werde noch einen Tag länger hier in London bleiben." Die funkelnden, blauen Augen des Direktors weiteten sich vor Überraschung und für einen Moment schien er tatsächlich sprachlos zu sein, bevor er sich wieder fing. Er räusperte sich und fuhr sich durch den langen, silbernen Bart.

"Hast du eine Spur von Lucius Malfoy?"

"Nein." Wahrhaftige Überraschung in Albus Dumbledores Gesicht zu sehen, war eine wirkliche Seltenheit und Severus konnte nicht anders, der Gedanke, diesen Ausdruck zweimal in höchstens genauso vielen Minuten gesehen zu haben, amüsierte ihn mehr als er sich eigentlich erklären konnte. Aber vielleicht war es auch nur Stolz, daß ausgerechnet er es noch immer schaffen konnte, den alten Fuchs zu überrumpeln, während alle anderen schon immer lange vorher scheiterten. Vermutlich war es mit den Fähigkeiten im Gedankenlesen bei dem alten Mann doch nicht so weit, wie alle immer vermuteten. Severus lächelte.

"Was hält dich dann noch immer in London auf, Severus?" Das Lächeln von Severus' Gesicht verschwand augenblicklich und seine Augen verengten sich ein wenig, als er das Gesicht Dumbledores in den Flammen fixierte.

"Eine private Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet." Dumbledore legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete seinen Zaubertranklehrer einen Moment lang voller Mißtrauen, Doch er schien für sich in diesen Sekunden zu entscheiden, daß er nicht mehr aus seinem Kollegen herausbekommen würde, also nickte er schließlich.

"Also gut, Severus. Ich werde deine Stunden morgen halten. Können wir dich morgen zurück erwarten?" Severus bemerkte erst, daß er die Luft angehalten hatte, als er nun erleichtert ausatmete.

"Ich kann es noch nicht mit Sicherheit sagen. Ich melde mich dann aber rechtzeitig, keine Sorge. – Da ist noch etwas, Albus. Ich brauche dringend einige Sachen aus meinem Labor." Er griff nach der großen Zange neben dem Kamin, mit der man gewöhnlich die brennenden Scheite herumdrehte und reichte Dumbledore damit eine Liste. Das Feuer sengte die Kanten des Pergaments leicht an, bevor der alte Zauberer die Liste entgegen nahm. Mit gerunzelter Stirn überflog er alles, was Severus notiert hatte und fixierte ihn schließlich wieder mit einem langen, prüfenden Blick, bevor er endlich nickte.

"Ich werde dafür sorgen, daß du das alles so schnell wie möglich erhältst. – Bist du sicher, daß ich nicht wissen sollte, was hier vor sich geht, Severus?" Severus zog ärgerlich die Stirn kraus und schüttelte fast schon trotzig den Kopf.

"Du erfährst alles, wenn es an der Zeit für dich ist, es zu wissen." Überraschungsmoment Nummer drei und diesmal mußte Severus zugeben, daß er ihn mit Dumbledore teilte. Trotz allem, was er mit dem älteren Zauberer in seinem Leben schon erlebt hatte, hatte er noch nie so mit ihm gesprochen. Er war noch nie in einem solchen Maße respektlos gewesen. – Aber es war dieses Gefühl in ihm, daß ihn ganz automatisch so handeln ließ. Er wollte das Wissen über Harry nicht teilen, noch nicht zumindest. Und Dumbledore hatte nicht das Recht, immer weiter in ihn einzudringen, wenn er bereits gesagt hatte, daß er darüber nicht reden wollte!

Severus biß sich überrascht auf die Unterlippe, als ihm klar wurde, daß er diese Gefühle kannte. Er wurde besitzergreifend, wenn er an Harry dachte. Eifersüchtig. Wieder stahl sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht. Wie bemitleidenswert.

