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Durch
Formatierungseinschränkungen gab es beim letzten Mal Verständnisprobleme.
Nicht hübsch aber einfach ist die neue Regelung. Einfache Linie bedeutet eine
neue Szene. Eine doppelte Linie bedeutet einen kompletten Wechsel. Z.B. ein
Blick in die Vergangenheit usw.
Ikarus und Dädalus
„Hat dir schon einmal jemand gesagt, daß du ein nervtötender, widerlicher kleiner Bastard bist? Was willst du jetzt schon wieder von mir?"
„Du bist zu mir gekommen. Verrate du es mir."
„Ich bin garantiert nicht freiwillig hier und du wirst mir das auch nicht einreden."
„Nicht daß ich dir jemals etwas einreden wollte, Harry, aber du bist nun einmal zu mir gekommen. Es bist immer du selbst, der den Weg hierher geht. Freiwillig oder nicht, was spielt das für eine Rolle? Entscheidend ist, daß du immer wieder an diesem Punkt stehst. Vielleicht solltest du dich selbst einmal fragen, warum das so ist und nicht immer gleich mich für den Schuldigen halten."
„Ach? Ich denke, du bist ich."
„Touché. – Wir sind nicht beide ein und dasselbe, Harry. Wir sind zwei Hälften, die zusammen ein Ganzes ergeben. Genauso wenig wie du in meine Hälfte blicken kannst, kann ich in deine blicken. Damit das wieder funktionieren kann, müssen wir erst wieder zusammen finden."
„Wie romantisch. Danke, ich verzichte."
„Färbt deine neue Gesellschaft schon so auf dich ab?"
„Verkneif dir das dumme Lachen! Was geht es dich überhaupt an?"
„Du bist nun einmal hier, soll ich dich etwa anschweigen, bis du von alleine wieder verschwindest? Wie langweilig und noch dazu unhöflich."
„Sag mir lieber, wie ich diese regelmäßigen Zusammentreffen so schnell wie möglich beenden kann."
„Begreife."
„Wie immer eine großartige Hilfe. – Was soll ich begreifen?"
„Warum du hier bist. Wenn du das begreifst, weißt du auch, was du tun mußt, um nicht mehr herkommen zu müssen."
„Ich hasse dich."
„Mein Herz blutet. – Ich habe die Regeln nicht gemacht, Harry, ich halte mich nur dran."
„Warum ist es heute so kalt hier?"
„Die Kälte füllt eine Lücke. Es scheint so, als würde etwas Entscheidendes fehlen. Oder jemand."
„Wie kommt es, daß du heute so hilfsbereit bist?"
„Bin ich das? – Es wird Zeit, daß du begreifst."
„Zeit, daß ich was begreife?" murmelte Harry, als er langsam erwachte. Er brauchte eine Weile, bis er zumindest schon einmal begriff, daß er nicht länger schlief und seine Frage ein weiteres Mal unbeantwortet bleiben würde.
Verwirrt richtete er sich in seinem Bett auf und strich sich mit zitternden Händen das Haar aus der Stirn. Sie zitterten noch immer, es war zum Verrücktwerden. Wie spät mochte es wohl sein? Und wo war er überhaupt?
Nur langsam sank die Information in sein schlaftrunkenes Hirn ein, daß etwas nicht stimmte. Und noch viel langsamer begriff er, was es war. Die Kälte, die er im Traum gespürt hatte, legte sich nun erneut über ihn und drückte zu.
Das waren nicht Severus' Räume. Er war in Severus' Bett eingeschlafen, das wußte er noch haargenau. Wo war Severus? Und wo war er? Was war das für ein Zimmer? Harrys Atem ging mit jeder Sekunde, die verstrich, flacher und schneller. Er spürte, wie sein Puls zu rasen begann, sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.
Hatten sie ihn gefunden? Hatten sie ihn von Severus weg geholt? Das durfte nicht sein, alles nur das nicht! Alles würde wieder von vorne losgehen, wenn sie ihn von Severus weggeholt hatten. Er mußte weg. Er mußte zurückfinden.
Panisch blickte Harry sich im Raum um, bevor er die Decke zurück schlug und aus dem Bett sprang. Sich immer wieder hektisch umguckend, schlich er an die Tür des Raumes und testete, ob sie verschlossen war. Doch die Tür gab auf seinen Druck hin nach und öffnete sich praktisch lautlos in den benachbarten Raum. Harry warf einen vorsichtigen Blick hinein und von einer Sekunde auf die andere ließ die Panik nach und Erleichterung überspülte ihn. Erleichterung und eine nagende Wut.
Er war noch immer in Severus' Quartier, in einem Zimmer, das direkt an das Wohnzimmer des Zaubertrankmeisters angrenzte. Und keiner hatte es wohl für nötig befunden, ihm von der Existenz des Raumes zu erzählen, obwohl man offensichtlich beschlossen hatte, daß er ihn bewohnen sollte. Er erinnerte sich an den Lärm, der ihn an diesem Nachmittag geweckt hatte und da er sich sicher war, daß die Tür, durch die er jetzt leise in das Wohnzimmer trat, am Morgen noch nicht da gewesen war, wußte er nun mit Bestimmtheit, daß er sich nicht getäuscht hatte. Der Krach war wirklich von sich verschiebenden Wänden verursacht worden.
„Verdammter Heimlichtuer!" fluchte Harry und drehte auf dem Absatz um, um in das neue Zimmer – sein Zimmer – zurückzukehren. Wie hatte er ihm das nur antun können? Der Bastard hatte ihm einen Schrecken eingejagt, der nicht von schlechten Eltern war.
Einen Moment lang hatte Harry wirklich geglaubt, daß er Severus schon wieder verloren hatte. Harry runzelte die Stirn. Vor wem genau hatte er eigentlich Angst gehabt? Wer hätte ihn holen können? Keiner außer Direktor Dumbledore und Severus wußte, daß er hier war – oder zumindest hoffte er das. Woher war also diese Panik gekommen? Woher die sofortige Annahme, daß Severus nicht mehr da war? War es gut, daß dieser Gedanke mit einer Verzweiflung gekoppelt war, die ihm sofort die Luft abgeschnürt hatte?
Seufzend ließ Harry sich auf dem Bett nieder und vergrub das Gesicht in seinen Händen. War Paranoia einfach nur eine der vielen Entzugserscheinungen, die ihn die letzten Tage durch ein buntes Karussell der Gefühlsstürme geschickt hatten? Er hoffte es inständig, denn sonst wurde er wohl wirklich langsam verrückt.
Harry ließ die Hände sinken und blickte sich erneut in dem relativ kleinen Raum um. Ein eigenes Zimmer in den Räumen des Zaubertranklehrers konnte aber auch genau so gut positive Dinge bedeuten oder nicht? Zum Beispiel hieß das doch, daß Severus ihn länger hier bei sich behalten wollte. Sonst hätte er sich die Mühe doch gar nicht machen müssen. Der Gedanke ließ Harry lächeln.
Sein Blick fiel auf den Nachttisch, auf dem er in der Dunkelheit des Raumes seinen Zauberstab und einen weißen Umschlag ausmachen konnte. Wieder runzelte er die Stirn. Einen Umschlag?
An der anderen Wand des Raumes stand ein Schreibtisch und Harry meinte, eine Kerze erkennen zu können, die darauf stand. Langsam ging er zum Tisch hinüber, fand dort tatsächlich die Kerze und sogar ein paar Streichhölzer. Das wiederum war ungewöhnlich, aber vermutlich hatte Severus sie ihm geben lassen, weil er wußte, daß Harry seinen Zauberstab nicht benutzen würde. – Wahrscheinlich wußte er längst, warum er es in den letzten Jahren nie getan hatte.
Obwohl es nur eine einzige Kerze war, kam ihm das plötzliche Licht der kleinen Flamme furchtbar grell vor und er mußte die Augen einen Moment zusammen kneifen. Vorsichtig öffnete er sie wieder ein Stück und trug die brennende Kerze hinüber zu seinem Bett. Fast schon ängstlich griff er nach dem Brief und drehte den Umschlag um, doch dieser war vollkommen unbeschriftet.
Seine Finger zitterten noch heftiger als sonst, als er den Umschlag öffnete. Dieser Brief konnte doch nur von Adrian sein. Adrian... der Gedanke an seinen Freund, der sich vermutlich seit Tagen Sorgen wegen ihm gemacht hatte, versetzte ihm einen heftigen Stich. Er hatte ihn vollkommen vergessen. Wie lange war er nun schon aus London fort? Er hatte längst den Überblick darüber verloren, wie lange er schon bei Severus war.
Harry schloß die Augen, als er den gefalteten Bogen Papier aus dem Umschlag zog und langsam entfaltete. Er atmete tief durch, bevor er die Augen wieder öffnete und fast sofort stiegen ihm die Tränen in die Augen, als er Adrians Schrift erkannte. Was war nur mit ihm los? Warum konnte er die Tränen kaum noch zurück halten, obwohl er noch nicht ein Wort gelesen hatte?
Diese Gefühlsschwankungen machten ihn wahnsinnig.
Wütend wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen, aus denen sich trotzig die ersten Tränen lösten.
Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, was ich Dir schreiben soll. Ich weiß nicht,
wie ich anfangen soll. Ich habe fast fünfzehn Minuten gebraucht, um diese zwei
Sätze zu schreiben und irgendwie habe ich das Gefühl, daß dieser Severus nicht
mehr allzu lange auf mich warten wird.
Ich weiß nicht, ob ich heulen oder lachen soll. Ich sollte mich wohl freuen, da
er Dich endlich gefunden hat und daß Du offensichtlich endlich dabei bist, von
diesem Scheißzeug loszukommen. Aber andererseits macht mich das auch so
unendlich traurig. Du wirst nicht zu mir zurück kommen oder, Jamie? Ich wußte,
daß der Tag irgendwann kommen würde, so ist das nicht, aber ich hatte doch
gehofft, daß er weit weg sein würde, daß ich die Rolle übernehmen könnte,
Dich vor Dir selbst zu retten.
Aber das hätte wohl nur zu diesem furchtbaren Klischee gepaßt. Der Blinde will
den Blinden führen, das kann nicht funktionieren. Ich wünschte nur, ich würde
Dich nicht so verlieren. Dieser Wunsch ist selbstsüchtig von mir, tut mir leid.
Eigentlich wollte ich einen ganz anderen Brief schreiben. Ich wollte Dir sagen,
wie froh ich bin, daß ich Dir alles Gute wünsche, daß meine Tür immer für Dich
offen sein wird, der ganze sentimentale Scheiß eben, aber... Jamie, es tut weh.
Ich kann das nicht schreiben.
Was nicht heißt, daß es nicht stimmen würde, aber ich hoffe, das weißt Du auch,
ohne daß ich es schreibe. Du weißt es oder?
Er ist ein guter Kerl, dieser Severus. Genau wie Du ihn beschrieben hast. Er ist
furchteinflößend, unfreundlich, ein kalter Fisch, aber er sorgt sich um Dich, genau
wie ich. Er kann nur ein guter Mensch sein. Er wird auf Dich aufpassen. Versprich
mir, daß Du nicht bei ihm bleibst und zu mir zurück kommst, wenn er nicht auf
Dich aufpaßt! Ich habe es nicht besser gemacht, ich weiß. Ich hätte Dich davon
abhalten sollen, als du angefangen hast mit den Drogen. Es ist alles meine Schuld,
daß es überhaupt so weit gekommen ist. Aber ich weiß auch nicht. Ich konnte Dich
nicht leiden lassen. Ich war ein dummer Idiot.
Dein Severus wird es besser machen. Er wird nicht zulassen, daß Du vor Dir selbst
wegläufst. Ich wette, er läßt Dir keine Chance dazu oder? Hätte ich auch nicht tun
sollen. Verzeih mir.
Jamie, es gibt so vieles, was ich Dir in den vergangenen Jahren immer sagen
und zeigen wollte, aber ich habe es nie getan. Ich frage mich jetzt, ob alles
anders gekommen wäre, wenn ich es getan hätte. Oder ob das Schicksal trotz
allem seinen Lauf in diese Richtung genommen hätte.
Wäre es weniger schlimm für Dich gewesen, wenn ich Dir gesagt hätte, wie viel
ich für Dich empfinde? Wenn ich mehr für Dich gewesen wäre, als ein Freund
und ein wenig erfolgreicher Beschützer? – Aber selbst wenn es nichts geändert
hätte, ich hätte es Dir trotzdem sagen sollen. Ich war feige. Aber ich sage es Dir
jetzt.
Ich weiß, daß Du nicht zurück kommst und das ist gut so. In meinem Inneren
werde ich mehr als froh sein, wenn ich Dich nie wieder in unserer Gegend sehe,
aber ich werde Dich nicht gehen lassen, ohne Dir zu sagen, wie sehr ich Dich
geliebt habe und wie unendlich leid es mir tut, versagt zu haben. Ich habe meine
Versprechen nicht gehalten und schon allein deswegen habe ich Dich nicht in
meinem Leben verdient.
Tu mir einen Gefallen, Jamie, werde endlich glücklich. Ich werde nie mehr den
Tag vergessen, an dem ich Dich zum ersten Mal hab lachen sehen. Ich hoffe, da
Severus derjenige ist, der Dich immer wieder dazu bringen wird, zu lachen.
Ich glaube, er hat Dich in den letzten Jahren so sehr vermißt, wie ich Dich jetzt
vermisse. Nein, nein, mach Dir keine Sorgen, ich komm schon wieder in Ordnung.
Es ist nichts, worüber man sich Gedanken machen müßte. Du weißt ja, Katzen
landen immer auf den Füßen.
Vergiß mich nicht ganz, Jamie. Das reicht mir schon vollkommen aus. Und hasse
mich nicht.
Adrian
Harry konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken und seine Händen verkrampften sich um den Bogen Papier, der von Adrian in aller Hast beschrieben worden war. Wie konnte er nur denken, daß es sein Fehler war und er ihn hassen würde? Was für ein Unsinn! Es war allein sein eigener Fehler, niemand anderes konnte dafür verantwortlich gemacht werden, daß ihm sein Leben aus dem Ruder gelaufen war.
Es tat weh. Obwohl er in den letzten Tagen nicht einen Moment an Adrian gedacht hatte, tat der Verlust plötzlich so unglaublich weh, daß sein erster Impuls war, so schnell wie möglich aus Hogwarts zu verschwinden und zu ihm zurück zu kehren. Aber was hatte das für einen Sinn?
Nein, Adrian hatte die Worte nie ausgesprochen, aber Harry hatte doch schon immer gewußt, aus welchem Grund Adrian ihn wirklich nicht nur bei sich aufgenommen, sondern auch bei sich behalten hatte, nachdem es ihm wieder besser gegangen war. Er hatte die Gefühle nur allzu offen in seinen Augen, seinen Handlungen, in der Wärme seiner Stimme erkannt. Er hatte in den drei Jahren, die er mit Adrian verbracht hatte, alle anderen Adrians gesehen und er wußte, daß nur er alleine diesen einen, diesen freundlichen, warmen Adrian kannte. Alle anderen kannten nur den Stricher, dem kaum einer widerstehen konnte, der sie alle früher oder später bekam. Sie kannten nur den eiskalten Geschäftsmann, der ganz genau wußte, was er wert war.
Und doch hatte Harry nie mehr als Zuneigung und Dankbarkeit empfunden. Liebe, so wie Adrian sie für ihn empfand, hatte es nie gegeben und würde es auch nie geben. Adrian hatte recht, er würde nicht zurückkehren. Nicht um wieder bei ihm zu leben zumindest.
Die Vorwürfe, die Adrian sich selbst machte, nagten gewaltig an Harrys Gewissen und lange Zeit rang er mit sich, an Severus' Schreibtisch zu gehen und eine Antwort auf diesen Brief zu schreiben. Adrian hatte sie verdient und es war nicht fair, ihn mit diesen Schuldgefühlen leben zu lassen. Doch sobald Harry sich entschloß, schwand sein Mut und er ließ sich auf sein Bett zurückfallen. Nach dem dritten gescheiterten Versuch, legte er den Brief fluchend auf den Nachttisch zurück.
Er war ein Versager durch und durch, konnte nicht einmal dem einzigen Menschen, der ihm in den letzten Jahren wirklich geholfen hatte, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen, einen Brief schreiben, um ihm für alles zu danken und ihm seine dummen Schuldgefühle zu nehmen! Wieder liefen die Tränen über sein Gesicht und diesmal wischte er sie nicht weg.
Er war so furchtbar erbärmlich. Er hatte niemanden von ihnen verdient. Adrian, Severus, beide hatten mehr als nur ein gutes Recht, ihm einfach den Rücken zu kehren und für immer zu verlassen.
Harry wimmerte kläglich und rollte sich auf seinem Bett zusammen, wollte sich so klein wie eben möglich machen, um seinen eigenen Schuldgefühlen zu entkommen.
-
Das Stück Glas in seiner Hand glitzerte schmutzig im trüben Licht der Straßenlaterne, unter der er saß. Er sollte dafür kein schmutziges Glas nehmen, aber was sollte er tun? Alles um ihn herum war schmutzig, es gab nichts anderes.
Und es paßte ja auch zu ihm. In diesem Schmutz fiel er nicht länger auf. Hier war er nichts besonderes, sondern ein Teil vom Ganzen. Ein Versager von vielen, von dem längst schon niemand mehr etwas erwartete oder erhoffte. Und sie taten gut daran, ihn so zu sehen. Er enttäuschte jeden, der etwas von ihm erhoffte, das war längst zur Regel geworden.
Sein neuer Status hatte daher einen gewissen verqueren Frieden inne.
Genau genommen sollte er das hier gar nicht tun. Ob das Glas nun schmutzig war oder nicht. Aber das gehörte zu der Enttäuschung, die er war. Er konnte es nicht einfach sein lassen, so wie er es sich vorgenommen hatte. Es wurde alles zu schwer, zu kalt, um es einfach so ertragen zu können.
Es tat nicht weh, aber gerade der Schmerz war es doch, den er so dringend benötigte, um wieder klare Gedanken fassen zu können. Der Schmerz, der ihm zeigte, daß er noch lebte und nicht schon lange tot war, wie er manchmal wirklich schon glaubte.
Mit einem resignierten Schulterzucken setzte er die Scherbe an seine Haut. Eine unversehrte Stelle zu suchen, schlug er sich dabei gleich aus dem Kopf. Wozu auch. Es war schmerzvoller, wenn er eine von den bereits verletzten, meist auch entzündeten Stellen traf.
Die scharfe Kante der Scherbe durchbrach seine Hautschichten und grub sich tief darunter in das malträtierte Fleisch seines Armes. Er biß sich auf die Lippen und schloß für einen Moment die Augen, um sie wieder zu öffnen, als er den erhofften, warmen Strom auf seinem Arm fühlte.
Warmes, dunkles, wunderschönes Blut. Sein Blut, das eigentlich nicht vergossen werden sollte, wenn es um die Menschen ging, vor denen er davonlief. Sein Blut, geheiligt und wertvoll – zumindest so lange er funktioniert. Sein Blut, das mit dem Zauber seiner Mutter belegt war, dem Zauber der Liebe, der ihn eigentlich ewig hätte beschützen müssen.
Doch auch sie hatte er enttäuscht. War dumm genug gewesen, in die Falle zu tappen und sich dieses Schutzes berauben zu lassen.