"Tut mir leid, Albus. Ich bin wohl etwas überreizt. – Du wirst alles erfahren, aber im Moment kann ich es dir noch nicht erzählen. Bitte sorge einfach dafür, daß die Sachen so bald wie möglich da sind. Sobald ich wieder in Hogwarts bin, erzähle ich alles." Dumbledore nickte und im nächsten Moment war sein Gesicht aus den smaragdgrünen Flammen verschwunden. Severus ballte die Hände zur Faust und versuchte mit aller Kraft, sich etwas zu beruhigen, was sich als sehr schwierig herausstellte, wo er nicht einmal verstand, warum dieses Gespräch ihn aufgeregt hatte.

Harry warf im Schlaf unruhig den Kopf hin und her und gab leise, wimmernde Laute von sich. Von was er wohl träumte? Obwohl alles in ihm ihn drängte, diesen Alptraum zu beenden und Harry davor zu bewahren, seine schrecklichen Erinnerungen immer wieder durchleben zu müssen, näherte Severus sich sehr leise dem Bett, in dem der junge Mann lag und von Minute zu Minute immer unruhiger wurde.

Es war vermutlich das letzte Mal für eine lange Zeit, daß er überhaupt Schlaf finden würde. Selbst wenn er so ruhelos war, durfte Severus ihn nicht unterbrechen. Er setzte sich auf den alten, massiven Holzstuhl neben dem Bett und griff vorsichtig nach der schweißnassen, zitternden Hand des Jungen, die sich krampfhaft in das weiße Leinen des Bettbezuges krallte.

"Wie machst du das nur immer, Harry?" flüsterte er ehrlich verwundert, als er mit großer Vorsicht, aber auch Bestimmtheit die Hand des Jungen von der Decke löste. Augenblicklich verkrampfte sie sich um seine eigene Hand, als Harry mit einer erstaunlichen Kraft zudrückte. Doch Severus registrierte keinen Schmerz. Nur das warme Gefühl, Harry gefunden zu haben und ihn von nun an vor dem beschützen zu wollen, vor dem er sich am meisten fürchtete.

~*~

"Warum bist du hier, Junge? So wild darauf, hier und jetzt zu sterben?"

"Ich werde nicht sterben! – Nicht heute."

"Und für was willst du leben? Du bist ein Nichts! Dein Leben ist nichts!"

"Sie warten auf mich. Und darum werde ich auch zurückkehren."

"Niemand wartet auf dich, Kleiner. Und keiner wird dich vermissen."

"Wenn ich nicht wiederkommen würde, würdest du mich vermissen?"

In Gedenken an einen großartigen Freund und einen stillen Helden.

"Ja, aber vermißt ihr mich?!"

~*~

Mit einem erstickten Schrei fuhr Harry aus unruhigen Träumen auf. Verwirrt, einen Moment lang vollkommen orientierungslos, blickte er sich in dem abgedunkelten Raum um. Er brauchte eine ganze Weile, um sich wieder daran zu erinnern, wo er war. Doch auch als diese Erinnerung endlich kam, wirkte sie keinesfalls beruhigend auf ihn. Eher im Gegenteil

Severus. Er war hier. Das war kein Traum gewesen. Severus hatte ihn gerettet.

Harry fuhr sich nervös mit der zitternden rechten Hand durch das schweißnasse Haar. Ja, er hatte ihn gerettet, aber das hätte niemals passieren dürfen. Severus hätte ihn niemals so sehen dürfen.

Ausgerechnet. Was Severus jetzt wohl von ihm dachte? Wo war Severus überhaupt im Moment?

Seine nassen Kleider vor dem Kamin waren verschwunden, die Vorhänge vor dem kleinen Fenster zur Straße zugezogen, doch Harry konnte das Licht des Nachmittages durch den alten Stoff hindurch sehen. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Ein paar Stunden...

Die Übelkeit kam so plötzlich, daß sie Harry vollkommen überrumpelte. Nur mit Mühe schaffte er es aus dem großen Bett und in das winzige Badezimmer, ohne sich zu übergeben, bevor er die Toilette erreicht hatte. Sein Magen zog sich mit einer Gewalt zusammen, wie Harry sie noch niemals zuvor erlebt hatte und obwohl er nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte, ob überhaupt irgendwas da war, was durch die gewaltsamen Kontraktionen seines Inneren nach draußen befördert werden konnte, ließ das trockene, schmerzhafte Würgen ihn nicht los.

Wie durch einen Nebel nahm er wahr, wie sich die Tür des Zimmers öffnete, gefolgt von raschen Schritten auf dem alten Holzboden. Seine Augen begannen zu tränen und in seinen Ohren rauschte es unangenehm von dem Druck, der sich durch das Würgen in ihnen aufgebaut hatte.

Die warme Hand, die sich auf seine Stirn legte und ihm die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, überraschte ihn fast so sehr, wie der Arm, der sich Sekundenbruchteile später um seine Taille legte und ihn gegen einen wesentlich kräftigen, stabileren Körper preßte, der hinter ihm auf die Knie gegangen war.

Harrys Finger verkrampften sich um den Rand der Toilette, als er vom nächsten krampfhaften Würgen erfaßt wurde, so kurz nach dem letzten, daß er nicht einmal genug Zeit gehabt hatte, nach Luft zu schnappen.

"Ruhig, Harry, bleib ruhig. Du mußt atmen. Konzentriere dich darauf, zu atmen." Seltsamerweise hatte die Stimme des Zaubertrankmeisters tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf ihn, auch wenn sein erster Impuls gewesen war, ihm den Ellbogen ins Gesicht zu rammen und ihn zu fragen, was er wohl dachte, was er hier gerade tat.

"Ruhig." Diesmal so leise, daß Harry es kaum hören konnte. Doch es entging ihm nicht, genauso wenig wie der besorgte Ton in der so betont eisig gehaltenen Stimme des Mannes. Mit all der Kraft, die Harry noch aufbringen konnte, konzentrierte er sich darauf, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu kriegen und gegen das trockene Würgen anzukämpfen, das sich anfühlte, als wolle es sein Innerstes nach außen stülpen oder ihn wenigstens – wenn das schon nicht gelingen sollte – ihn von Innen heraus zu zerquetschen.

Severus spürte, wie Harrys Körper sich in seinem Arm langsam wieder entspannte. Das krampfartige Würgen ließ nach und langsam atmete Harry wieder regelmäßig ein und aus. Severus widerstand dem Drang, sich erleichtert einige Schweißtropfen von der Stirn zu wischen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Harry ausgerechnet dann aufwachen würde, wenn er kurz den Raum verließ, aber noch viel weniger hatte er damit gerechnet, daß er sich halb erstickend an der Toilette festkrallen würde, wenn er zurückkam.

Severus kannte die Symptome, aber wenn das erst der Anfang war... er wollte lieber erst gar nicht wissen, was da noch auf ihn und vor allem Harry zukam. Das würde noch eine häßliche Geschichte werden.

"Vielleicht möchten Sie ja jetzt endlich mit mir reden, Mr. Potter? Ich könnte Ihnen wesentlich besser helfen, wenn Sie sich ein wenig kooperativer zeigen würden." knurrte er statt dessen, um seine Erleichterung zu überspielen, während er Harry langsam zurück zum Bett half. Diesmal leistete der Junge ihm nicht den geringsten Widerstand. Aber vermutlich hatte er nicht einmal mehr die Kraft dazu, sich auch nur ein wenig gegen ihn zu stemmen, selbst wenn er es noch gewollt hätte.

"Sie wissen nicht, wie Sie mit mir umgehen sollen oder, Professor?" Ein wackliges Lächeln umspielte Harrys Lippen, doch er blickte nicht auf, um die Überraschung im Gesicht seines ehemaligen Lehrers zu sehen. Er wußte auch so, daß sie da war. "Ich werde Ihnen alle Fragen beantworten, wenn Sie mich ab sofort nicht mehr Potter nennen. Einverstanden?" Für einen winzigen Moment wurde Severus' Griff um Harrys Oberarm ein wenig fester, aber genauso schnell wie es gekommen war, war es auch wieder vorbei.