Es machte keinen Unterschied, ob sein Blut floß oder das eines anderen. Absolut gleichgültig, denn es war ja doch nicht mehr wert, als das der anderen, eher weniger.
Ein zweiter Schnitt folgte und dann ein dritter, diesmal tiefer als die beiden zuvor. Er spürte, wie die beklemmende Enge in seinem Hals langsam nachließ, und er sich leichter fühlte.
Vielleicht war es ja diesmal endlich zu tief gewesen.
Mit einem Seufzen lehnte Harry sich an das kühle Metall des Lampenpfahls zurück und schloß die Augen. Er konnte sein Herz schlagen und das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Endlich fühlte er wieder ein wenig Leben in sich. Nur danach greifen und es festhalten, mehr mußte er nicht tun. Wann würde er das endlich hinkriegen?
Wie von ganz weit her hörte er das Lachen von Menschen, die in seine Richtungen kamen, doch Harry machte sich nicht einmal die Mühe, auch nur die Augen zu öffnen. Sie würden vorbei gehen und so tun, als hätten sie ihn gar nicht gesehen. So war das immer. In dieser Hölle brauchte man sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, sich verstecken zu wollen. Sehr bequem – wenn es das war, was man suchte.
Er lächelte.
Doch anders als Harry gedacht hatte, gingen die beiden jungen Männer, die in diesem Moment um die Ecke bogen, nicht einfach an ihm vorbei. Oder zumindest der eine von beiden tat es nicht. Er blieb stehen, verharrte einen kurzen Moment regungslos und fuhr sich schließlich nervös durch das kurze, blonde Haar, das in allen Richtungen um seinen Kopf abstand. Vorsichtig machte er einen Schritt auf Harry zu.
Er schluckte und versuchte, all das Blut rund um den verletzten jungen Mann gar nicht zu beachten. Er hatte schon ganz andere Sachen gesehen, schon viel schlimmere Wunden und er war nicht allein. Also würde er einen Teufel tun und sich anmerken lassen, daß Blut nach all den vielen Jahren in dieser Stadt noch immer eine Wirkung auf seinen Magen hatte.
„Was machst du denn da, Adrian?" fragte der zweite junge Mann ungeduldig. „Laß den Penner in Ruhe, wir haben keine Zeit für so einen Scheiß."
„Halt die Klappe, Cameron!" fuhr der Blonde seinen Begleiter etwas unwirsch an, ohne seinen Blick von Harry abzuwenden. Erleichtert stellte er fest, daß dieser immerhin noch atmete. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte Harry an der Schultern. Harry reagierte nicht.
„Adrian! Verdammt, ich gehe ohne dich weiter!"
„Dann geh, verdammt noch mal! Sei nicht immer so ein Arschloch, Cameron. Der Junge ist schwer verletzt." Cameron schnaubte verächtlich.
„Was geht mich dieser Typ an?" Adrian unterdrückte eine Antwort darauf nur mühsam, aber er wußte, daß es keinen Sinn hatte, mit Cameron darüber zu diskutieren. In Wahrheit hatte er ja sogar recht. Jeder hier wußte, daß man sich nur um seine eigenen Dinge kümmerte und die anderen nicht behelligte. Selbst dann nicht, wenn sie offenbar in Schwierigkeiten waren. Nur so erreichte man es, daß man die selbe Höflichkeit auch von allen anderen erfuhr.
Eine winzige Höflichkeit, aber das einzige, was man hier erwarten durfte.
Und trotzdem, Adrian konnte diesmal nicht einfach vorbei gehen. Vielleicht war es die Tatsache, daß das einfach zu viel Blut war oder daß noch immer Blut aus den Wunden am Arm des Jungen gepumpt wurde, als wäre irgendwo in ihm eine unversiegbare Quelle, als müßte man sich keine Gedanken machen, daß zu viel davon verschwendet werden konnte. Egal was es war, entscheidend war, daß er diesmal nicht vorbei gehen konnte. Und da konnte Cameron sagen und tun, was er wollte, das würde nichts ändern.
„Hey!" rief Adrian leise und tätschelte nicht gerade zärtlich Harrys Gesicht. Harry gab einen unwilligen Laut von sich und drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Adrian seufzte.
„Mach die Augen auf, du Idiot!" fuhr er ihn ein wenig harscher an und schlug diesmal fast wirklich zu. Langsam öffnete Harry die Augen und Adrian stockte der Atem. Fiebrig und trüb waren sie, aber er konnte sich nicht erinnern, schon einmal solche Augen gesehen zu haben. Smaragdgrün und unendlich traurig.
„Du mußt wach bleiben, Junge. Hast 'ne Menge Blut verloren. Was sollte denn der Scheiß hier überhaupt?" Nur langsam drangen die Worte in Harrys Hirn vor, doch so nach und nach registrierte er endlich, daß er nicht alleine war. Da war jemand, der mit ihm sprach, ihn anfaßte und langsam auf die Beine zog. Harry wollte sich wehren, wollte dem Fremden sagen, daß er sich zum Teufel scheren und ihn in Ruhe lassen sollte. Doch all seine Gliedmaßen fühlten sich an wie aus Gummi, in seinem Kopf verschwamm alles zu einer zähen Masse. Die Worte, die scheinbar an ihn gerichtet wurden, machten nicht wirklich Sinn.
Diesmal mußte er es wirklich fast geschafft haben.
„Kannst du mir sagen, wie du heißt?" wiederholte Adrian geduldig die Frage, die er Harry nun schon zweimal gestellt hatte, ohne eine Antwort zu bekommen. Im Prinzip war es auch nicht wichtig, daß er ihm jetzt antwortete, so lange er einfach nur registrierte, daß er etwas gefragt wurde und darüber nachdachte, statt ohnmächtig zu werden. Weit konnte er davon nicht mehr entfernt sein.
„James", nuschelte Harry kaum hörbar, als er endlich begriffen hatte, was der andere zu ihm gesagt hatte und noch bevor er registrierte, daß sein Verstand ihm eigentlich zugerufen hatte, daß er es nicht sagen sollte.
Zu spät. Aber wenigstens war er noch nicht weggetreten genug gewesen, seine Tarnung auffliegen zu lassen. Seine lächerliche, kleine Tarnung.
„James also. Okay, James. Ich beglückwünsche dich. Dir wird offiziell der Titel ‚Idiot der Woche' verliehen, ich hoffe du freust dich drüber. Und jetzt mach dich nicht so schwer, Kleiner, ich bin nicht Supermann.
Du hast echt großes Glück gehabt, James. Daß ihr Freaks es aber auch immer übertreiben müßt mit eurer Schnippelei. Hey, bist du noch bei mir, James? Bleib bei mir, sonst haben wir ein echtes Problem." Adrian wußte, daß er auf jeden normalen Menschen wie ein plappernder Idiot wirken mußte, aber ihm fiel in diesem Moment nichts anderes ein, um Harry wach zu halten. Und er war sich nicht einmal sicher, ob diese Methode überhaupt wirksam war, denn Harrys Kopf rollte mit jedem Schritt, den er ihn vorwärts zwang, weiter zur Seite.
„James, mein Junge, ich werde einen Krankenwagen rufen, wenn du mir hier umkippst. Du weißt, was das heißt. Krankenhaus, unangenehme Fragen, vielleicht sogar so ein Psychoklempner, also reiß dich zusammen." Harry nuschelte wieder etwas Unverständliches, schien aber bei dieser Aussicht ein wenig kooperativer zu werden.
Cameron, der trotz allem nicht einfach weiter gegangen war, sondern das Schauspiel bis zu diesem Moment beobachtet hatte, seufzte entnervt und kam Adrian endlich entgegen. Er griff Harry unter den freien Arm und befreite seinen Freund damit von einem Teil des Gewichts, das er offensichtlich zu sich nach Hause schleppen wollte.
„Adrian, du bist echt bescheuert. Warum rufen wir nicht einfach die Polizei und die soll sich um ihn kümmern. Es gibt Einrichtungen für so etwas." Adrian warf seinen Freund einen giftigen Blick zu.
„Oh ja, sicher. Die werden sich natürlich um ihn kümmern, ohne Frage. Die schicken ihn wieder zurück auf die Straße, sobald seine Wunden soweit versorgt sind, daß er nicht mehr in Lebensgefahr schwebt. Und beim nächsten Mal ist es dann wirklich zu spät." Cameron verdrehte genervt die Augen.
„Und damit wäre er nicht der Erste. Warum interessiert dich das?"
„Ich weiß nicht", gestand Adrian nach einer kurzen Pause. Er wußte es wirklich nicht. Es war einfach nur so ein Gefühl, mehr nicht.
Es roch nicht schmutzig und kein Straßenlärm war zu hören, als Harry langsam aus seinem unruhigen Schlaf erwachte. Das war merkwürdig, so viel registrierte er sogar noch, bevor er richtig wach war.
„Du kannst die Augen ruhig aufmachen, James. Ich hab gemerkt, daß du wach bist." Harry stockte für einen Moment der Atem, als die Stimme eines jungen Mannes die Stille um ihn herum durchbrach. Ein nasser Lappen wurde auf seine Stirn gelegt und erst in diesem Moment bemerkte er, daß er rasende Kopfschmerzen hatte und ihm furchtbar heiß war.
Mühsam öffnete er die Augen und versuchte, irgendwas in dem hellen Zimmer, in dem er lag, lange genug in den Fokus zu nehmen, um es erkennen zu können. Ein paar blaue Augen waren das erste, was er bei dieser Suche fand.
„Na, es geht doch", bemerkte der Besitzer dieser Augen und an den leichten Fältchen an den äußeren Augenwinkeln, konnte Harry erkennen, daß der andere lächelte.
„Wer..." Harry leckte sich nervös über die Lippen. Sein Hals fühlte sich unangenehm rauh und trocken an und seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Der andere schien das zu erraten, denn sofort schob er einen Arm unter seinen Rücken, half ihm ein wenig auf und setzte ein Glas mit Wasser an seine Lippen. Harry schluckte gierig.
„Langsam, ich nehme es dir doch nicht wieder weg." Mißtrauisch blickte Harry den jungen Mann über den Rand des Glases hinweg an. Er war blond, wie er inzwischen erkennen konnte, und sein Gesicht wirkte älter als Harrys.
„Wer bist du?" fragte Harry schließlich leise, als das Glas leer war und wieder auf dem Nachttisch stand. Der andere lächelte und reichte Harry seine Brille. Die Welt um ihn herum wurde wieder etwas klarer.
„Ich bin Adrian. Freut mich, daß du wieder unter den Lebenden bist, James." Harry zog unwillig die Augenbrauen zusammen. Oh ja, das war er wohl ganz offensichtlich. Es hatte wohl wieder nicht gereicht. Schade.
„Du hast mich gefunden. Ich erinnere mich an deine Stimme. Warum hast du das getan?" Der mißtrauische Ausdruck war auf Harrys Gesicht zurück gekehrt. An dieser Sache mußte etwas faul sein. Niemand half einfach mal eben so einem Fremden, der blutend auf der Straße lag. Und wenn er es doch tat, dann rief derjenige einen Krankenwagen.
„Weil du Hilfe brauchtest", antwortete Adrian schlicht und nahm den Lappen, der inzwischen warm geworden war, wieder von Harrys Stirn, um ihn in eine Wasserschüssel zu tauchen, auszuwringen und erneut auf Harrys Stirn zu legen.
„Das ist kein Grund", gab Harry halb trotzig, halb erstaunt zurück.
„Das sehe ich anders, aber ist schon gut, du brauchst mir nicht zu danken oder so. Ich weiß ja, daß ich dir keinen Gefallen getan habe." Adrian hob die Schultern und vermied es, Harry anzusehen. Den Jungen schlafend zu sehen, war schon irgendwie merkwürdig gewesen. Ständig hatte sein Herz angefangen, heftiger zu schlagen und er hatte sich wirkliche Sorgen gemacht, daß er vielleicht zu spät gekommen war, mit seiner Hilfe. Jetzt, wo der Junge wach war und er auch noch mit ihm redete, Antworten von ihm wollte, wurde es immer schwieriger, in seiner Nähe zu sein.
Harry kniff die Augen zusammen und seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich in seinem blassen Gesicht.
„Wie kommst du darauf?" Adrian hob bei der Heftigkeit der Frage eine Augenbraue und blickte Harry skeptisch an.
„Wie werde ich wohl darauf kommen?" er griff nach Harrys linkem Arm, der zum Teil verbunden war und zog ihn etwas unsanft nach oben, damit Harry den Verband sehen konnte. „Das hier war doch ziemlich eindeutig."
„Du mißverstehst das", Harry lächelte, doch das kleine, kalte Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Ich hatte nicht vor, mir das Leben zu nehmen." Adrian schnaubte verächtlich.
„Verschon mich damit. Du bist nicht der erste von der Sorte, den ich kennen lerne. Ich kenne eure Geschichten. Bluten, um das Leben zu spüren. Schmerz, um überhaupt noch zu fühlen. Ist mir alles nicht neu. Und keiner von euch kümmert sich ab einem bestimmten Punkt noch darum, ob er zu tief schneidet oder nicht. So ist es doch oder? Es hat dich nicht interessiert. In Wahrheit hast du sogar drauf gehofft."
„Ich weiß nicht, was es dich anginge", fauchte Harry und drehte den Kopf zur Seite, um Adrians stechendem Blick auszuweichen.
„Nichts. – Du hast eine Infektion und hattest die ganze Nacht sehr hohes Fieber. Wäre also besser, wenn du dich noch etwas ausruhst und nicht aufregst." Adrian stand auf und blickte auf Harry herunter, der noch immer trotzig in die andere Richtung guckte.
„Ruf mich, wenn du was brauchst."
Als Adrian den Raum verlassen hatte und Harry wenige Augenblicke später hörte, daß er sich offensichtlich in der Küche beschäftigte, rollte Harry sich langsam auf die Seite und zog die Beine an seinen Oberkörper.
Was sollte er von der Sache hier halten? Es war schon eine halbe Ewigkeit her, daß er in einem warmen, sauberen Bett gelegen hatte und noch viel länger, daß sich jemand um ihn kümmerte, als bedeutete er ihm etwas. Die ganze Zeit hatte er sich eingeredet, daß es ihn nicht interessierte, daß es so war. Die ganze Zeit hatte er sich selbst glauben gemacht, daß er es alleine, ohne Hilfe und Fürsorglichkeit, schaffen konnte.
Hatte er sich etwa doch getäuscht? War das der Grund, warum er sich jetzt fühlte, als wollte er Adrian wirklich für seine Hilfe danken. Als wollte er ihn bitten, ihn so bald nicht wieder auf die Straße zu schicken? Das war doch alles Wahnsinn.
-
Mit einer Geste, die nicht mehr und nicht weniger war als wütende Verzweiflung, wischte Harry die Tränen von seinen Wangen. Doch sie hörten einfach nicht auf, aus seinen Augen zu entwischen, selbst wenn er die Lider fest zusammen preßte, fanden sie noch einen Weg heraus. Das war so verdammt bemitleidenswert. So albern.
Die Kälte kroch unter die Decke, in die er sich eingewickelt hatte und sein Zittern wurde noch stärker mit jeder Minute, die so verstrich.
Diese erste Begegnung mit Adrian war nur der Anfang gewesen, nur das erste Mal, das sein treuer Freund ihm mehr half, als er eigentlich verdient hatte. Und Harry hatte es ihm doch nie zurück gezahlt. Adrian hatte ihm immer wieder versichert, daß das nicht nötig war, daß es nichts gab, wofür er eine Rückzahlung in irgendeiner Form leisten mußte, aber Harry war sich jetzt sicherer als jemals zuvor, daß das nicht stimmte.
Er hatte immer nur von seinem Freund genommen und nie gegeben. Die letzten Tage, in denen er nicht einen einzigen noch so winzigen Gedanken an ihn verschwendet hatten, waren doch der letzte, ultimative Beweis dafür.
Der Gedanke schnürte Harry die Luft ab. Versagt auf der ganzen Linie. Sein ganzes bisheriges Leben nichts weiter als ein Beweis dafür, daß er nichts richtig machen konnte.
Ob das auch zu den Dingen gehörte, die er begreifen mußte? Er hoffte es, denn dann war er immerhin schon einmal einen Schritt weiter in diesem albernen Spiel, das sein inzwischen wohl mehr als verdrehter Geist mit ihm spielte. Was wohl der Ausgang des Spiels war? Endgültiger Wahnsinn? Verlockend klang das ja schon.
Zähneklappernd stand er auf, wickelte die Decke um seinen Körper und schlich zurück in das angrenzende Wohnzimmer. Der Kamin hatte vorhin noch geglüht und dort waren auch Severus' Bücher. Vielleicht würde er so ein wenig Wärme und Ablenkung finden, denn er wußte, ohne Hilfe eines Trankes würde er in dieser Nacht kein Auge mehr zumachen.
Als er das erste Bücherregal erreichte, hob er die brennende Kerze, die er mitgenommen hatte, ein wenig an, um die Buchtitel lesen zu können. Wie er befürchtet hatte, handelten die meisten Bücher von Zaubertränken. Harry zog die Augenbrauen zusammen und wanderte zum nächsten Regal. Er wußte ja, wie sehr der Zaubertrankmeister seine Profession liebte, aber das war doch schon eine krankhafte Obsession oder nicht?
Neben den Unmengen von Zaubertranktexten fand Harry eine ähnlich große Ansammlung von Büchern, die sich mit den dunklen Künsten und der Verteidigung davor beschäftigten. Doch zu seinem eigenen Erstaunen, interessierte ihn auch dieses Thema nicht mehr genug, um ihn auch nur eines der Bücher näher betrachten zu lassen. Er hatte wohl einfach auf Lebzeit genug von dunkler Magie.
Im letzten Regal schließlich, schon kurz bevor Harry die Hoffnung aufgeben wollte, noch etwas zu finden, hatte Severus einige Bücher, die Harry niemals in seiner Sammlung erwartet hatte. Bücher zum Thema Muggelkunde. Aber keine von den Büchern, die er bei Hermine gesehen hatte, als sie dieses Fach im dritten Schuljahr belegt hatte. Diese Bücher hier beschäftigten sich mit Aspekten der Muggel, die in Hogwarts nicht gelehrt wurden, die Harry aber schon immer fasziniert hatten. Mit ihrer eigenen Mythologie, ihren Legenden, ihrer frühen Geschichte, die selbst von vielen magischen Dingen gespickt gewesen war, auch wenn sie das heute fast schon verdrängt hatten.
Vorsichtig zog er eines der dicken Bücher aus dem Regal und trug es hinüber zum Kamin. Die Glut spendete nur noch ein kärgliches Licht, aber Harry konnte ihre Wärme auf seiner Haut prickeln fühlen und das Licht seiner Kerze war hell genug, mehr brauchte er nicht.
Severus war sich nicht ganz sicher, was ihn mitten in der Nacht geweckt hatte. Zumindest hatte er Harry nicht im Nebenzimmer schreien gehört und er stand auch nicht vor ihm, wie er es irgendwie halb erwartet hatte, als er sich an diesem Abend allein in sein Bett gelegt hatte. Und trotzdem war er aufgewacht, obwohl er noch immer vollkommen übermüdet war.
Vielleicht hatte er ja doch etwas gehört. Immerhin waren seine Tage als Spion noch nicht lange genug her, daß er schon wieder alles, was er sich in diesen Jahren antrainiert hatte, vollständig abgelegt hatte.
Gähnend schwang er seine Beine über die Kante seines Bettes und griff nach dem Morgenmantel, der über dem Stuhl neben seinem Bett hing. Es konnte nicht schaden, mal nach Harry zu sehen, wo er ja jetzt schon mal wach war.
Leise öffnete er die Tür zum angrenzenden Wohnzimmer und hielt augenblicklich in seiner Bewegung inne, als er Harry auf dem Teppich vor dem Kamin liegen sah, in seine Decke eingewickelt und ein Buch aufgeschlagen vor ihm. Offensichtlich war Harry vollkommen vertieft in das, was er da las, denn er bemerkte nicht, wie Severus langsam zu ihm herüber kam und sich neben ihn auf den Teppich setzte.
„Ist das nicht viel zu kalt, Harry?" erschrocken fuhr Harry herum und stieß dabei beinahe die brennende Kerze um, die dicht neben ihm gestanden hatte. Allein die Hand des Zaubertranklehrers, die im selben Moment hervorgeschnellt kam und die Kerze festhielt, verhinderte es. Severus kniff kurz die Augen zusammen, als das heiße Wachs auf seine Finger schwappte, doch der Moment war flüchtig und im nächsten Augenblick war sein Gesicht wieder frei von jeder Emotion. Im Gegensatz zu Harrys, dessen Augen sich nach dem ersten Schreck verhärteten. Trotzig wandte der Jüngere den Blick wieder dem Buch zu.
„Wärmer als dieses neue Zimmer", knurrte er und blätterte auf die nächste Seite um.
„Darf ich daraus schließen, daß es dir nicht gefällt? Wie bedauerlich." Wieder durchbohrten Severus die zornigen, grünen Augen.
„Vielleicht hätte es mir besser gefallen, wenn man mir einen Ton davon verraten hätte. Es ist nicht angenehm, an einem Ort aufzuwachen, den man beim besten Willen nicht einordnen kann, weil man ihn noch nie zuvor gesehen hat."
„Verzeih, Harry. Das war wirklich sehr gedankenlos von mir." Harry zog überrascht die Augenbrauen zusammen, wußte aber nicht, ob er darauf etwas erwidern sollte. Severus erschien ihm ungewöhnlich bereitwillig, seine Fehler zuzugeben. Mißtrauisch musterte er sein Gegenüber genauer, verkniff sich ein Lächeln beim Anblick der leicht zerzausten, schwarzen Haare und schließlich ein Lachen als er bei seinem grauen Nachthemd ankam.
„Manche Dinge ändern sich wohl nie", bemerkte er amüsiert und wunderte sich im nächsten Augenblick, daß Severus seine Äußerung mit einem Lächeln quittierte statt der erwarteten, schneidenden Erwiderung.
„Warum sollte man Dinge ändern, die ihren Zweck erfüllen? Du hast sicher auch deine ganz eigenen Gewohnheiten. Zum Beispiel schleichst du nachts umher, wenn du nicht schlafen kannst..."
„Und ich laufe davon, sobald ich mich Problemen gegenüber sehe. Ist es das, worauf Sie hinaus wollen?" wieder wallte der Zorn in Harry hoch, obwohl er mit aller Macht versuchte, diese ewigen Stimmungsschwankungen zu unterdrücken und nicht immer sofort einen Angriff dahinter zu vermuten, wenn Severus versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Das war es doch, was sein Lehrer gerade tat oder nicht?
Severus betrachtete Harry einen Moment sehr genau, bevor er den Blick von dem Gesicht des jungen Mannes abwandte und ihn auf das dicke Buch auf dem Teppich richtete.
„Was liest du?" Ein wenig zittrig entließ Harry den Atem, von dem er bis zu diesem Moment nicht einmal gemerkt hatte, daß er ihn angehalten hatte und hob langsam das Buch ein wenig an, damit sein ehemaliger Lehrer den Einband sehen konnte.
„Sie hatten gesagt, ich dürfe mir was zum Lesen aus Ihren Büchern aussuchen." Severus nickte bestätigend, um Harry seine Unsicherheit zu nehmen, die deutlich in seinen Worten mitschwang und wunderte sich gleichzeitig über die Wahl des Jungen. Er hatte unzählige Bücher, von denen er angenommen hatte, daß sie um ein Vielfaches interessanter für einen Jungen mit Harrys Veranlagung sein würden. Die Dunkle Magie war schließlich von seinem ersten Jahr in Hogwarts an immer seine besondere Fähigkeit gewesen, gerade so als habe das Schicksal diesem Jungen ein Schnippchen schlagen wollen, indem seine Begabung einem Ruf gerecht wurde, den er laut eigener Aussage nie hatte haben wollen.
„Haben Sie all diese Bücher gelesen?" fragte Harry ein wenig ehrfürchtig und machte eine ausschweifende Handbewegung in Richtung der überquellenden Bücherregale.
„Dazu sind Bücher doch bestimmt", erwiderte Severus scheinbar emotionsfrei, doch Harry hätte schwören können, daß er in den tiefschwarzen Augen des Mannes einen Moment lang ein amüsiertes Glitzern gesehen hatte. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks, aber es war da gewesen, ganz sicher.
„Kennen Sie die Legende von Ikarus?" Severus nickte.
„Sie ist faszinierend."
„Nicht mehr und nicht weniger faszinierend als alle anderen Legenden der alten Mythologien. Wie kommt es, daß du sie so herausragend findest?" Harry lächelte. Es war ein kleines, bitteres Lächeln, das Severus noch immer als furchtbar störend und deplaziert in Harrys Gesicht empfand, obwohl der Junge ihm genau dieses Lächeln in den letzten Tagen und auch am Tag seines Verschwindens schon so oft gezeigt hatte, daß es eigentlich seinen festen Platz im Mienenspiel des jungen Zauberers verdient hatte.
„Sie werden mich vermutlich wieder für albern halten, aber ich finde, es spiegelt mich wider. Und Sie. Es spiegelt das wider, was damals passiert ist." Severus zog die Augenbrauen zusammen, seine ganze Aufmerksamkeit plötzlich ausnahmslos auf Harry gerichtet und jede Müdigkeit vergessen.
„Was damals passiert ist?" Harry nickte.
„Die Legende besagt, daß Ikarus und sein Vater Dädalus mit ihren selbstgebauten Flügeln die Insel Kreta verlassen wollten, auf der sie gefangen gehalten wurden. Dädalus hatte Ikarus davor gewarnt, zu hoch zu fliegen, denn die Flügel konnten der Hitze der Sonne nicht stand halten, wenn er ihr zu nahe kam. Doch Ikarus hörte nicht. Er flog einfach drauf los, dachte vielleicht sogar, er wäre schlauer als sein Vater.
Und er kam zu nah an die Sonne. Seine Flügel – aus Wachs und Federn gebaut – schmolzen dahin und er stürzte ab." Einen Moment blickte Harry auf die Seiten des Buches, als könnte dieses ihm sagen, wie er seine Worte nun wählen sollte.
„Ich bin auch zu nah an die Sonne gekommen. Ich dachte, weil ich es geschafft habe, über Voldemort zu triumphieren, würde ich es jetzt auch allein schaffen. Ich wollte es schaffen, ohne Hilfe, ohne Magie, ohne alles, was mir jemals Zwänge auferlegt hatte. Und dann, wenn ich es geschafft hatte, wollte ich zurück kehren, wollte allen zeigen, daß ich sie nicht brauchte. Daß ich frei war, keinen Ruhm, brauchte, um jemand zu sein.
Ich hab mir meine Flügel unterwegs ebenfalls verbrannt und ich bin gestürzt, genau wie Ikarus. Und ich wette, wenn ich Dädalus gefragt hätte, hätte er es mir vorher sagen können." Severus fuhr sich mit der Hand über die Augen, um sich einen Moment Zeit zu verschaffen, bevor er Harry wieder ansehen mußte. Doch im Grund brachte ihm diese Tat außer zwei mickrigen Sekunden nichts ein. Was sollte er sagen? Er konnte Harry nicht widersprechen, denn im Grund war das, was er gerade gesagt hatte, sehr präzise getroffen.
„Ich hätte dich zumindest nicht einfach gehen lassen, das ist richtig. – Aber ich würde nicht sagen, daß dein Wunsch grundsätzlich falsch war, Harry. Es war eine gute und mutige Entscheidung, die du getroffen hast. Ich hätte dich in diesem Vorhaben mit Sicherheit unterstützt. Nur nicht in dem Weg, den du gewählt hast, um dieses Vorhaben durchzuführen.
Um so mehr verstehe ich nach wie vor nicht, warum du nicht wie versprochen zurück gekommen bist." Severus sah, wie Harry kurz zusammen zuckte.
„Wie sollte ich zurück kommen? Ich war tot, nicht wahr?" Severus öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch die Worte wollten einfach nicht heraus.
„Ich war tot und es war gut so. Es hat mir meine Entscheidung leichter gemacht." Severus schüttelte den Kopf und einige wirre Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sie wieder nach hinten zu streichen.
„Woher weißt du das? Woher willst du wissen, daß es nicht doch eine ganze Menge Menschen gegeben hat, die nicht daran geglaubt hat, daß du bei diesem Kampf sterben würdest?"
„Weil ich den Grabstein gesehen habe. Auch in dieser Welt stellt man nur für Tote einen Grabstein auf oder?" Severus' Augen weiteten sich unmerklich ein wenig, doch Harry entging die winzige Reaktion nicht.
„Der Grabstein?! Das heißt, du bist hier gewesen? Wann? – Verdammt, wie kann man nur so..."
„Dumm sein?" Das Lächeln auf Harrys Gesicht jagte Severus Schauer über den Rücken. Dieses Gespräch wurde ihm von Minute zu Minute unheimlicher. Das war ein merkwürdiger Harry. Ein Harry, den die Jahre gezeichnet hatten. Ein neuer Harry, hinter dem sich der Junge von damals noch immer mehr oder weniger gut versteckte, der aber ein untrennbarer Teil von dem Jungen geworden war.
„Ich habe nie daran geglaubt, daß du wirklich tot bist. Und ich war sicher nicht der einzige. Es gab keinen Beweis dafür, daß du tot bist. Und es gab keinen Beweis, daß du lebst. Jeder hat sich die Möglichkeit ausgesucht, mit der er am besten zurecht kam."
„Genau wie ich." Severus kniff bei Harrys Worten die Augen ein wenig zusammen und Harry konnte aus den Augenwinkeln heraus erkennen, daß der Professor einen Moment brauchte, um sich selbst davon abzuhalten, eine spitze Bemerkung fallen zu lassen. In gewisser Weise bedauerte Harry, daß der andere sich so perfekt unter Kontrolle hatte, denn so langsam kam diese Taubheit wieder zurück, die bisher nur Severus jemals hatte durchbrechen können. Man mochte von Drogen denken, was man wollte, aber sie brachten solche Gefühle zum Schweigen, brachten eine andere Taubheit als diese. Eine mit der man leben konnte.
„Hast du deine Sachen alle gefunden? Ich hoffe, ich habe nichts vergessen." Vollkommen unvermittelt riß Severus' Stimme Harry wieder aus seinen Gedanken zurück in die Realität und im ersten Moment war Harry sich nicht sicher, ob Severus nicht vielleicht vorher schon was gesagt hatte. Diese plötzlichen Themenwechsel, das war nicht seine Art. Severus ließ doch niemals locker, wenn er sich im Recht glaubte. Und er konnte sich Harry gegenüber doch nur im Recht fühlen. Sogar Harry selbst kam nicht umhin zuzugeben, daß er Recht hatte.
Und trotzdem, es war nicht das erste Mal, daß er einfach so einen Gesprächsfaden, der für Harry offensichtlich in den Bereich des Unangenehmen ging, einfach fallen ließ, um die Unterhaltung an einer völlig anderen Stelle einfach wieder anzuknüpfen, gerade so als hätten sie niemals über unangenehme Punkte gesprochen.
„Ich habe noch nicht nachgesehen. Aber Sie werden schon alles mitgebracht haben. – Ich habe den Brief gefunden. Vielen Dank, daß Sie ihn mitgebracht haben." Severus nickte und starrte scheinbar abwesend in die mickrige Glut, die noch immer im Kamin glomm. Nach einem kurzen Stirnrunzeln zog er seinen Zauberstab aus der Tasche seines Morgenmantels und mit einem knappen Schwenker loderten die Flammen wieder auf.
„Keine Ursache. – Ich war ehrlich gesagt ein wenig überrascht. Ich hatte nicht mit einem Mitbewohner gerechnet." Harry lächelte und umschlang seine Knie mit seinen Armen. Wieder eine Haltung, in der er noch kleiner und zerbrechlicher wirkte, als er ohnehin schon war.
„Hat er sich so genannt? Adrian untertreibt gerne. Er ist so viel mehr als nur ein Mitbewohner." Severus spürte, wie sich ihm bei diesen Worten augenblicklich die Kehle unangenehm zuschnürte und ein Stich ihm ins Herz fuhr. So viel mehr? Wie viel mehr? Waren die Gefühle, die er bei dem älteren Jungen sofort gesehen hatte, doch nicht so einseitiger Natur gewesen? Würde Harry zu ihm zurückkehren wollen? Genau genommen war das ja auch nur logisch, egal was Adrian gesagt hatte. Wenn die Wahl zwischen ihm und diesem jungen Mann bestand, wer konnte es Harry da übel nehmen, daß er lieber früher als später zu Adrian zurückkehrte?
„Er war mein Retter. Er hat mich aufgefangen und ich war wirklich kurz davor, meinen Sturzflug mit einem tödlichen Aufschlag zu beenden. – Er war der einzige Freund, den ich in dieser merkwürdigen Welt hatte, von der ich dachte, daß sie die bessere Wahl sein würde."
„Nun, ich bin sicher, daß wir schon bald so weit sind, daß du zu ihm zurückgehen kannst, Harry. Alles was es dazu braucht, ist ein wenig Disziplin und ich denke inzwischen wirklich, daß du das schaffen wirst. Immerhin, du hast ein Ziel vor Augen, das sollte alles einfacher machen und sobald es geschafft..."
„Stop!" unterbrach Harry seinen ehemaligen Lehrer, der während seiner Rede immer schneller und schneller gesprochen hatte und sich zum ersten Mal ganz offensichtlich nicht wohl mit dem fühlte, was er sagte.
„Wie kommen Sie denn darauf, daß ich das möchte? Ich dachte, Sie hätten mich hierher gebracht, damit ich nie wieder in dieses Leben zurückkehren muß."
„Aber ich habe dich nicht hierher gebracht, um dich von den Leuten fern zu halten, die du offensichtlich – sehr gern hast", entgegnete Severus düster und vermied es, Harry in die Augen zu sehen, der ihn unverwandt anstarrte.
„Ich kann aber nicht zurückgehen Selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht. Adrian kann mich nicht auf Dauer auffangen. Ich würde wieder beginnen, in die Tiefe zu stürzen. Genau genommen war ich schon längst wieder im freien Fall. Ich kann ihm das nicht aufhalsen. Er ... Professor, ich bin nicht so blind, wie Sie vielleicht glauben. Ich weiß doch ganz genau, daß ich ihn mit mir zusammen zerstöre. Wie könnte ich das tun?
Ich weiß, daß er alles versuchen würde, daß er alles tun würde und trotzdem wäre alles vollkommen umsonst. Er würde nur ebenfalls daran zerbrechen." Harrys Mundwinkel zuckten verdächtig, als er den Kopf ein wenig hängen ließ und sich nervös durch die langen, leicht verknoteten Haare fuhr.
„Ich habe doch sogar schon einen Teil von ihm kaputt gemacht." Eine einzelne Träne rollte über Harrys Wange, doch er versuchte sie zu verbergen und Severus tat so, als habe er sie nicht gesehen.
„Wirst du ihm antworten?" fragte Severus nach einer Weile des Schweigens in die Stille des Raumes hinein, die sonst nur vom Knacken und Knistern des brennenden Holzes durchbrochen worden war.
„Ich weiß nicht", entgegnete Harry müde und ließ den Kopf zurück auf seine angezogenen Knie sinken. „Vielleicht wäre es nicht... ich meine... Ach verdammt, ich will ihm doch nicht weh tun und vielleicht ist es besser, wenn ich ihn einfach in Ruhe lasse."
„Ist das dein Allheilrezept? Einfach nicht mehr melden? Sang- und klanglos verschwinden und alles was war sich selbst überlassen?" Der gereizte Ton in Severus' Stimme fuhr Harry durch Mark und Bein. Das war scheinbar wirklich ein blank liegender Nerv und ganz zielsicher traf er ihn immer wieder. Aber was war so falsch daran? Warum war es verkehrt, wenn er seinem Freund so viel Leiden wie möglich ersparen wollte, indem er sich nicht mehr meldete?
„Es würde ihn verletzen, wenn er so gar nichts mehr von dir hören würde, Harry. Er würde sich die ganze Zeit über fragen, was er getan hat, daß du ihn auf einmal so haßt. Wenn du ihn ohne ein Wort jetzt einfach sich selbst überläßt, dann wird er das nie verstehen. Solltest du Adrian wirklich nie wieder sehen wollen, dann sag ihm auch warum.
Sei nicht so grausam zu ihm."
„Das ist es, was Sie von mir glauben, nicht wahr? Daß ich grausam war. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sogar sagen, daß das genau das ist, was Sie seit einigen Tagen empfinden, sich immer wieder fragen." Severus funkelte Harry giftig an.
„Dummes Kind!" fauchte er und das heftige Zusammenzucken Harrys bereitete ihm einen kurzen Moment eine nahezu euphorische Befriedigung. „Wenn man dich hört, könnte man meinen, der Tellerrand, der deine Welt umgibt, ist so hoch, daß es absolut unmöglich ist, einen Blick darüber hinaus zu werfen. Und alles, was in diesen Teller paßt bist du selbst und je nachdem wie es gerade paßt auch noch ein zweiter Hauptdarsteller.
Ich muß mich nicht fragen, warum du mich haßt, das weiß ich sehr genau. Aber ich frage mich trotzdem jetzt schon seit mehreren Tagen, was all die anderen dir getan haben. Oh ja, ich weiß, du hattest mir deine Abrechnung mit allen Freunden vor vier Jahren wunderbar präsentiert und ich erinnere mich noch an jedes deiner Worte, aber trotzdem frage ich mich, wie sollen deine Freunde es verstehen, wenn sie herausfinden, daß du noch am Leben bist?
Sie werden sich erst freuen, fast vor Glück ausflippen und dann werden sie langsam begreifen, was in den letzten Jahren passiert ist, und sie werden nicht verstehen.
Wie willst du dein Verhalten dann erklären, Harry? Was tust du, wenn Ron und Hermine dich fragend ansehen? Was machst du, wenn dein räudiger Patenonkel mit seinem Schoßwolf hier auftaucht? Sie werden kommen, Harry. Es sei denn, du willst dich auch hier für den Rest deines Lebens verstecken. Willst du das?
Du hast schon genug Leute, denen du einiges erklären mußt, du solltest dir wirklich gut überlegen, ob du Adrian noch mit auf diese Liste setzen willst." Severus hatte sich so in eine Art Rage geredet, daß er gar nicht bemerkt hatte, daß seine eigenen Fingernägel sich mit jedem Wort immer weiter in seine Handflächen gebohrt hatten, als er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Jetzt machten sich diese kleinen Wunden unangenehm bemerkbar.