"Wenn du darauf bestehst." Lenkte er endlich nach einer halben Ewigkeit ein und Harry nickte schwach.

"Nicht alles hat sich geändert." Murmelte er wie zur Bestätigung und ließ sich von Severus zudecken.

"Ich weiß nicht, ob ich davon überzeugt bin. – Also gut, da du dich so großzügig bereiterklärt hast, nicht länger das bockige Kind zu spielen, Harry, frage ich jetzt noch einmal: Was hast du genommen." Offensichtlich fühlte Harry sich bei der Frage mehr als unwohl in seiner Haut, denn sofort schlug er die Augen nieder und nestelte am Leinenbezug der Decke herum.

"Heroin."

"Dachte ich mir. – Seit wann?" So kalt und scheinbar vollkommen desinteressiert.

"Eine Weile." In den schwarzen Augen blitzte es auf.

"Seit wann, Harry?" Für einen Moment hob Harry trotzig den Blick, doch der kurze Augenblick des Mutes war im selben Moment auch schon wieder vorbei. Was hatte das schon für einen Sinn?

"Ein Jahr, vielleicht ein wenig länger. Ich weiß nicht, ich hab schon lange aufgehört, über solche Sachen Buch zu führen."

"Solche Sachen... Könnte es sein, daß du mit dem Gift angefangen hast," knurrte Severus wütend und griff grob nach Harrys Arm, schob den Ärmel des alten Shirts zurück, "als die Gewalt nicht mehr genug war?!" Harry biß sich auf die Lippen, wandte den Blick aber nicht von den feinen Narben auf seinem Arm ab.

"Kann schon sein." Gab er kleinlaut zu.

"Wie dumm kann man eigentlich.... – Ich habe mit Professor Dumbledore gesprochen. Wir werden heute nacht noch hier in London bleiben und morgen kehren wir nach Hogwarts zurück. Wenn es noch irgend etwas gibt, was für dich hier geregelt werden muß, dann solltest du es mir sagen. Wo sind deine Sachen? Dein Zauberstab vor allem. Du hattest keinen dabei." Allein dieser Satz war in einem Ton gesprochen, der ein noch viel größerer Vorwurf war als alles, was er zuvor gesagt hatte. Ein Zauberer ging niemals ohne seinen Zauberstab aus dem Haus. Das war eine der obersten, eine der wichtigsten Regeln. Ohne seinen Zauberstab war ein Zauberer praktisch nackt, unbewaffnet. Ein schutzloses Kind, vor allem in der Welt der Muggel. – Selbst wenn man bei ihnen aufgewachsen war und sich ein wenig in ihrer Welt auskannte.

"Ich werde nicht nach Hogwarts zurück gehen."

"Und ich werde nicht mit dir darüber diskutieren."

"Wie kommen Sie dazu, über mich bestimmen zu wollen, Professor. Ich bin kein Kind mehr und ich bin auch schon lange nicht mehr Ihr Schüler. Sie haben kein Recht, meine Entscheidungen für mich zu fällen." Mit einem eiskalten Lächeln auf den dünnen Lippen verschränkte Severus die Arme vor der Brust und starrte Harry mit skeptisch hochgezogener Augenbraue an. Das Schweigen, so kurz es auch war, machte Harry beinahe verrückt. Die Gegenwart dieses Mannes machte ihn verrückt. Daß er alles wußte oder zumindest einen großen Teil. Ausgerechnet er. Er hatte das doch niemals erfahren sollen.

"Ich finde, daß du ziemlich eindrucksvoll bewiesen hast, durchaus nicht in der Lage zu sein, dein Leben selbst in den Griff zu bekommen. Du bist weder ein Kind, noch mein Schüler, ganz richtig erkannt, aber wenn ich dich so ansehe, würde ich sagen, du hast meine Hilfe verdammt nötig, Potter. – Wo sind deine Sachen?" Wütend ballte Harry die zitternden Hände zu Fäusten. Er hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn er dieses Zittern nur für wenige Augenblicke hätte unterbrechen können, wenn seine Kraft nur so lange zu ihm zurück gekehrt wäre, um ihm Gelegenheit zu geben, Severus zu überrumpeln und wieder unterzutauchen, bevor der andere noch reagieren konnte.