Genau so wie sein heftig schlagendes Herz, das noch ein wenig heftiger schlug, als er in Harrys weit aufgerissene, überraschte Augen blickte. Überraschung und Fassungslosigkeit standen in das blasse Gesicht geschrieben. Offensichtlich überforderte das gerade Gesagte Harrys Fassungsvermögen und wenn Severus ehrlich sein sollte, selbst er wußte nicht, wie es zu diesem plötzlichen Redeschwall gekommen war.
Die Müdigkeit, das mußte es sein. Müdigkeit hatte ihn schon immer leicht reizbar gemacht. Er rieb sich über die brennenden Augen und brauchte allein bei dem Gefühl keinen Spiegel, um zu wissen, daß sie eine reizende, rötliche Unterlegung hatten, so entzündet brannten sie.
„Wow..." brachte Harry endlich nach einer schier endlosen Ewigkeit hervor und riß seinen Blick von Severus los. Einen Moment lang kaute er nervös auf seiner Unterlippe herum. „Es... es tut mir leid. Ich wollte doch niemandem so weh tun." Er lachte bitter auf und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Das weiß ich, Harry."
„Sie haben recht, ich bin so ein verdammter Idiot. – Ich... ich werde Adrian schreiben. Bald. Aber nicht sofort. Ich wollte ihm eben zurück schreiben, aber es ging noch nicht. Lassen Sie mir ein bißchen Zeit." Harrys Stimme klang nur dumpf zwischen seinen Fingern hervor, doch Severus erkannte den Schmerz in jedem dieser Worte.
„Und die anderen, Harry? Wann werden sie es erfahren? Du solltest auch sie nicht vergessen. Zumindest Hermine, Ron, Lupin und Black sollten bald davon erfahren, daß du noch lebst." Harry schüttelte den Kopf.
„Noch nicht. Erst Adrian. Mit ihm wird es leichter sein. Ich glaube nicht, daß ich den anderen schon gegenüber treten kann." Severus legte Harry eine Hand auf die Schulter. Überrascht blickte der junge Mann ihn an.
„Das reicht mir fürs erste, Harry. Das reicht vollkommen."
Der Vormittag und auch die wenigen Nachmittagsstunden, die er heute zu unterrichten gehabt hatte, hatten sich für Severus quälend in die Länge gezogen.
Nach ihrem etwas heftigeren Zusammentreffen am frühen Morgen, war Harry dann – als es langsam Zeit für das Frühstück wurde – doch erschöpft wieder eingeschlafen. Doch Severus konnte sich diesen Luxus nicht erlauben. Für ihn war die Nacht in dem Moment vorbei gewesen, als er Harry vor dem Kamin gefunden hatte und jetzt mußte er wohl oder übel irgendwie durch den Tag kommen.
Durch den Tag und auch durch das Gespräch mit Albus, das ihm nun kurz bevor stand. Obwohl er sich nicht wirklich fit für dieses Gespräch fühlte, blieb ihm doch nichts anderes übrig, als dem Ruf des Direktors zu folgen. Sein Konto an durchgegangenen Respektlosigkeiten dem alten Zauberer gegenüber war in den letzten Tagen sprunghaft gestiegen und Severus vermutete ganz stark, daß einzig der Überraschungsmoment bisher auf seiner Seite gewesen war und ihn vor Konsequenzen bewahrt hatte.
Mit gemischten Gefühlen trat er auf die magische Treppe, nachdem der Wasserspeier den Weg darauf freigegeben hatte, und ließ sich hinauf zum Büro des Direktors tragen.
„Komm herein, Severus", drang Albus' Stimme durch die Tür, just in dem Moment, in dem er hatte anklopfen wollen. Severus preßte kurz die Lippen aufeinander, schloß die Augen und holte tief Luft, bevor er schließlich die Tür öffnete und das runde, vollgestopfte Büro betrat.
„Schön, daß du es einrichten konntest, Severus. Setz dich. Möchtest du einen Tee?" Severus setzte sich in einen Sessel, den Albus für ihn bereit gestellt hatte und beantwortete die Frage nach Tee mit einem knappen Nicken. Albus' Augen funkelten zufrieden, als er von seinem Schreibtisch aufstand und zu Severus herüber kam, sich in den zweiten Sessel setzte.
Ein Hauself erschien Augenblicke später und brachte den Tee.
„Nun Severus," begann Albus ohne Umschweife, nachdem er Zucker und Milch in seinen Tee gegeben hatte und diesen nun bedächtig umrührte, „was konntest du in London in Erfahrung bringen?"
Severus goß ein wenig Milch in seinen eigenen Tee, ignorierte den Zucker wie immer verächtlich und trank einen Schluck des heißen Gebräus, bevor er Albus' Frage Beachtung schenkte.
„Es war ehrlich gesagt ein wenig überraschend. So wie es aussieht, hat Harry nicht die ganze Zeit über allein gelebt." Albus hob überrascht die Augenbrauen.
„Die Wohnung, deren Adresse er mir gegeben hat, hat er mit einem Muggel geteilt. – Einem Muggel, der über vieles Bescheid weiß. Er wußte nicht nur, was Harry in Wahrheit war, er wußte auch, wer ich bin. Harry hat ihm offensichtlich einiges erzählt, wenn er – nicht ganz er selbst war." Albus nickte bedächtig.
„Ja, ich habe schon davon gehört, daß die Betäubungsmittel der Muggel recht fatale Wirkungen in dieser Richtung haben sollen."
„Ich glaube dennoch nicht, daß von diesem Jungen – von Adrian – Gefahr für uns ausgeht. Trotz allem, was er wußte, hat er Harry doch als vollkommen normalen Menschen angesehen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß Harry für ihn besonders wichtig ist. Er würde also nie etwas tun, um Harry zu gefährden." Albus lächelte.
„Und ich gehe davon aus, daß du ihm auch klar gemacht hast, was passiert, wenn er es doch tun würde." Severus warf Albus einen vernichtenden Blick zu.
„Wie dem auch sei, ich habe in der besagten Wohnung tatsächlich Harrys gesamten Habseligkeiten gefunden. – Erstaunlich wenige Habseligkeiten, wenn mir dieses Urteil gestattet ist, kaum mehr als er damals hier in Hogwarts zurück gelassen hat und abgesehen von seinem Zauberstab alles Muggelkram." Albus verschränkte die Hände in seinem Schoß und nickte.
„Nicht sehr überraschend, wenn man bedenkt, was Harry mit seinem Geld vermutlich getrieben hat, nicht wahr, Severus?"
„Nicht sehr überraschend, richtig. – Um so aufschlußreicher war das Gespräch mit Adrian. Er war zwar nicht bereit, über alles zu sprechen, was ich gerne von ihm gewußt hätte, aber immerhin hat er ein wenig Licht in das Dunkel der letzten vier Jahre gebracht.
So hat er Harry zum Beispiel bereits ein knappes Jahr nachdem er die Zauberwelt verlassen hat, gefunden und bei sich aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war Harry bereits sehr weit unten. Noch keine Drogen, aber ein sehr stark autoaggressives Verhalten und ein extrem niedriges Selbstbewußtsein. – Wieder nicht überraschend, ich weiß.
Harry hat sich offensichtlich um einen ganz gewöhnlichen Job in der Welt der Muggel bemüht, ist aber immer wieder gescheitert und über einfache Anstellungen in Fastfood Restaurants oder als Kellner nicht hinaus gekommen. Was sich Adrian zunächst nicht erklären konnte, schien ihm später, als er erfuhr, daß Harry auf eine Schule wie Hogwarts gegangen war, nicht mehr ganz so mysteriös. Harry konnte offensichtlich keine Schulausbildung nach Abschluß der Grundschule mehr nachweisen.
Adrian hat ihn eine ganze Weile mit durchgezogen, wenn er ohne Anstellung war – offensichtlich auch ein Zustand, der sehr häufig der Fall war – doch obwohl das Harrys Überleben gesichert hat, hat es seine Frustration über den Verlauf seines Lebens nicht gerade gesenkt.
Sein autoaggressives Verhalten wurde immer schlimmer, einige Male befand Harry sich wohl hart an der Grenze zwischen Leben und Tod. Die Narben auf seinem Körper sprechen ihre eigene Sprache und erzählen die ganze Geschichte in einem noch viel schlimmeren Licht, als ich das könnte, Albus." Severus erkannte, wie sich der Blick des alten Zauberers während seiner Erzählung ein wenig verhärtete. Die Kiefer aufeinander gepreßt hörte Albus Dumbledore stumm zu und nickte nur hin und wieder, während sich die Hände in seinem Schoß langsam immer mehr verkrampften.
„Die Drogen kamen trotzdem erst vor etwa einem Jahr ins Spiel. Was der Auslöser dafür gewesen ist, weiß ich leider noch nicht. Darüber hat Adrian sich ausgeschwiegen.
Ich bin mir allerdings trotz allem ziemlich sicher, daß es damals ein Schlüsselereignis gegeben haben muß. Nach fast drei Jahren, in denen Harry immer wieder verbissen weiter gemacht hat, plötzlich auf so etwas zurück zu greifen... das kann nicht ohne Grund geschehen sein. So schwach ist er nicht, so zermürbend dieses Leben auch gewesen sein mag."
„Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie sehr sich dein Bild von unserem jungen Herrn Potter doch gewandelt hat, Severus." Severus hörte das Lächeln aus der Stimme de Direktors heraus, blickte jedoch nicht auf. Er konnte Albus jetzt nicht ins Gesicht sehen, ohne ihm die gesamte Tragweite seines Bildes von Harry Potter zu zeigen und das war etwas, wovon der alte Zauberer noch lange nichts wissen mußte. Wenn überhaupt.
Er mußte dringend wieder mehr Vorsicht walten lassen, sonst würden seine Gefühle für Harry früher oder später enttarnt werden und das war nun wirklich nicht zu wünschen. Nicht wenn er aus den Augenwinkeln dieses infernalische Lächeln auf dem Gesicht des Direktors sehen konnte.
„Gleichzeitig mit dem Einstieg in die Drogen hat Harry sein autoaggressives Verhalten fast vollständig abgelegt. Adrian sagte, er habe sich danach nur noch sehr selten selbst verletzt und in den letzten sieben oder acht Monaten schließlich überhaupt nicht mehr."
„Werden ihm Schänden davon zurück bleiben?" fragte Dumbledore besorgt.
„Nun ja. Die Narben wurden nicht geheilt, sie werden also zum größten Teil bleiben. Es sei denn, Poppy kann da noch irgend etwas machen. So weit ich informiert bin, kommt es auch immer wieder zu einer langwierigen Verletzung der Nerven in den Bereichen, die immer wieder verletzt wurden. Inwieweit das bei Harry der Fall ist, kann ich nicht sagen. Aber diese Art der Schädigung heilt meist nach einer Weile wieder.
Seelisch wird aber auf jeden Fall für immer ein Schaden zurück bleiben. Ich glaube auch nicht, daß das noch einmal zu beheben ist. Lindern kann man es vielleicht, aber nicht wieder beheben." Albus nickte, scheinbar tief in seine Gedanken versunken. Immer wieder strich seine Hand, die sich von ihrem Zwilling inzwischen gelöst hatte, durch den langen, weißen Bart des alten Zauberers und das Funkeln war für den Augenblick aus den blauen Augen verschwunden.
Ein Zeichen von tiefer Besorgnis bei Albus Dumbledore.
„Wie ist dein bisheriger Eindruck von ihm, Severus?" fragte er schließlich und blickte seinen Lehrer für Zaubertränke an.
„Seine Kooperationsbereitschaft hat sich in den letzten Tagen stetig gebessert. Von seinen anfänglichen Fluchtgedanken ist er inzwischen abgekommen und er geht auf Gespräche ein. Er öffnet sich langsam und ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, daß ein Prozeß des Begreifens bei ihm eingesetzt hat.
Es ging schneller, als ich dachte. Von daher rechne ich noch mit den einen oder anderen Komplikationen. Es ist noch lange nicht vorbei, Albus, aber Harry ist auf einem brauchbaren Weg." Wieder ein bedächtiges Nicken des Direktors, dem ein langer Moment des Schweigens folgte. Es kam selten vor, aber diesmal schaffte Severus es wirklich nicht, den Gedanken des älteren Zauberers zu folgen. Er wußte absolut nicht aus dem Gesicht des anderen zu lesen, was wohl in ihm vorging. Es machte ihn nervös.
„Harrys Entzug befindet sich auch langsam im Endstadium. Es ging einfacher, als ich zunächst befürchtet hatte."
„Das bedeutet?"
„Das bedeutet, daß ich mir für Harry alles schlimmer und schmerzhafter vorgestellt hatte. Ich bin mit den Wirkungen von Muggeldrogen nur bedingt vertraut und mit den Entzugserscheinungen sogar noch weniger.
Ich hatte erwartet, daß es alles noch härter werden würde, aber im Endeffekt lief alles doch mehr ab wie eine sehr schwere Grippe. Selbst seine Aggressionsbereitschaft war nicht so hoch, wie ich erst gedacht hatte.
Mittlerweile bereiten ihm eigentlich nur noch sein Kreislauf, die Übelkeit und seine allgemeine Schwäche Probleme. Die Krämpfe und die Schweißausbrüche haben bereits gestern aufgehört und er schläft heute zum ersten Mal ohne Hilfsmittel."
„Immerhin das ist mal eine gute Nachricht", bemerkte Albus sichtlich erleichtert und griff nach seiner Tasse, in der der Tee inzwischen kalt geworden war. Trotzdem nahm er einen Schluck, verzog das Gesicht und stellte die Tasse wieder weg.
„Ich denke, das ist nicht die einzige gute Nachricht", sagte Severus schließlich nach einem kurzen Zögern und blickte zum ersten Mal auf, um den Augen des Direktors zu begegnen.
„Ja?" ermunterte Albus ihn zum Weitersprechen.
„Harry scheint ein Interesse an Büchern zu zeigen."
„Das hat er früher schon."
„Früher ist lange her. – Ich habe ihm angeboten, daß er meine Bücher nutzen darf, wenn er möchte und er hat es getan." Wieder hielt Severus inne.
„Und jetzt kommt ein aber?" Severus nickte.
„Ich weiß nicht, ob man es schon als Zeichen nehmen kann, aber er hat eines meiner nichtmagischen Bücher gewählt. Ein Muggelbuch über Mythologien des alten Griechenlands. – Keins aus meiner wirklich großen Sammlung von Büchern über die Verteidigung gegen die Dunklen Künste, sondern eines der unscheinbarsten Bücher aus dem hintersten Regal.
Ich denke, es ist eine gute Sache, daß er für so etwas jetzt schon wieder Interesse zeigt, aber ich habe das Gefühl, daß Harry noch immer nicht wieder Teil dieser Welt werden will. Er fühlt sich von den Zaubererwelt verlassen, vielleicht sogar verraten.
Obwohl er in der Welt der Muggel vier Jahre erlebt hat, die keinesfalls auch nur einen Deut besser gewesen sein können als sein Leben als gezwungener Held, fällt seine Wahl noch immer zuerst auf die Welt der Muggel.
Ich schätze, er will noch immer nicht wieder seinen Platz bei uns einnehmen." Albus zog ein wenig unwillig die Augenbrauen zusammen und dachte kurz über Severus' Worte nach, bevor er schließlich ein wenig die Schultern hängen ließ, scheinbar die gesamte Anspannung aus seinem Körper entlassend.
„Und trotzdem ist das eine gute Nachricht, Severus. Du solltest ihn auf jeden Fall vorsichtig ermutigen, weiter zu machen. Vielleicht ist das ja nur ein Einstieg und er kehrt früher oder später wieder zur Magie zurück. Es ist noch zu früh, da schon etwas Konkretes zu sagen."
„Ich werde mein Bestes tun", versprach Severus, doch im Gegensatz zu Dumbledore war er sich schon seltsam sicher, daß Harry nicht zur Magie zurückkehren würde. Nicht mehr als absolut nötig und selbst dann noch nicht aus freien Stücken. Woher dieses Gefühl kam, warum es so stark und sicher war, das waren Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Und dennoch hatte er keine wirklichen Zweifel.
Nachdenklich verließ Severus das Büro des Direktors und machte sich auf den Weg zu den Kerkern. Es war bereits Zeit zum Abendessen und ganze Schülerhorden strömten an ihm vorbei, um in die Große Halle zu gelangen. Doch wie immer beachtete er sie nicht weiter und wie immer bemühte jeder einzelne von ihnen sich, bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eine jahrelange Routine, die Severus mehr denn je gelegen kam.
Es war sein erstes wirklich offenes Gespräch mit Dumbledore gewesen, seit er Harry nach Hogwarts zurück gebracht hatte. Und obwohl er das Gespräch nicht unbedingt gerne geführt hatte, drängte sich ihm doch so langsam der Verdacht auf, daß es gut und wichtig gewesen war. Er schnaubte verächtlich, die Augen ein wenig angewidert zusammen gekniffen. Es widerstrebte ihm einfach, ein Gespräch mit Dumbledore in diese Kategorien einordnen zu müssen, aber er war Realist genug, um das nicht abzustreiten. Immerhin.
Es wunderte ihn, daß Dumbledore so gar nicht darauf bestand, daß er Harry ins Gewissen redete, was sein Interesse an der Zauberei anging. Daß er so einfach akzeptierte, was Harry entschieden hatte und ihn sogar bat, das zu unterstützen. Er hatte etwas anderes erwartet. Hatte geglaubt, daß Dumbledore alles dafür tun würde, seinen Weltretter wieder zu bekommen.
Doch er tat es scheinbar nicht und die Frage war jetzt, ob er Dumbledore all die Jahre einfach nur verkannt hatte oder ob nach Voldemorts Vernichtung endlich ein wenig Vernunft in den alten Zauberer gefahren war und er Harry nun nicht mehr um jeden Preis auf den Sockel des Ruhmes heben wollten. Doch egal wie, für Harry konnte es nur gut sein.
Mit einem Seufzen öffnete Severus die Tür zu seinem Quartier. Kaum hatte die Tür sich hinter ihm wieder geschlossen, streifte er die schwere, schwarze Wollrobe ab und legte sie sich über den Arm.
Harry saß wieder im Wohnzimmer, diesmal allerdings auf der Couch, fest in seine Decke eingekuschelt und immer noch das dicke Buch in der Hand, das er sich in der Nacht aus dem Regal ausgesucht hatte. Ein geisterhaft kleines Lächeln huschte über Severus' Lippen, verschwand aber im nächsten Augenblick wieder, um dem üblichen, düsteren Gesichtsausdruck Platz zu machen.
„Guten Abend, Harry", begrüßte er den jungen Zauberer. Harry zuckte nicht zusammen, wie er es erwartet hatte, sondern las den Satz noch zu Ende und sah ihn dann mit einem Lächeln an.
„Hallo Professor. Schon so spät?" Überrascht und auch ein wenig amüsiert hob Severus die rechte Augenbraue, während er den getragenen Umhang über die Rückenlehne seines Lieblingssessels hängte.
„So spannend, deine Muggellegenden?" Harrys Augen leuchteten einen Moment fröhlich, ein Augenblick, der Severus den Atem anhalten und sein Herz schneller schlagen ließ. Genau so, genau dieser Blick. Das war es.
„Als wüßten Sie es nicht selbst", entgegnete Harry mit einem Lachen in der Stimme, das Severus trocken schlucken ließ. Was war passiert? Hatte er sein gewohntes Zeitgefüge verlassen und eine andere Dimension betreten, in der ein Harry auf seine Rückkehr wartete, wie er ihn sich schon seit mehreren Jahren erträumt hatte? Das konnte doch nicht wirklich der selbe Junge sein, den er vor wenigen Tagen erst aus dem Dreck gezogen hatte.
„Dir geht es heute scheinbar viel besser", bemerkte er daher betont beiläufig, als er sich in den besagten Lieblingssessel setzte und wartete innerlich zum Zerreißen gespannt auf die Antwort. Zu den leuchtenden Augen des jungen Mannes gesellte sich jetzt auch noch ein kleines Lächeln.
„Schauen Sie mal", sagte er einfach nur und streckte seine rechte Hand aus. Severus beobachtete diese Hand einige Augenblicke und auch sein Gesicht hellte sich merklich auf.
„Wenn ich mich sehr konzentriere, kann ich das Zittern sogar für einen Moment ganz unterdrücken. Ich gewinne die Kontrolle zurück."
„Das ist großartig. Und es ging so viel schneller, als ich mir erhofft hatte." Harry lächelte bei der Ehrlichkeit, die in der Stimme des stets so düsteren Zaubertrankmeisters mitschwang.
„Das ist Ihr Verdienst." Harry zögerte einen Moment und blickte gedankenverloren auf das aufgeschlagene Buch auf seinen Beinen. „Danke. – Ich weiß, ich mache nicht immer den dankbarsten Eindruck, aber ich bin es. Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher, aber im Prinzip bin ich es."
„Ich weiß, Harry."
„Dachte ich mir", antwortete Harry sehr leise. Mit einem winzigen Seufzen klappte er das Buch zu und legte es auf den Tisch, der zwischen Couch und Sessel stand. Dann zog er die Decke bis über seine Schultern und unter der Decke die Knie an seinen Oberkörper.
„Ist dir immer noch kalt, Harry?" fragte Severus und griff nach seinem Zauberstab. „Ich kann das Feuer ein wenig schüren, wenn du..."
„Nein! Nein, ist schon gut", wiegelte Harry schnell ab und blickte unter sich. „Das Feuer hilft nicht. Dobby war heute schon ein paarmal da und hat dafür gesorgt, daß es stark brennt. Es ist... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Die Wärme ist da und ich fühle sie auch, aber sie erreicht mich irgendwie nicht.
Es macht keinen Unterschied für mich, ob das Feuer brennt oder aus ist."
„Das ist dein Kreislauf, Harry. Er wird noch eine Weile brauchen, bis er sich wieder einpendelt", erklärte Severus und versuchte, Harry damit zu beruhigen. Dieser lächelte ein beinahe sarkastisches Halblächeln.
„Nie um eine rationale Erklärung verlegen, was? – Ich glaube, so einfach ist das nicht. Diese Kälte kommt von innen. Seit ich wieder bei klarem Verstand bin, ist mir so kalt." Harry zögerte einen Moment, in dem Severus angespannt darauf wartete, was als nächstes kommen würde.
„Denn immer... wenn ich bei klarem Verstand bin fühle ich mich..." Harry brach ab, blickte in Richtung Feuer, weg von Severus.
„Wenn du bei klarem Verstand bist, fühlst du dich wie, Harry?" hakte Severus nach. Er sah, wie Harry unter der Decke die Schultern ein wenig hob.
„Keine Ahnung. So dreckig, so wertlos, nennen Sie es, wie Sie wollen.
Das Gefühl verschwand immer nur, wenn ich mir selbst den Verstand genommen habe oder... oder wenn ich es zugelassen habe, daß Adrian sieht, wie schlecht es mir geht. – Er wußte irgendwie immer, wann er was zu tun hatte." Und wieder Adrian. Severus wußte nicht, was er fühlen oder denken sollte, sein Herz allerdings war sich da scheinbar nicht ganz so unsicher, denn es zog sich wieder einmal unangenehm zusammen. Dummes kleines Organ.
„Du bist nichts davon, Harry. Bitte glaube nicht, was andere dich glauben machen wollen. Du bist sogar sehr viel wert." Harry lächelte und diesmal war es wieder bitter, klein und kalt.
„Können Sie mir das beweisen, Professor? Können Sie mir irgendwie beweisen, daß Sie mir das nicht einfach nur alles erzählen, damit ich mich besser fühle?" Für einen Moment setzte Severus' Herzschlag aus. Ob Harry überhaupt wußte, daß er ihn immer wieder an seine Grenzen trieb? Stets mehr von ihm erwartete, als seine Barrieren zuließen und er sie trotzdem jedes Mal wieder überschritt.
Wie war dabei noch immer völlig ungeklärt, aber er tat es.
Und auch diesmal ignorierte er die schrillen Alarmglocken in seinem Hinterkopf, als er sich aus seinem Sessel erhob und zu Harry auf die Couch wechselte. Die Augen des Jungen wurden groß und blickten ihn verwundert an, bevor die Verwunderung schließlich dem Schock wich, als Severus vorsichtig die Hand um seine Schultern legte und seinen Oberkörper herunter zog, bis sein Kopf schließlich auf dem Oberschenkel des Älteren zum Liegen kam.
Harry stockt der Atem und sein Herz schlug in einem halsbrecherischen Tempo, als er fühlte, wie Severus ihn in eine liegende Position zog und als sein Kopf in Kontakt mit dem warmen Oberschenkel seines ehemaligen Lehrers kam, war Harry sich eigentlich sicher, daß er das alles nur träumte.
Doch die Wärme fühlte sich echt an und auch die Hand, die nun langsam durch sein Haar strich, wirkte viel zu real. Langsam und immer noch über alle Maßen verwirrt, drehte Harry sich ein wenig, so daß er Severus ins Gesicht sehen konnte. Das Gesicht des Älteren war noch immer unverändert ausdruckslos wie schon die ganze Zeit, aber in seiner Stimme glaubte Harry ein wenig mehr Wärme als sonst heraushören zu könnten.
„Sag mir, wenn ich das lassen soll", war das einzige, was er als Erklärung sagte und trotzdem verstand Harry alles, was unterschwellig in diesen Worten lag. Verstand, wie Severus sich dafür entschuldigte, nichts anderes als Beweis vorbringen zu können. Verstand, daß er ihm verzweifelt klar machen wollte, daß er nicht nur einfach redete, sondern meinte, was er sagte. Verstand, daß er ihm diese Verzweiflung nicht zeigen wollte oder konnte.
Oh ja, Harry verstand. Das Begreifen hatte scheinbar begonnen. Er lächelte und schloß die Augen. Ein kleiner Schritt von vielen großen nur, aber auch die kleinen brachten ihn voran, ganz sicher.
„Was meinst du, ist Albus Dumbledore unser König Minos?"
„Bitte was? Jetzt bist du vollkommen abgedreht oder?"
„Ich weiß genau, daß du schon seit Tagen darüber nachdenkst. Also was meinst du? Denkst du, er ist es? Und denkst du, Hogwarts ist der Turm auf Kreta, aus dem es kein Entkommen gibt? – Ehrlich gesagt, ich mache mir Gedanken darüber, seit du ihm zum ersten Mal von der Ähnlichkeit zwischen der Legende und euch erzählt hast."
„Du hast echt nicht alle Tassen im Schrank."
„Das Kompliment gebe ich gerne zurück."
„Wie kommst du darauf, daß Dumbledore Minos ist? Warum nicht Voldemort?"
„Weil ich denke, daß Voldemort der Minotaurus ist. – Und weil ihr noch immer nicht frei seid, obwohl Voldemort schon seit Jahren fort ist."
„Das leuchtet ein. – Ich habe mir noch keine wirklichen Gedanken darum gemacht, wer mein Minos ist, aber ich glaube, ich kann dir zustimmen."
„Wir sind uns also mal einig?"
„Scheint fast so."
„Ein schönes Gefühl. Es ist schon so lange her, daß ich es das letzte Mal fühlen könnte."
„Ich kann mich gar nicht daran erinnern."
„Ja, weil es zu meiner Hälfte gehört, nicht zu deiner. Aber wir nähern uns, du wirst bald wieder wissen, wie das ist. – Und in der Zwischenzeit könntest du heraus finden, ob Dumbledore wirklich Minos ist. Und sollte er es sein, dann finde einen Weg, von der Insel zu fliehen, aber diesmal, ohne ins Meer zu stürzen und zu ertrinken."
„Du hast keine einzige Tasse mehr im Schrank oder?"
„Die gehören zu deiner Hälfte."
Die Wärme des Feuers prickelte angenehm auf seiner Haut, als Harry aus seinem leichten Schlummer erwachte. Müde und ein wenig orientierungslos rieb er sich den Schlaf aus den Augen.
„Du solltest wirklich langsam mit dem Gedanken spielen, nachts zu schlafen, Harry", bemerkte Severus trocken und versenkte seine Nase wieder in dem Buch von dem er kurz aufgeblickt hatte, als der junge Mann, dessen Kopf mal wieder auf seinen Beinen lag, sich nach fast einer Stunde reglosen Schlafes gerührt hatte.
Harry lächelte und kuschelte sich so unauffällig wie möglich ein wenig mehr in die Wärme seines Retters. Obwohl es jetzt schon fast zwei Wochen her war, daß Severus diese Nähe zum ersten Mal erlaubt, sogar eingeleitet hatte, war es für Harry noch immer vollkommen unglaublich, daß es wirklich geschehen war. Genau so unglaublich, wie dieses Gefühl der absoluten Geborgenheit, die er durch diese Geste Severus' jeden Tag von neuem empfand. Geborgenheit und von Tag zu Tag immer mehr Dankbarkeit.
„Sie wissen doch, ich würde nichts lieber als das tun." Und ob Severus das wußte. Und auch wenn die von Harry so leichtfertig dahergesagten Worte es wohl überspielen sollten, wußte Severus auch, wie unmöglich eine einfache durchgeschlafene Nacht für Harry noch immer war, wenn kein Trank zur Hilfe genommen wurde.
„Es tut mir leid, daß ich dir nicht öfter einen traumlosen Schlaf schenken kann." Harry schüttelte leicht den Kopf.
„Das macht nichts. Nicht immer sind es schlechte Träume." Ein wenig überrascht hob Severus eine Augenbraue. Wenn das nicht immer schlechte Träume waren, fragte er sich ernsthaft, warum er den Jungen dann so oft mitten in der Nacht schreien hörte und warum er meist nach einem dieser Träume sein Bett für den Rest der Nacht verließ.
„Manchmal enthüllen Träume einem auch sehr interessante Aspekte, die man bis dahin gar nicht so genau gesehen hat.
Erinnern Sie sich noch daran, was ich Ihnen neulich über die Legende von Ikarus und Dädalus gesagt habe?" Severus nickte. Wie immer wirkte er äußerlich ruhig, aber in seinem Inneren wartete er dafür um so angespannter darauf, was Harry ihm dieses Mal wieder offenbaren würde. Die letzten zwei Wochen hatten eines für Severus auf alle Fälle schon sehr deutlich gemacht. Harry ließ nichts unhinterfragt. Was er las, wollte er verstehen, was er nicht verstand, wurde hinterfragt. Und wenn er zu einem Ergebnis gekommen war, erzählte er Severus davon, um seine Meinung zu hören.
Severus war fasziniert von dieser Entdeckung gewesen, wenngleich die Themen, die Harry sich für diese abendlichen Diskussionen aussuchte, auch nach zwei Wochen noch immer nur um nichtmagische Aspekte im eigentlichen Sinne drehten.
„Ich habe bisher immer nur einen kleinen Teil davon betrachtet, die eigentliche Flucht und mehr nicht, aber in meinem Traum hatte ich plötzlich eine Idee. Denn es geht doch alles noch viel weiter. – Oder ich spinne einfach nur, das kann ich allerdings nicht beurteilen." Die flapsige Bemerkung des Jungen entlockte Severus ein Lächeln.
„Dädalus war ein Baumeister aus Athen, ein Meister seines Fachs. König Minos war es, der den Baumeister zusammen mit seinem Sohn auf die Insel Kreta beorderte, wo der Meister ein Labyrinth errichten sollte, um eines der schrecklichsten Ungeheuer gefangen zu halten, das zu jener Zeit bekannt war."
„Der Minotaurus" sagte Severus leise und Harry quittierte die kleine Unterbrechung mit einem Nicken. Er wußte, die Aufmerksamkeit seines ehemaligen Lehrers gehörte ganz ihm.
„Dädalus errichtete das gewünschte Labyrinth und der Minotaurus blieb darin gefangen. Doch obwohl er seinen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit des Königs erfüllt hatte, ließ dieser ihn nicht gehen, sondern sperrte den Baumeister und dessen Sohn Ikarus in einen Turm auf der besagten Insel.
Auf normalem Wege war es den beiden nicht möglich aus diesem Turm, geschweige denn von der Insel zu fliehen, denn Minos hatte die vollständige Kontrolle über die Land- und Seewege. So erdachte Dädalus sich seinen absolut wahnwitzigen Plan zu fliegen.
Dädalus begann damit, für Ikarus und sich selbst je ein Paar Flügel zu bauen. Er verwendete dazu Federn und Wachs, um diese Feder zusammen zu halten. Er gab sich die größte Mühe, diese Flügel möglichst getreu nach dem natürlichen Vorbild zu bauen.
Sehr bemerkenswert finde ich übrigens, daß an dieser Stelle in der Geschichte gesagt wird, daß Ikarus seinen Vater bei seiner Arbeit behinderte, weil er ihm nicht nur gerne zusah, wenn er an den Flügeln arbeitete, sondern auch seine Finger nicht aus dem Gefäß mit dem Wachs lassen konnte.
Wie auch immer, Dädalus schaffte es trotz allem, die Flügel fertig zu bauen und als der Tag gekommen war, an dem sie von der Insel fliehen wollten, kam Ikarus zu nah an die Sonne, das Wachs in seinen Flügeln schmolz und der Junge stürzte ins Meer, wo er ertrank. Stürzte, obwohl der Vater ihn stets vor zwei Dingen gewarnt hatte.
Davor nicht zu niedrig zu fliegen, da sonst das Wasser des Meeres seine Flügeln beschweren und ihn nach unten ziehen würde. Und davor zu hoch zu fliegen, damit die Sonne die Flügel nicht verbrannte." Harry verstummte und starrte eine Weile nur in das Feuer, das wenige Meter entfernt von ihm im Kamin brannte. Doch obwohl er schwieg, setzte Severus nicht nach. Er kannte auch dieses Schweigen bereits. Er wußte, daß Harry dabei war, seine eigenen Gedanken noch einmal zu ordnen und daß er gleich weitersprechen würde.
Harry schloß für einen Moment die Augen. Warum erzählte er Severus das überhaupt? Weil es ihm innerhalb von zwei winzigen, kurzen Wochen schon zur Angewohnheit geworden war? Ein recht dürftiger Grund. Aber er wollte ihn daran teilhaben lassen, auch wenn seine Vergleiche und Theorien in diesem Fall vielleicht sehr albern erscheinen mochten oder kindisch oder wie auch immer man sie bezeichnen wollte.
„Und jetzt stellen wir uns die Geschichte einmal mit anderen Personen vor", fuhr er schließlich nicht mehr ganz so selbstsicher fort. „Und einem anderen Schauplatz. Immer noch auf einer Insel, aber nicht mehr in der Ägäis.
Britannien ist Kreta, Sie sind Dädalus, ich bin Ikarus, Hogwarts ist der Turm – Voldemort ist der Minotaurus und Albus Dumbledore König Minos." Die Augen des Zaubertrankmeisters weiteten sich bei der Zuteilung der letzten beiden Personen ein wenig.
„Obwohl Sie Voldemort in ein Labyrinth aus Lügen, Täuschung und Verrat verwickelt haben und nicht gerade selten wirklich in Gefahr waren, Ihr eigenes Leben im Auftrag des ‚Guten' zu verlieren, hatten Sie doch in all den Jahren nicht ein einziges Mal wirklich die Gelegenheit, das alles hinter sich zu lassen oder? Nicht einmal jetzt, wo der Minotaurus eigentlich gestürzt und das Labyrinth zusammen gebrochen ist.
Was ist der Grund dafür?
Oder ich. Ich kam als Kind hier her. Hatte weder mit Ihrem Labyrinth noch mit diesem wahnsinnigen Zauberer wirklich etwas zu tun. Aber auch ich landete im Turm, bekam Dinge von sagenhaften Mächten, Talenten und Prophezeiungen erzählt, die ich angeblich haben beziehungsweise in denen ich vorkommen sollte und war doch eigentlich von vorne herein zum Scheitern verurteilt.
Ich kann bis heute nicht sagen, wie ich Voldemort als Baby besiegt habe und ich kann mich auch nicht wirklich daran erinnern, wie ich ihn vor vier Jahren vernichtet habe. Ich weiß nur, daß es geschehen ist und daß es mehr Glück als Verstand oder sagenhafte Kraft war.
Und obwohl ich den Minotaurus am Ende besiegt habe, sitze auch ich wieder im Turm, komme einfach nicht hinaus, so sehr ich mich auch anstrenge.
Was ist der Grund dafür?"
„Harry..."
„Ich weiß eigentlich nur eines ganz sicher. Ich weiß, daß Ihre ganzen Gemeinheiten, alles was ich als unfair empfand, als ich hier Schüler war, alles wofür ich Sie gehaßt habe, im Endeffekt nur dazu dienen sollte, mich davor zu warnen, zu hoch zu fliegen. Und ich weiß, daß sie mir an dem Abend damals Mut genug gemacht haben, dem Meeresspiegel nicht zu nahe zu kommen.
Ich habe von Ihnen gelernt, daß das, was böse erscheint nicht zwangsläufig immer das Böse ist oder anders herum das Gute nicht immer gut. Ich weiß, daß Dumbledore nicht der böse König Minos ist, sondern es immer nur gut gemeint hat, aber... das was dabei heraus gekommen ist, seien Sie ehrlich, kann man das gut nennen?" Schweigen, einzig unterbrochen vom Knistern des Feuers im Kamin, senkte sich über die beiden Zauberer, die auf der großen, dunklen Couch ein so vertrautes Bild abgaben. Schweigen und für Severus das Gefühl, daß Harrys Rede sich wie ein dunkles Tuch, das ihm bis dahin einen Teil seiner Sicht und seiner Freiheit versperrt hatte, von seinen Augen gehoben hatte.
Nicht daß es für ihn eine bahnbrechende Erkenntnis war, daß Dumbledore es stets gut meinte, aber nicht immer gut machte, doch die Art und Weise, wie Harry darauf gekommen war, diese Art, Dinge miteinander zu vergleichen, ins Detail zu betrachten... wenn er ehrlich sein sollte, hatte er Harry diese Fähigkeit trotz der vergangenen beiden Wochen nicht mehr wirklich zugetraut. Nicht nach allem, was in den letzten Jahren schief gegangen war, nur weil Harry nicht in der Lage war, klar zu sehen.
„Es tut mir leid, daß ich die Finger nicht aus dem Wachs lassen konnte." Harrys Stimme durchschnitt scharf die vollkommene Stille um sie herum und riß Severus ein wenig unsanft aus seinen Gedanken.
„Wachs?" fragte er im ersten Moment verwirrt und blickte in die smaragdgrünen Augen, die nun nicht länger auf das Feuer gerichtet waren.
„Ach ja, das Wachs. Er ist für mich das Symbol der Gefahr. Das Wachs und die Federn sind die beiden großen Gefahrenfaktoren in dieser Legende.