Doch nichts dergleichen geschah.

"Ich möchte nicht, daß Professor Dumbledore mich so sieht."

"Es wird ihn erschüttern, aber nicht umbringen." Entgegnete Severus vollkommen ungerührt, nicht bereit, auch nur einen Millimeter von seinem Standpunkt abzuweichen. Harry war wie ein Tier im Käfig und das letzte, was man einem solchen gefangenen Tier bieten durfte, war auch nur die winzigste Lücke, die sich zu Flucht anbot.

"Warum muß ich zurück?" fragte Harry mit leiser, gebrochener Stimme zurück. "Ich bin tot für diese Welt. Warum darf ich es nicht bleiben? Warum muß Dumbledore sehen, was aus seinem Held geworden ist? Wäre es nicht viel besser für ihn, wenn er weiter glauben könnte, ich wäre im Kampf gestorben? Im Kampf gegen Voldemort und nicht im Kampf gegen mich selbst und mein eigenes Leben.

Severus, ich will nicht sehen, was sie empfinden, wenn sie mich so sehen. Ich will nicht sehen, was die Weasleys denken. Ihre fragenden Blicke, die alte Trauer, die plötzlich unter Unverständnis begraben wird.

Ich habe abgeschlossen mit dieser Welt und mit diesem Leben. Wenn du mir helfen willst, dann tu es hier, aber zerr mich nicht zurück. Es würde nur allen weh tun."

"Es ist zu spät, Harry. Du hast allen bereits weh getan, als du nicht zurückgekommen bist. Als alle glauben mußten, daß du wirklich für sie gestorben bist. Jetzt kannst du nichts mehr schlimmer machen, was auch in den letzten Jahren gewesen ist. Jetzt kannst du es nur noch besser machen. Du mußt zurückkommen, Harry.

Hier kann ich dir nicht helfen. Was ich auch tun würde, es wäre vollkommen umsonst. Ich hätte dir kaum den Rücken zugedreht und alles wäre wieder so wie zuvor. Du hast nicht verstanden, was ich dir damals sagen wollte, also muß ich es nochmal versuchen." Wieder trafen sich ihre Blicke und Severus versuchte, Harrys tränenerfüllte Augen so lange wie möglich an seine zu fesseln.

"Noch weiß niemand, daß ich dich zurückbringe, Harry. Komm mit mir und gib dir selbst eine Chance. Außer Dumbledore wird niemand erfahren, daß ich dich gefunden habe, bis du bereit bist, dich auch dem Rest der Welt zu zeigen. Aber du mußt mit mir kommen und du mußt endlich damit aufhören, dich selbst zugrunde richten zu wollen."

"Ich ... oh bitte... verdammt."

"Du hattest es damals versprochen, Harry. Du hattest versprochen, zurück zu kommen. – Ich vergesse so etwas nicht so schnell, wie du vielleicht denkst. Wenn du mir also keinen wirklich guten Grund nennst, warum du dein Versprechen nicht halten willst, dann werde ich darauf bestehen, daß du es einhältst." Für einen kurzen Moment war grenzenlose Überraschung die vorherrschende Emotion auf dem Gesicht des jungen Gryffindor, bis es schließlich wieder einem zittrigen Lächeln und einem Hauch von Verstehen wich.

"Möchtest du, daß ich zu dir zurückkommen, Severus?" Severus preßte die Lippen ein wenig fester zusammen und sein Blick wurde hart.

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Wegen der enormen Länge findet ihr die Author's Note im nächsten Kapitel. Es kann unter Umständen dauern, bis man sie über den Button erreicht. Im Notfall einfach oben in der Adressleiste die 2 durch eine 3 tauschen ;o)