Während Sie während meiner ganzen Schulzeit versucht haben, mich von allen Gefahren fern zu halten und mir trotzdem ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, habe ich alles getan, um Sie auszutricksen, immer wieder um Ihre Vorsichtsmaßnahmen herum zu kommen. Ich hab hin und wieder mit der Gefahr gespielt und sie nicht gerade selten heraus gefordert. Das war dumm. Und es ist mir ja letztendlich auch zum Verhängnis geworden." Sanft strich Severus mit seinen langen Fingern durch das fast schwarze Haar des Jüngeren und schüttelte den Kopf.
„Sag so etwas nicht, Harry. Du bist noch nicht am Ende und vielleicht hörst du ja ab jetzt endlich auf mich. Wenn es stimmt, was du sagst, werde ich dich schon vor weiteren Dummheiten bewahren." Ein kleines Lächeln trat auf Harrys Lippen und gerne hätte er Severus das volle Ausmaß seiner Dankbarkeit gezeigt, doch er wußte schlicht nicht, wie.
„Sie könnten mein Manager werden, dann würde ich ab sofort nur noch das machen, was Sie mir sagen", erwiderte er und das Lächeln wurde ein wenig breiter, als Severus augenblicklich eine Augenbraue gen Stirn zog.
„Klingt verlockend, aber was gibt mir eine Garantie, daß du es auch wirklich tust? Ich hab mit dir ja bisher nicht unbedingt die Erfahrung gemacht, daß du tust, was man dir sagt."
„Probieren Sie es aus", in den grünen Augen blitzte es herausfordernd auf.
Einen Moment hielt Severus in seiner streichelnden Bewegung inne und für einen noch kürzeren Moment hielt er den Atem an. Er war sich absolut nicht sicher, ob er es wirklich probieren sollte, vermutlich war es dafür noch zu früh. Andererseits hatte Harry ihm hier eine offene Einladung präsentiert, einen Vorschlag zu machen, die Gelegenheit war daher günstig wie nie.
„Mach deinen Schulabschluß", sagte er schließlich schnell, bevor die Stimme in seinem Kopf sich dagegen aussprach und im selben Augenblick, in dem die Worte gesagt waren, wußte er auch schon, daß er vermutlich auf die Stimme hätte hören sollen. Er fühlte, wie Harry sich verkrampfte, eine vollkommen starre Haltung einnahm und das Funkeln verschwand sofort aus den grünen Augen.
„Den... den UTZ?" fragte Harry schüchtern, aber auch gleichzeitig abweisend kühl, eine Mischung, die selbst Severus so noch nicht kannte.
„Ja, den UTZ. Du brauchst ein Ziel, auf das du hinarbeiten kannst. Warum also nicht den Abschluß?" Harry rappelte sich auf die Knie und zog gleichzeitig seine Decke wie eine Schutzmauer um seine Schultern. Trotzdem blickte er Severus unverwandt in die Augen.
„Nein."
„Was willst du dann? Was möchtest du machen, sobald es dir wieder gut geht?" hakte Severus unbarmherzig nach. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Gefühl in seinem Inneren mulmiger, aber dennoch wußte er, daß er Harry jetzt nicht mehr vom Haken lassen konnte. Jetzt mußte er auf Antworten bestehen. Harry war noch lange nicht so weit, daß man sagen konnte, daß seine komplette Vergangenheit hinter ihm lag, es gab noch viel, was er aufarbeiten mußte, vieles mit dem er erst zu leben lernen mußte, aber dennoch sah Severus es an der Zeit, ihn wieder mit der Realität zu konfrontieren. Erst einmal nur in kleinen Dosen, aber er konnte ihn nicht länger so vollkommen schonen, das war unmöglich.
„Ich weiß es noch nicht. Ich habe genau so viel Ahnung, wie vor vier Jahren. Ich wollte nichts mehr mit dieser ganzen Zauberei zu tun haben. Sie hat mir nichts als Unglück gebracht. Dieses Gefühl hat sich nach wie vor auch nicht geändert, aber ich schätze, die letzten vier Jahre haben mir gezeigt, daß ich nur in dieser Welt zurecht komme. – Noch.
Ich weiß es nicht, Professor. Im Moment gibt es für mich nur diese Räume, nur Sie, nur Hogwarts, ich hab noch nicht darüber hinaus gesehen. Ich ... ich bin mir auch nicht sicher, ob ich schon darüber hinaus sehen will."
„Harry", die Stimme des Zaubertrankmeisters hatte jegliche Schärfe verloren, hatte nur noch dieses Warme, Samtige, das schon so viele Menschen fasziniert hatte. „Du wirst es bereuen, wenn du dir keine Ziele steckst und deshalb nicht voran kommst. Du mußt ja jetzt noch nicht entscheiden, was du dein ganzes restliches Leben machen willst. Mach kleine Schritte und fang mit dem naheliegendsten an. Mach den Schulabschluß."
„Nein!"
„Harry."
„Nein! Ich werde den UTZ nicht machen. Das ist Zeitverschwendung! Wozu etwas machen, was ich doch nicht nutzen will. Ich... wenn ich... – Wenn ich überhaupt irgendeinen Abschluß machen will, dann den an einer Muggelschule." Überrascht zog Severus die Augenbrauen zusammen. Da war er also wieder, der berühmte Abschluß, von dem auch Adrian gesagt hatte, daß er der Hauptgrund dafür gewesen war, daß Harry den Absprung aus der Magierwelt nicht geschafft hatte. Wollte Harry denn wirklich noch immer um jeden Preis seiner Welt den Rücken kehren? Warum war das so verdammt wichtig? Und warum fühlte es sich an, als würde es ihm weh tun, daß Harry es noch immer wollte?
Weil er ein Teil dieser Welt war, die der junge Zauberer so kategorisch ablehnte. Und so ungern Severus Snape das auch zugab, er wollte nichts mehr, als Teil der Zukunftsplanung des Jungen sein. Was war er doch für ein törichter, alter Mann.
„Harry, wenn du wirklich unbedingt als Teil der Muggelwelt leben willst, gibt es andere Möglichkeiten. Du bist nicht der erste, der das möchte. Wenn du erst einmal den UTZ bestanden hast, kannst du beim Ministerium den Antrag stellen, daß dir entsprechende Dokumente ausgestellt werden, mit denen du dann kein Problem mehr haben solltest, eine durchaus qualifizierte Schulbildung nachzuweisen." Harry kniff ein wenig die Augen zusammen, bevor er erneut vehement den Kopf schüttelte.
„Das ist doch nicht das selbe. Trotzdem fehlt mir so gut wie alles, was ich wissen muß. Das ist etwas, was man auf dem herkömmlichen Weg lernen muß.
Es wundert mich, daß gerade Sie dafür sind, es sich leicht zu machen, Professor." Severus lächelte und dieses Lächeln hatte fast schon einen gequälten Ausdruck, aber Harry konnte sich da durchaus auch täuschen.
„Es wird Jahre dauern, Harry. Wenn du das wirklich machen willst, wird man dich sehr weit unten anfangen lassen. Du bist seit der Grundschule nicht mehr auf eine normale Schule gegangen, weißt du eigentlich, was das bedeutet?" Harry lachte leise und endlich erkannte Severus auch wieder ein wenig echtes Amüsement in seinen Augen.
„Natürlich weiß ich das. Ich bin trotz all dem Heldengeschwafel bei Muggeln aufgewachsen, schon vergessen? Mein Cousin Dudley ist auf eine ganz normale Schule gegangen. Ich weiß, daß ich das nicht in zwei oder drei Jahren nachholen kann." Verzweiflung machte sich in Severus breit. Er wußte nicht einmal, warum und woher dieses Gefühl kam, was es in ihm zu suchen hatte, aber es war da und ließ sich nicht abstreiten, als nun sein Herz ein wenig schneller schlug und er fühlte, wie ihm der Schweiß auf dem Rücken ausbrach. Er zog seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel, von dem er nicht einmal glaubte, daß es ein wahrer Trumpf war. Eigentlich war es nur eine vage Hoffnung, eine sehr vage Hoffnung.
„Du müßtest Hogwarts verlassen. Das wäre ein Weg, auf dem ich dich nur sehr beschränkt begleiten könnte." Innerlich brach eine Schimpftirade über Severus herein, als seine innere Stimme ihm dafür gehörig den Kopf wusch, daß er wirklich glaubte, DAS könnte Harry davon abhalten, an seinem Plan fest zu halten, sich Stück für Stück von der Magie und damit von ihm zu entfernen.
„Ja, ich weiß", antwortete Harry leise und ließ ein wenig den Kopf hängen. „Aber verstehen Sie doch, das ist mir sehr wichtig. Es wird sicher hart werden, aber ich muß das einfach schaffen." Severus glaubte immer noch, daß er sich getäuscht hatte, aber hatte Harry gerade wirklich versteckt zugegeben, daß er nicht fort von ihm wollte?
„Warum ist das so wichtig, Harry?" Harry hob leicht die Schultern an, sah Severus aber nicht in die Augen.
„Glaubst du, es wäre alles anders gekommen, wenn du schon vor vier Jahren einen solchen Abschluß gehabt hättest? Oder wenigstens einen Bildungsnachweis, der über die vierte Klasse hinaus geht?" Harry drehte sein Gesicht weg.
„Glaubst du", setzte Severus nun deutlich bitterer an „daß dir der Absprung dann wenigstens im zweiten Anlauf gelingen wird?" Severus sah, wie die Muskeln in Harrys Hals arbeiteten und er die Augen für einen Moment schloß. Warum hatte er das gesagt? Wieso provozierte er ausgerechnet heute, ausgerechnet jetzt solch einen Streit? Severus wußte nicht, ob er sich einen Trottel nennen sollte, oder ob sein Verhalten doch irgendwie einen Sinn hatte. Er hoffte inständig, daß es einen Sinn hatte, obgleich er im Augenblick noch das Gefühl nicht los wurde, daß er mehr zerstörte, als vorwärts brachte.
„Hören Sie, Snape, ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen, aber eines sollte von Anfang an klar sein. Ich habe nicht vor, wieder als Zauberer oder als Teil der Zaubererwelt zu leben. Und ich werde es Ihnen nicht versprechen.
Ich kann so nicht leben, ich passe nicht in diese Welt, sie engt mich an, macht mich einfach krank. Das ändert aber doch nichts daran, daß ich Ihnen dankbar bin für alles. Warum sind Sie so dagegen? Warum wollen Sie mich nicht einfach unterstützen? Ich bräuchte Ihre Hilfe mehr als alles andere." Ein eiskaltes Gefühl breitete sich bei diesen Worten in Severus aus. Es begann in seiner Magengegend und erreichte innerhalb von Sekunden jeden Teil seines Körpers, brachte sein Herz für einen Moment zum Verstummen. Er preßte die Kiefer fest aufeinander und schloß für einen Moment die Augen, bevor er das Buch, das seit Beginn des Gespräches neben ihm auf der Couch gelegen hatte, zuklappte und auf den Tisch legte und aufstand.
„Ich bin ein Teil dieser Welt, die dich einengt und dich krank macht, Harry. Das solltest du nicht vergessen." Alle Wärme und Sanftheit war aus der Stimme des älteren Mannes verschwunden und hatte nichts zurück gelassen, als schneidende Kälte, die Harry nun brutal entgegen schlug.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht, Harry." Harry blickte Severus nach, als er in seinem Schlafzimmer verschwand und auch lange nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, konnte Harry den Blick nicht abwenden.
Das war ihre erste wirkliche Meinungsverschiedenheit gewesen, seit es Harry besser ging und er nicht mehr den ganzen Tag im Bett lag. Und es fühlte sich grauenhaft an. Er wußte, daß er Severus verletzt hatte, auch wenn er nicht wußte, warum es so war. Es war nicht das erste Mal gewesen, daß er ihm gegenüber seine Gefühle ausgedrückt hatte.
Aber scheinbar war diesmal etwas anders gewesen. Er zog die Decke noch ein wenig enger um seine Schultern. Er fror.
Severus kam nicht zur Ruhe. Obwohl er sich nichts mehr wünschte, als einfach einschlafen und den Tag hinter sich lassen zu können, wurde ihm sein Wunsch wie immer nicht erfüllt. Statt dessen durfte er sich anhören, wie seine Gedanken eine Schimpftirade nach der anderen über ihm ausschütteten.
Wie hatte er aber auch so etwas tun können? Warum jetzt? Es war viel zu früh, Harry jetzt schon mit diesen Dingen zu konfrontieren, es war doch ganz klar gewesen, daß er eine solche Möglichkeit ablehnen würde. Was hatte er sich nur gedacht? Hatte er überhaupt gedacht?
Severus fluchte verhalten und drehte sich auf die Seite. Natürlich hatte er gedacht, aber er hatte nicht auf das gehört, was er gedacht hatte. Er hatte auf das Gefühl gehört, daß ihm irgendwie gesagt hatte, daß er weiter machen sollte. Gefühle waren eben doch nichts weiter als gefährliche Dummheit, er hatte es schon immer gewußt.
Und überhaupt, warum fühlte er sich so schrecklich vor den Kopf gestoßen? Warum glaubte er überhaupt, daß Harry auch ihn meinte, wenn er so ablehnend von der Welt sprach, die ihm eigentlich ein besseres Leben hatte bieten sollen, als seine Verwandtschaft? Er wußte doch, daß es nicht so war. Harry machte immer einen Unterschied zwischen ihm und der Sache an sich. Machte er doch?
„Oh verdammte..." zischte Severus wütend und schlug die Decke zurück. Die Kälte des steinernen Fußbodens biß augenblicklich unangenehm in seine nackten Füße, als er aufstand. Er mußte raus, wenigstens für ein paar Minuten. Heute hatte Minerva die Aufsicht in den Gängen, doch er wußte, daß die Lehrerin für Verwandlungen nur selten bis hinunter in den Kerker kam. – Vor allem, weil viele seiner Kollegen wußten, daß er auch häufig außerhalb seiner Aufsichtszeiten durch die Flure wanderte, regelmäßiger Schlaflosigkeit sei Dank.
Mürrisch warf er sich einen dicke Wollrobe über die Schultern und schlüpfte anschließend in seine Schuhe.
Seine Räume zu verlassen, wirkte augenblicklich befreiend auf ihn, gerade so, als wäre ein schweres Gewicht von seinen Schultern genommen worden. Und im Prinzip war es ja auch so. Nur wegen seiner Dummheit, war die Atmosphäre mit einem Mal bleischwer geworden.
Er verstand immer noch nicht, warum es ihn eigentlich so überraschte und sogar verletzte, war es doch absolut zu erwarten gewesen, daß Harry sich ausgerechnet ein solches Ziel aussuchen würde. Und im Prinzip war auch nichts Verwerfliches daran. Wenn nur nicht dieser fade Beigeschmack geblieben wäre, denn über eines war Severus sich doch sicher. Harry würde nie wieder ein Teil der Zaubererwelt werden und er selbst... nein, er selbst würde sie niemals verlassen. Ob man sich in der Mitte treffen konnte?
Erschrocken hielt Severus in der Bewegung inne. Die totenstillen, schwarzen Gänge um ihn herum erschienen ihm plötzlich gar nicht mehr so still, als seine Gedanken in seinem Kopf wieder um einiges lauter wurden. In der Mitte treffen? Wozu? Was dachte er da?!
Müde fuhr Severus sich über die gereizten Augen und schüttelte den Kopf. Nein, er hatte es von Anfang an gewußt. Er durfte nicht glauben, daß diese vorübergehende Phase, in der Harry sich gerne bei ihm aufhielt und sich von ihm helfen ließ, etwas Dauerhaftes werden konnte. Er wollte doch auch gar nicht, daß es etwas Dauerhaftes wurde! Doch so gut konnte sich selbst ein Severus Snape nicht belügen.
Er hatte es damals schon gewußt und jetzt wurde es nur noch um so deutlicher. Er wollte Harry um sich haben. Seit es mit Harry wieder stetig bergauf ging, fühlte er selbst sich von Tag zu Tag gelöster. Er zeigte es zwar nicht, aber er fühlte es daran, wie seine innere Gespanntheit und Unruhe immer weniger wurde.
Er wollte, daß Harry ein Teil von seinem Leben blieb und das war auch der Grund, warum er so reagierte, wenn er sah, daß Harry sich auf den Weg machte, dem allem und sehr wahrscheinlich auch früher oder später ihm, den Rücken zu kehren.
„Das darf doch alles nicht wahr sein", flüsterte Severus resigniert. Wie kam er denn überhaupt dazu? Er hatte nicht das Recht, wegen seiner egoistischen Gefühle zur Bremse für Harry zu werden. Er mußte ihn unterstützen. Der Junge hatte es doch selbst gesagt. Er brauchte seine Unterstützung, um zu schaffen, was er sich vorgenommen hatte.
Seine Zähne knirschten ein wenig, als er seine Kiefer aufeinander preßte, als wollte er sie in tausend Stücke zerbersten lassen. Gut, er würde Harry helfen und wenn er dann eines Tages wirklich gehen würde, würde er ihn gehen lassen. Es mußte ihm nicht gefallen, so lange es Harry damit gut ging. So einfach war das.
So bitter war das.
Doch Severus war Bitterkeit doch inzwischen mehr als gewöhnt. Hatte es jemals etwas anderes als Bitterkeit für ihn gegeben, wenn seine Gefühle sich in seine Angelegenheiten gemischt hatten? Er würde es wieder überleben. Irgendwie.
Doch sein Herz schmerzte immer noch auf diese unangenehme dumpfe Art, als er sich auf den Rückweg zu seinen Räumen machte.
Hände, die nach ihm griffen, ihn zu fassen bekamen und nicht mehr losließen. Schmerzen, hervorgerufen durch solche Hände und Füße, durch irgendwelche Gegenstände, die von den Händen gehalten wurden.
Schmerzen an seinem Körper, seiner Seele. Schmerzen, die durch seine eigene Hand hervor gerufen wurden, um Schmerzen auszulöschen.
Höhnisches Gelächter, grinsende Fratzen, abwertende Kommentare.
Haß und Verachtung.
Stimmen. Stimmen, die immer wieder verletzten und immer mehr Schmerzen zufügten, die zu Narben auf seiner Seele wurden.
Nichts wert. Immer wieder sagten sei es ihm. Nichts wert. Er war nichts wert. Und das würde immer so bleiben.
Haß und Kälte.
"Warum bist du hier, Junge? So wild darauf, hier und jetzt zu sterben?"
"Ich werde nicht sterben! – Nicht heute."
"Und für was willst du leben? Du bist ein Nichts! Dein Leben ist nichts!"
"Sie warten auf mich. Und darum werde ich auch zurückkehren."
"Niemand wartet auf dich, Kleiner. Und keiner wird dich vermissen."
„Doch! Würden Sie!!" schweißgebadet fuhr Harry aus seinem Traum auf und blickte sich einen Moment lang verwirrt um, bevor er realisierte, was schon wieder geschehen war und resigniert das schweißnasse Gesicht in seinen Händen vergrub.
„Nicht schon wieder", murmelte er verzweifelt. Ein Blick auf seinen Wecker, der auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett stand, zeigte ihm, daß es erst zwei Uhr am Morgen war. Ein neuer Rekord, meist kamen seine Alpträume nicht vor vier Uhr.
„Das war's dann wohl", seufzte er und ließ sich zurück auf das Kissen fallen. An Schlaf war von jetzt an nicht mehr zu denken, obwohl sein Körper bleischwer vor Müdigkeit war. Keine einzige Nacht ließen diese verfluchten Träume ihn schlafen, kamen immer wieder zurück. Mit einem vernebelten Geist war es so einfach gewesen, das ganze zu ertragen, aber jetzt war es ein Ding der Unmöglichkeit.
Harry fühlte, wie sein Herz raste und auch sein Atem ging schneller als gewöhnlich. Sein Kreislauf bedankte sich für den Streß bei ihm mit einem fröhlichen Drehgefühl, das in ihm eine fast kindische Freude darüber auslöste, daß er sich heute ausnahmsweise gegen Severus durchgesetzt und nichts zu Abend gegessen hatte.
Harry legte die Stirn in Falten und starrte besorgt an die Decke seines Zimmers, die grau in der nicht ganz vollkommenen Dunkelheit schimmerte.
Er hatte es mit Severus verbockt. Noch immer verstand er nicht ganz, was da eigentlich vor wenigen Stunden genau passiert war, aber mußte etwas gesagt haben, was Severus sehr wütend gemacht hatte. Wütend genug, nicht länger mit ihm in einem Raum sein zu wollen.
Severus konnte doch nicht wirklich annehmen, daß er auch mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte? Wie kam sein Lehrer nur darauf? Die Idee war doch idiotisch. Er war ihm dankbar, mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. Und wenn man ihm die Wahl lassen würde, dann würde er mit Sicherheit bei Severus bleiben wollen, so lange es möglich war. Und dennoch hieß das doch noch lange nicht, daß er deshalb wieder in sein altes Leben zurückkehren mußte.
Harry Potter, der Harry von damals, war tot und lag begraben auf dem Friedhof von Hogwarts. Der neue Harry hatte andere Ziele.
War das wirklich so ungewöhnlich?
Severus war gerade in sein Schlafzimmer zurück gekehrt, als er hörte, wie Harry schreiend in seinem Schlaf auffuhr. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, zu ihm zu gehen, doch er verwarf ihn rasch wieder.
Wahrscheinlich wollte Harry ihn im Moment nicht sehen, so dumm wie er sich benommen hatte.
Müde streifte er seine Robe ab und hängte sie zurück auf den Kleiderständer in der Ecke seines Schlafzimmers. Sein kurzer Rundgang durch die Kerker hatte ihn wirklich ein wenig müde gemacht und er freute sich sogar fast, wieder in sein Bett schlüpfen zu können. Andererseits war die Müdigkeit aber auch nie das Problem gewesen. Es blieb abzuwarten, ob er jetzt auch endlich schlafen konnte.
Unter der dicken Decke war das Bett sogar noch warm und schirmte ihn so gegen die empfindliche Kälte ab, die zu dieser Jahreszeit recht schnell in die Kerker kroch, sobald die Feuer niedergebrannt waren. Mit einem Seufzen verschränkte er die Arme hinter seinem Kopf und starrte an die Decke.
Bis morgen hatte sich die Sache sicher wieder eingerenkt. Notfalls würde er versuchen, dieses ganze Gespräch einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Bisher hatte Harry sich darauf eigentlich immer ganz gut eingelassen. Ja, so würde er es machen.
Gerade in dem Moment, in dem er sich auf die Seite rollen und einen neuen Versuch wagen wollte, einzuschlafen, klopfte es leise an seine Tür. Sofort saß er aufrecht im Bett und blickte erstaunt auf die Tür, die sich nun langsam öffnete. Harry?
„Professor?" drang die Stimme des jungen Mannes sehr leise und schüchtern durch die Dunkelheit.
„Warum schläfst du nicht, Harry?" fragte Severus zurück und versuchte, dabei möglichst sanft und nicht überrascht zu klingen, was nicht gerade eine der einfachsten Aufgaben war.
„Alpträume. – Darf... darf ich reinkommen."
„Natürlich. – Lumos." Das Schlafzimmer wurde in ein sanftes Dämmerlicht getaucht, gerade hell genug, daß man angenehm sehen konnte, aber nicht geblendet wurde nach all der Dunkelheit.
Harry stand noch immer im Türrahmen und hielt sich ein wenig verkrampft am Türknauf fest. In dem grün und rot karierten Pyjama sah er noch jünger aus, als er eigentlich war. Und er hatte wie immer keine Hausschuhe an, wie Severus mit ein wenig Sorge bemerkte.
„Komm her, bevor du dich erkältest", sagte er und klopfte auf die Matratze, um ihm anzudeuten, daß er sich setzen sollte. Harry kam dieser Aufforderung nervös nach.
„Es tut mir leid, daß ich Sie störe, ich weiß, daß Sie morgen unterrichten müssen und ich sollte Sie schlafen lassen, aber... aber..."
„Was, Harry? Sag es ruhig." Harry blickte einen Moment unter sich. Manchmal war Severus ein absolutes Mysterium. Er hätte schwören können, daß er eben noch furchtbar wütend auf ihn gewesen war und jetzt war da wieder dieser sanfte, warme Ton, den er so gerne von dem Älteren hörte. Diese Stimme wie warmer Honig, die ihm immer das Gefühl gab, daß alles gut war und nichts mehr passieren konnte, was ihm schaden würde. Die ihm das Gefühl gab, daß er dem anderen etwas bedeutete.
„Sir, darf... darf..." Harry kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, während er sich innerlich einen Trottel schimpfte. Warum stellte er sich an, wie ein Kleinkind? Er wollte schließlich um nichts bitten, was sie nicht schon längst getan hatten. „Darf ich bei Ihnen bleiben?" Severus hob fragend eine Augenbraue.
„Bei Ihnen schlafen, meine ich", setzte Harry nach und wurde im selben Moment feuerrot. Die Augen des Zaubertrankmeisters weiteten sich bei dieser Bitte ein wenig vor Überraschung und einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen in dem Raum.
Harry, der bereits mit Ablehnung gerechnet hatte, sprang förmlich vom Bett auf und war nicht in der Lage, dem älteren Zauberer ins Gesicht zu sehen. Was dieser jetzt wohl von ihm dachte? Wahrscheinlich konnte er froh sein, daß Severus zu viel Anstand besaß, um ihn einfach auszulachen.
Severus brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, worum Harry gebeten hatte, doch als der jüngere Zauberer von seinem Bett aufsprang, als habe er sich daran verbrannt, schaltete er fast sofort.
„Es tut mir leid, Sir. Ich werde..."
„Wenn du das möchtest, Harry, dann kannst du das gerne tun", unterbrach Severus ihn sanft, schlug die Decke zurück und rutschte ein Stück weiter an das andere Ende des Bettes heran, um Harry die bereits warme Hälfte zu überlassen. Jetzt zeichnete die Überraschung und Verblüffung sich im Gesicht des Jüngeren ab, doch er schaltete fast genau so schnell wie Severus zuvor und kroch unter die Decke, in die angebotene Wärme.
„Nox", murmelte Severus und das Dämmerlicht erlosch.
Minuten vergingen, in denen keiner von beiden einen Ton von sich gab oder sich bewegte. Selbst das Atmen hätten sie sich verkniffen, wenn das möglich gewesen wäre. Schließlich war es Harry, der all seinen Mut zusammen nahm und das Schweigen brach.
„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht verletzten, Professor. Es ist nur... daß ich nicht mehr so leben will wie andere Zauberer, heißt doch nicht, daß ich überhaupt nichts mehr mit meinesgleichen zu tun haben möchte. Sie werden immer ein wichtiger Teil meines Lebens sein.
Ich möchte, daß Sie verstehen, warum das so wichtig für mich ist mit dem Schulabschluß. Und ich möchte, daß Sie mir glauben, wenn ich sage, daß ich trenne zwischen dem Leben als Zauberer und Ihnen.
Glauben Sie mir?" Severus drehte den Kopf ein wenig und versuchte, Harrys Umrisse in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Aber vielleicht war es auch ganz gut, daß sie sich in diesem Moment nicht sehen konnten. Es kam ihm so vor, als würde die Dunkelheit es ihm leichter machen, mit Harry zu reden.
„Natürlich glaube ich dir, Harry. Es war nicht richtig von mir, das überhaupt anzunehmen." Harry nickte. Zwar konnte Severus die Bewegung nicht sehen, aber er hörte, wie Harry den Kopf bewegte und deutete den Klang als Nicken.
„Ich habe mir damals wohl alles zu einfach vorgestellt. Aber eigentlich ist alles von Anfang an schief gegangen. Und immer wieder hieß es nur: Es tut uns leid, Mister Potter, aber wir suchen jemanden mit anderen Qualifikationen.
Du kommst dir plötzlich so dumm und zweitklassig vor und mit einem Mal wird dir bewußt, was du eigentlich Jahre zuvor getan hast, als du dich entschieden hast, auf eine Schule wie Hogwarts zu gehen.
Du hast dir selbst den Weg zurück verbaut.
Die meisten Zauberer werden denken, daß da nichts dabei ist. Welcher Zauberer ist schon so verrückt und wirft sein Leben als Zauberer weg, damit er wieder als Muggel unter Muggeln leben kann? Aber ich wollte es. Ich wollte es mehr als alles andere.
Mein Leben als Harry Potter, der Zauberer, hat mich erstickt. Ich wollte es nicht mehr. Ich hatte meine Pflicht erfüllt und wollte mir endlich meinen Wunsch erfüllen. Ich wollte normal sein. Aber in der magischen Welt kann ich das nicht. Ich werde es hier nie können. Sobald die Nachricht bekannt wird, daß ich wieder aufgetaucht bin, wird alles von vorne losgehen. Davor habe ich Angst." Jede Müdigkeit, die Severus bis vor wenigen Minuten noch empfunden hatte, war mit einem Mal verschwunden. Er konnte es gar nicht fassen, daß Harry wirklich endlich zu reden angefangen hatte. Zum ersten Mal, ohne daß er nachfragen mußte.
„Wissen Sie, was mein erster Job war?"
„Sag es mir."
„Nachdem ich zwei Wochen lang überall abgewiesen wurde, fand ich schließlich einen Job in einer dieser Absteigen, die es in London gibt. Eine Kneipe, die hauptsächlich von zwielichtigen Gestalten besucht wurde, mit ebenso zwielichtigen Absichten.
Aber ich hatte keine Wahl mehr. Ich hatte kein Geld, hatte schon zwei Wochen mehr oder weniger auf der Straße gelebt." Harry stockte ein wenig. Es fiel ihm merklich schwer, über diese Sache zu reden. „Ich sehnte mich nach einem Bett, nach einem richtigen Essen, vielleicht auch einfach nur danach, mal wieder zu duschen.
Den Besitzer dieser Kneipe nannte jeder nur J. Ich habe nie erfahren, für was dieses J stand, aber vielleicht ist das auch besser so. Ich habe schnell gelernt, daß man nicht immer alles wissen muß und es manchmal sogar besser ist, sich vollkommen dumm zu stellen." Severus lächelte in die Dunkelheit hinein. Oh ja, das lernten sie alle früher oder später einmal, wenn ihnen nicht das Glück vergönnt war, von nichts und niemandem beachtet zu werden.
„J gab mir ein Zimmer über der Kneipe, in dem ich wohnen und schlafen konnte. Er stellte keine Fragen und ich war dankbar dafür. Jetzt hatte ich mein Bett, meine regelmäßigen Mahlzeiten, meine Dusche. Und gleichzeitig mit diesem Erfolg wuchs auch meine Hoffnung darauf, daß ich vielleicht doch noch etwas Besseres finden konnte. Ich mußte nur geduldig bleiben und durch den Job, so mies er auch war, hatte ich immerhin Zeit gewonnen. Das erschien mir damals unendlich viel wert." Severus hörte das leise Rascheln der Decke und glaubte, eine Bewegung neben sich erkennen zu können. Harrys Arm?
Harry fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er hatte noch nie darüber gesprochen. Nicht einmal Adrian wußte genau, was damals passiert war. Sein Selbstschutz riet ihm, diese Geschichte nicht preis zu geben, während seine innere Stimme ihm immer wieder sagte, daß er hier schließlich mit Severus redete und er Severus alles sagen konnte. Severus war einer der wenigen Menschen, vor denen er sich nicht verstecken mußte.
Harry seufzte kaum hörbar. Warum war Reden nur immer so schwer? Warum erschien es in der Theorie immer so einfach und wenn man dann wirklich zum Punkt kommen wollte, bauten sich plötzlich riesige Mauern vor einem auf.
„Du hast dich aber geirrt?" fragte Severus schließlich, nachdem Harry auch nach guten drei Minuten nicht weiter gesprochen hatte. Severus ahnte, daß es Harry immer mehr Überwindung kostete, weiter zu sprechen, aber er wollte ihm an diesem Punkt einfach keinen Rückzug mehr erlauben.
„Sehr. Ich hatte fast jeden Tag irgendwo irgendein Vorstellungsgespräch. Da ich von abends bis spät in die Nacht arbeitete, war das kein Problem. Doch auch mit jeder Woche, die verging, tat sich einfach keine Möglichkeit auf. Immer wieder die selbe Antwort, die gleichen Blicke. Es war so verdammt frustrierend.
Ich konnte mir meine anfängliche Euphorie nicht lange bewahren und ziemlich schnell mußte ich mich jeden Abend regelrecht überwinden, überhaupt aus meinem Zimmer zu kommen. Die Arbeit in Js Dreckloch von einer Kneipe war alles andere als angenehm, aber je mehr meine Frustration wuchs, desto mehr wandelte sich das Unangenehme ins Unerträgliche." Harry fühlte, wie seine Hände wieder stärker zu zittern begannen. In den letzten Tagen hatte er es fast vollständig unter Kontrolle bekommen, doch die Aufregung, die er jetzt empfand, ließ seine Beherrschung dahinschmelzen wie Wachs.
Es war ja so lächerlich. Nein, lächerlich war es nicht. Tragisch, kein anderes Wort beschrieb es besser. Tragische Dummheit, tragische Hilflosigkeit.
Er atmete tief durch.
„Und eines Abends eskalierte die Sache. Es war schon spät, kurz vor der Sperrstunde und ich hatte den Tag eigentlich schon innerlich abgehakt, war in Gedanken schon so gut wie im Bett und hoffte trotz aller Hoffnungslosigkeit auf den nächsten Tag, das nächste Bewerbungsgespräch.
Ich bemerkte nicht einmal, daß mir einer der Gäste nach draußen folgte, als ich den Müll raus brachte. Er war an diesem Abend das erste Mal dagewesen, aber recht unauffällig geblieben, im Gegensatz zu so manch anderem.
Vermutlich hätte ich mich an den Spruch von den stillen Wassern erinnern sollen.
Alles ging ziemlich schnell. Ich erinnere mich eigentlich nur noch daran, daß ich den Müllsack gerade verstaut hatte und plötzlich dieser Kerl auf mir hing. Ich weiß nicht einmal mehr, was er sagte, fühlte nur, wie er mich betatschte.
Ich bin ausgerastet und hab zugeschlagen. Ein reiner Reflex, aber wohl einer von der gesünderen Sorte.
Und eine halbe Stunde später war ich meinen ersten Job los." Severus stutzte, als Harry das sagte.
„Aber warum?" Harry lachte bitter und verkroch sich ein wenig tiefer unter die Decke.
„Weil J der Meinung war, daß ich kein Recht hätte, einen Gast zu schlagen."
„Aber der Gast hat ein Recht, dich anzutatschen?" Severus fühlte die Wut in sich hochsteigen, obwohl es ihn doch eigentlich nicht überraschen sollte. Kannte er solche Kneipen durch seine Arbeit als Spion nicht zu Genüge?
„Scheinbar. – Auf jeden Fall teilte J mir mit, daß seine Angestellten das zu machen haben, was er ihnen sagt und daß er sagte, der Gast bekam alles, was er wollte.
Kann sein, daß ich da noch etwas zu überheblich war, aber ich war der Meinung, daß ich selbst zu entscheiden hatte, was ich tat und was nicht. Also war ich arbeitslos."
„Harry! Das hat doch nichts mit Überheblichkeit zu tun." Harry konnte das ehrliche Entsetzen in Severus' Stimme hören. Es war nur eine ganz feine Nuance unter der kalten Seidigkeit, aber inzwischen hörte er sie heraus, ohne sich wirklich anstrengen zu müssen. Und irgendwie wärmte es ihm das Herz, daß Severus so empfand. Mal abgesehen von Adrian hatte ihn schon lange keiner mehr als einen wertvollen Menschen gesehen.
„Ich habe danach wieder angefangen, mich zu verletzen", sagte er leise und war froh, daß er in diesem Moment nicht Severus' Gesicht sehen konnte. Er konnte sich die Enttäuschung des Älteren auch so lebhaft vorstellen.
„Vorher nicht?"
„Nein. Ich wollte oft, aber ich hab mich gezwungen, es nicht zu tun. – In dieser Nacht ging es nicht länger. Ich... ich war sogar einen Moment lang versucht, einfach ein wenig tiefer zu schneiden. Es war nur ein Moment, aber es war das erste Mal, daß ich wirklich so empfunden habe."
„Ich bin froh, daß du es nicht getan hast." Harrys Augen weiteten sich und er spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, um im nächsten Moment um so schneller zu werden.
„Warum?" seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ist dir das denn immer noch nicht klar? Das letzte, was ich will, ist dein Tod, Harry. Warum ist das so unvorstellbar für dich?" Wieder herrschte Schweigen in dem Raum. Nervös bewegte Harry sich unter der Decke. Severus hörte, wie er Luft holte, wie um etwas zu sagen, dann aber doch stumm blieb. Und schließlich drang ein sehr leises, unterdrücktes Schluchzen von Harrys Seite des Bettes herüber.
„Harry?" fragte Severus vorsichtig, unschlüssig, was er tun sollte. Weinte Harry?
„Weil... weil ich nicht... glauben kann, daß ich nicht vollkommen egal bin. Ich kann nicht glauben, daß es jemanden gibt, der... der mich nicht nur verachtet für das, was... ich bin. Ich bin wertlos, Severus! So absolut wertlos." Noch bevor Severus überhaupt wußte, was er eigentlich tat oder er sich selbst davon abhalten konnte, zog er den weinenden Harry ihn seine Arme.
Die Hände des jungen Mannes verkrallten sich sofort im Stoff seines grauen Nachthemdes und es dauerte nicht lange, bis die Tränen durch das Hemd an seine Haut drangen.
Severus schloß die Augen, versuchte, seine rasenden Gedanken und sein noch schneller rasendes Herz zu beruhigen. Dies war kein Moment, in Emotionalität zu verfallen. Er mußte ruhig bleiben. Harry brauchte ihn jetzt.
Bei Merlin, das war alles zu viel! Wie sollte gerade er das schaffen?
Severus fühlte die Panik in sich aufsteigen, aber die konnte er noch weniger gebrauchen, als jeden anderen emotionalen Ausbruch, den er sich nur irgendwie vorstellen konnte. Mühsam kämpfte er gegen die Panik an, drängte sie in ihre dunkle Ecke zurück, während Harry sich scheinbar nicht mehr beruhigen konnte.
Vielleicht war das ja notwendig, versuchte Severus sich selbst ein wenig zu beruhigen. Vielleicht mußte er das alles rauslassen. Wer wußte schon, wie lange sich bereits alles in ihm aufstaute. Drogen waren in der Lage, das alles zu unterdrücken und vielleicht brach es jetzt alles über ihm zusammen, wo ihm diese Unterstützung entzogen wurde.
Severus schloß seine Arme noch ein wenig fester um Harry, ließ ihn weinen, wartete ab.
Und während Harry sich in seinen Armen langsam in die absolute Erschöpfung und schließlich in den Schlaf weinte, ging Severus immer wieder der eine Gedanke durch den Kopf, der ihn beschäftigte, seit Harry davon gesprochen hatte.
Hätten sie doch nur niemals dieses verfluchte Grabmal aufgestellt. Dann wäre so vieles nicht passiert.
Severus schlief schlecht in dieser Nacht. Aus Angst, Harry durch eine unbedachte Bewegung zu wecken, hielt er ihn die ganze Nacht im Arm. Und die gleiche Angst hielt ihn auch davon ab, wirklich fest einzuschlafen.
So wachte er mehr oder weniger den größten Teil der Nacht über Harry und hatte das Gefühl, daß dieser zum ersten Mal seit Tagen überhaupt wieder ruhig schlief, scheinbar nicht einmal träumte.
Draußen dämmerte es erst ganz leicht, als Severus schließlich doch aufstehen mußte. Sein Schlafzimmer war in ein karges Zwielicht getaucht, das ihm gerade ausreichte, sich zurecht zu finden, ohne Licht machen zu müssen.
Doch nur wenige Minuten, nachdem er das Bett verlassen hatte, kam auch wieder Bewegung in Harry. Die fehlende Wärme an seiner Seite drang langsam in das Bewußtsein des jungen Zauberers und er wachte auf, langsam, aber stetig.
Gähnend richtete er sich in dem großen Bett des Zaubertranklehrers auf und streckte sich verhalten. Er konnte Severus im Badezimmer hören. Ob es wohl besser war, in sein Zimmer zurück zu kehren, bevor der andere aus dem Bad kam?
Er konnte sich noch gut erinnern, was in der Nacht passiert war und es war ihm unangenehm. Er konnte nicht einmal genau sagen, warum es ihm unangenehm war, aber es war so. Er hatte doch einfach nur einen Schritt auf Severus zumachen wollen. Er wußte, daß der Ältere wissen wollte, was passiert war. Und er hatte nur erzählen wollen.
Im Leben hatte er sich nicht vorgestellt, daß er einen solchen Zusammenbruch haben könnte. Er hatte geweint wie ein Kind, sich an Severus festgeklammert. Was dieser jetzt wohl von ihm dachte?
„Guten Morgen, Harry. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt." Harry fuhr erschrocken zusammen. Wie in Zeitlupe wandte er sein Gesicht in Richtung Tür und sah Severus mit großen Augen an. Dieser legte den Kopf ein wenig schief und sah aus, als wartete er auf etwas.
„Nein... nein, ich bin einfach nur aufgewacht. Mich hat nichts geweckt", antwortete er schließlich, als es in seinem Kopf klick machte.
„Gut. Du solltest noch ein wenig schlafen. Deine Augen sind noch ganz geschwollen." Verschämt blickte Harry auf seine Hände, die nervös an der Bettdecke herumfummelten.
„Tut mir leid. Ich habe Sie doch vom Schlafen abgehalten", murmelte er. Er fühlte sich noch immer bleischwer vor Müdigkeit, aber Severus ging es da sicher nicht anders.
„Ist schon in Ordnung, Harry. Es macht mir nichts, ein paar Stunden weniger zu schlafen. Mach dir keine Sorgen." Er setzte sich zu Harry aufs Bett, blickte kurz ein wenig unschlüssig auf seine Hand und hob sie schließlich, um Harry damit durch die Haare zu fahren.
Harry zuckte nicht zurück, starrte Severus einfach nur überrascht an und lehnte sich schließlich ein wenig in Severus' vorsichtiges Streicheln.
„Außerdem können wir morgen ausschlafen", setzte Severus nach.
„Heute ist Freitag?" fragte Harry überflüssiger Weise nach, doch statt einer entsprechenden Bemerkung nickte Severus einfach nur.
„Freitag. Herrlicher Tag. Kein Nachmittagsunterricht. Manchmal wünschte ich, jeder Tag wäre ein Freitag." Er schenkte Harry ein leichtes Lächeln, das dieser erwiderte. In seine rotumrandeten Augen trat ein Strahlen, das Severus sehr zufrieden bemerkte.
„Bis heute mittag, Harry. Wenn du dich danach fühlst, werden wir zusammen zu Mittag essen, einverstanden?" Harry nickte und als Severus nach seiner Robe griff und auf die Tür zuging, sank Harry in die Kissen zurück und schloß müde die Augen.
Wenig später war er eingeschlafen, von Severus' Geruch, der in den Kissen und Laken hing, beruhigt und irgendwie in den Schlaf gewiegt.
Es wurde zur Routine, so sehr es wohl beide Zauberer in der ersten Nacht überrascht hatte. Obwohl Harry sich in den ersten beiden Tagen noch verbissen davon abhalten wollte, gab er in der dritten schließlich auf.
Ein Alptraum jagte den anderen und das war nur noch schlimmer geworden, seit er diese erste Nacht bei Severus verbracht hatte. Und auch wenn Severus es wohl niemals freiwillig zugegeben hätte, war auch er froh, als in der Nacht auf den Montag seine Schlafzimmertür sich öffnete und Harry vorsichtig hereingetappt kam.
„Kannst du wieder nicht schlafen?" war das einzige, was Severus gefragt hatte und Harry war ohne große Worte, nur mit einem knappen Nein auf den Lippen zu ihm ins Bett gekrochen.
Nur Arm in Arm geschlafen hatten sie seit jener ersten Nacht nicht mehr. Wenn Severus den Eindruck hatte, daß Harry es brauchte, dann gab es vorsichtige Berührungen zwischen ihnen beiden. Streicheleinheiten für Harry, der sie jedesmal dankbar entgegen nahm, jedoch nie erwiderte, was Severus allerdings nicht weiter verwunderte. Er war sich sicher, daß er an Harrys Stelle auch nicht gewußt hätte, ob und wie er das tun sollte.
Und dennoch. Obwohl es inzwischen zu einer Routine geworden war, fühlte es sich in dieser Nacht doch anders an. Severus fühlte es wie das Aufziehen eines Unwetters und wußte es doch nicht einzuordnen, denn eigentlich war alles wie immer.
„Professor, darf ich Sie auch einmal etwas fragen?" Severus wandte Harry sein Gesicht zu, auch wenn dieser es nicht sehen konnte. Daß Harry Fragen stellte, war wirklich sehr selten geworden. Normalerweise war er es, der in der Dunkelheit das aussprach, was er am Tage nicht heraus bekam und Severus war derjenige, der mit seinen Fragen nachhalf.
„Versuch es", forderte Severus den Jüngeren auf.
„Ich habe mich nur gefragt... ich meine, ich bin doch jetzt schon länger hier oder?"
„Bald vier Wochen."
„So lange schon", murmelte Harry scheinbar wirklich verwundert. „Mir ist nur aufgefallen, daß Sie in all der Zeit eigentlich immer bei mir waren, wenn kein Unterricht war. Fällt es denn nicht auf, wenn Sie plötzlich bei fast allen Mahlzeiten fehlen?" Severus zog in der Dunkelheit die Augenbrauen zusammen. Darüber wollte Harry sprechen? Aber warum?
„Wie kommst du darauf, daß es auffallen müßte?"
„Weil ich mich noch gut daran erinnern kann, wie viel Wert Sie immer darauf gelegt haben, bei den Mahlzeiten in der Großen Halle zu sein. Mehr als die anderen Hauslehrer noch.
Ich habe früher immer gedacht, daß es für Sie so wichtig wäre, weil Sie uns auch während dem Essen auf diese Weise richtig Angst machen konnten, aber später wurde mir dann klar, daß es als Stütze für die Slytherins gedacht war.
Sie hatten keinen besonders leichten Stand und durch Leute wie Malfoy und seine Stiefellecker wurde das nur immer noch weiter verstärkt, statt sich zu bessern. Aber Ihr Hauslehrer, der war immer da, war immer stolz, Haupt dieses Hauses zu sein und das hat denjenigen unter den Slytherins, die alles andere als vom Kaliber Malfoy waren, Mut gemacht, nicht wahr?" Severus lächelte verblüfft über Harrys Worte in die Dunkelheit hinein.
„Du hättest dich früher schon öfter so klarsichtig zeigen sollen."
„Um ehrlich zu sein, glaube ich schon, daß ich das recht früh erkannt hab. – Ich habe nur nicht wirklich die Lust gehabt, an diesem alten Haß etwas zu ändern.
Er war schon immer da, warum also durch mich ein Ende bringen?" Harry lachte auf. „Außerdem hätten mich doch sowieso alle nur für verrückt gehalten, meinen Sie nicht?" Auch Severus erlaubte sich ein kleines Lachen, das Harry neben ihm vollkommen überrascht und mit einem merkwürdigen Kribbeln im Bauch, erstarren ließ.
„Das hast du wohl recht." Harry schluckte und widerstand dem Drang, sich aus Verlegenheit zu räuspern. Sein Herz pochte wild gegen seine Rippen und machte Anstalten, seinen Brustkorb zu sprengen. Und das alles nur, weil er es geschafft hatte, daß der andere lachte? Aber was hieß hier nur. Vermutlich war es eine Ewigkeit her, daß das mal jemand fertig gebracht hatte. Harry leckte sich über die trockenen Lippen.
„Also?" fragte er herausfordernd, um wieder auf das ursprüngliche Thema zurück zu kommen.
„Also was?" fragte Severus zurück. Harry seufzte. Wenn das jetzt nicht absolut typisch war.
„Es ist also noch nicht aufgefallen, obwohl Sie bereits seit Wochen bei fast jeder Mahlzeit in der Großen Halle fehlen?" Severus schwieg einen Moment, unschlüssig, warum er die Frage nicht beantworten wollte.
„Nein", entgegnete er schließlich zögerlich und sofort stieg das Gefühl in ihm auf, daß er einen Fehler gemacht, besser geschwiegen hätte.
„Warum nicht?" setzte Harry sofort nach.
„Warum ist das so interessant?"
„Warum sagen Sie es mir nicht einfach?"
„Weil ich schon länger nicht mehr an allen Mahlzeiten teilnehme", preßte Severus schließlich hervor und wußte, daß Harry jetzt auch nach einer Erklärung fragen würde. Für den Jüngeren mochte es im Moment einfach nur eine harmlose Frage sein, aber für Severus...
„Und seit wann genau?" fragte Harry, obwohl auch er die Spannung, die sich über sie gelegt hatte, immer deutlicher fühlen konnte. Warum waren die Fragen für Severus so unangenehm? Er deckte hier doch schließlich kein großartiges, düsteres Geheimnis auf oder?
„Seit einiger Zeit schon."
„Warum weichen Sie mir aus?"
„Verdammt, wenn du es unbedingt so genau wissen mußt, seit vier Jahren etwa!" fauchte Severus und drehte sich im selben Moment auf die Seite, mit dem Rücken zu Harry. Verwirrt registrierte Harry den Ton und die Bewegung, die Severus machte und legte die Stirn in Falten. Der Ältere hatte ihm noch nie den Rücken zugedreht. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
Seit vier Jahren schon. Wegen ihm? War es das, was Severus hatte verheimlichen wollen? Das konnte nicht sein. Warum sollte in Severus so eine Veränderung wegen ihm eingetreten sein? Sicher war es nur ein Zufall, da mußte es ein anderes Ereignis gegeben haben, irgendeinen Grund, der das wirklich rechtfertigte.
Doch die Stimme in seinem Kopf ließ nicht locker und rief ihm immer wieder zu, daß er sich nichts einreden sollte, daß es wirklich an ihm und seinem Verschwinden gelegen hatte, daß Severus sich noch mehr zurück gezogen hatte, als es vorher der Fall war.
Warum das so gewesen sein sollte, konnte aber auch die Stimme ihm nicht erklären, also ignorierte Harry sie. Das konnte schlichtweg nicht sein. Aus.
Als Severus am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich so schlecht gelaunt, wie schon lange nicht mehr. Das Gespräch der letzten Nacht – so harmlos es auch gewesen war – es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und er ärgerte sich zutiefst, daß er nicht einfach irgendeine Zeitspanne und vielleicht noch einen guten Grund erfunden hatte. Warum hatte er die Wahrheit gesagt? Schon in dem Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, hätte er sich dafür am liebsten geohrfeigt, aber da war es schon zu spät gewesen.
Was war, wenn Harry eins und eins zusammen zählte? Was, wenn er erkannte, daß alles erst nach seinem Verschwinden angefangen hatte? Dann würde doch genau das eintreten, was Severus nicht wollte. Harry würde glauben, mal wieder Schuld zu sein. In diesem Fall wohl eine vergleichsweise geringe Schuld, aber das war seine Denkweise. Wie würde Harry es sehen?
Es war einfach zum Verzweifeln. Warum war sein Mund nur manchmal – meist in den unpassendsten Augenblicken – so viel schneller als sein Kopf? Er hatte diese Schwäche noch nie gehabt, doch bei Harry trat sie dauernd auf. Damals schon, jetzt wieder. Das war doch nicht mehr normal. Er hatte Jahre als Spion unter Voldemorts Augen überlebt, aber bei Harry versagte das alles? Unmöglich!
Severus war schon fort, als das wenige Licht, das durch das Kerkerfenster fiel, Harry langsam aus seinem Schlaf weckte. Müde und mit leichten Kopfschmerzen richtete er sich auf und streckte sich ausgiebig.
Suchend blickte er sich im Zimmer um, doch von Severus war nirgendwo etwas zu sehen, auch im Badezimmer war es still. Harry runzelte die Stirn. War der Zaubertranklehrer etwa schon gegangen? Normalerweise ging er doch nie früher als nötig und ein Blick auf die Uhr verriet Harry, daß es noch viel zu früh war, um schon beim Frühstück oder gar Unterricht sein zu müssen.
Mit einem Seufzen ließ er sich in die Kissen zurück sinken und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
War es wegen ihrem Gespräch letzte Nacht? Noch immer blickte Harry nicht wirklich durch, was der Grund für Severus' Unbehagen gewesen sein konnte. Und noch immer hielt er seinen Verdacht aus der vergangenen Nacht für absurd.
„Sie alle dürfen sich heute sehr glücklich schätzen," kündigte Severus seiner Klasse an, als er wie üblich ohne jede Begrüßung in seinen Klassensaal gerauscht kam und mit einer schwungvollen Drehung vor dem Pult zum Stehen kam.
Zwölf ängstliche, aber auch gespannte Augenpaare blickten ihn an und warteten darauf, daß er weiter sprach. Normalerweise unterrichtete Severus gerade diese Klasse sehr gerne. Es waren die besten der besten aus dem aktuellen sechsten Jahr, nur Schüler mit herausragenden Noten in seinem Fach, die man auch einmal vor eine größere Herausforderung stellen konnte, ohne befürchten zu müssen, in die Luft gesprengt zu werden.
Doch heute fühlte er nichts weiter als seine schlechte Laune und ein dumpfes Gefühl, daß heute noch etwas ganz furchtbar schief gehen würde. Argwöhnisch beäugte er jeden einzelnen seiner Schüler, bevor er endlich weiter sprach.
„Wir werden heute das Thema der Schutzzauber zu einem Ende führen. Zu diesem Zweck werden Sie einen Trank herstellen, der sowohl äußerst knifflig als auch gefährlich in der Herstellung ist." Mit einem Wink seines Zauberstabs erhob sich ein Stück Kreide in die Luft und schrieb die Zutaten und nötigen Anweisungen an die Tafel neben dem Lehrerpult.
„Ich erwarte, daß jeder einzelne von Ihnen in der Lage ist, diesen Trank herzustellen. Keine Gruppenarbeit. Äußerste Sorgfalt ist gefragt, der kleinste Fehler kann dramatische Folgen haben. – Fangen Sie an." Sofort brach eine eilige, aber auch aufgeregte Geschäftigkeit über seine Klasse herein und Severus nahm für einige Minuten hinter seinem Pult Platz, bis die Schüler sich ihre Zutaten geholt hatten und mit den nötigen Vorbereitungen begannen.
Während die Schüler arbeiteten, war im Raum nichts weiter zu hören als die Geräusche von Samen, die in einem Mörser fein gerieben wurden, oder Wurzeln, die in feine Stücke geschnitten wurden. Im Gegensatz zu sonst beruhigte es Severus allerdings nicht. Rastlos stand er schließlich auf und wanderte durch die Reihen der Schüler, baute sich hinter jedem einzelnen auf, blickte ihm über die Schulter, ging kommentarlos weiter.
Seine Schüler kannten das. Bis auf das absolute Schweigen. Normalerweise gab er Tips, bemängelte und lobte sogar ganz selten einmal. Heute schwieg er. Und nicht gerade wenige von ihnen schien das sehr nervös zu machen.
Gut die Hälfte der Doppelstunde war ohne Zwischenfälle vergangen, als eine der Schülerinnen plötzlich einen überraschten Schrei losließ. Blitzartig drehte Severus sich um und sah gerade noch, wie einer seiner Schüler aus Ravenclaw sich an den Kopf faßte, schwankte und schließlich neben seinem Tisch zusammen brach.
Mit zwei großen Schritten war Severus bei dem Schüler. Dieser hatte bei seinem Sturz noch ein Messer in der Hand gehabt und sich unglücklich in den Arm geschnitten. Die Wunde an sich war nicht nennenswert, doch trotzdem konnte sie lebensgefährlich werden.
„Sie!" bellte Severus zwei Gryffindors an. „Holen Sie Madam Pomfrey her! Auf der Stelle!" Die verschreckten Jungs stürzten sofort los. Vorsichtig nahm Severus dem ohnmächtigen Jungen das Messer aus der Hand und warf einen Blick auf den Tisch, um zu sehen, was er gerade damit geschnitten hatte, bevor er zusammen gebrochen war. Die tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn wurde zu einem wahren Krater. Das Blutkraut, was auch sonst? Severus seufzte kaum hörbar und wandte seinen Blick nervös zur Tür.
Er wußte nicht, wie das hatte passieren können. Seine Schüler wußten, daß sie in diesem Kurs mit teilweise hochgiftigen Pflanzen und Substanzen arbeiteten. Keiner von ihnen war leichtsinnig. Was war hier schief gegangen?
Keine zwei Minuten später kam Madam Pomfrey durch den Kamin im Nebenraum und eilte ebenfalls an die Seite des ohnmächtigen Schülers.
„Was ist passiert?" fragte sie knapp, mit konzentriert verengten Augen, als sie den Schüler untersuchte.
„Er ist gestürzt, ich weiß nicht warum. Er hat sich beim Sturz geschnitten, mit dem Messer, mit dem er gerade die Blutkrautwurzeln zerkleinert hat." Ihre Blicke trafen sich und Severus konnte sehen, daß auch Madam Pomfrey diese Nachricht besorgte.
„Also eine starke Vergiftung. – Aber wie hat es überhaupt zu dem Sturz kommen können?" fragte sie weiter, während sie einige Tränke aus der Tasche holte, die sich mitgebracht hatte und sie dem bewußtlosen Schüler vorsichtig einflößte.
„Ich weiß es nicht."
„Sir", meldete sich die Schülerin, die am Nachbartisch gearbeitet hatte, vorsichtig zu Wort. Der Blick, den Severus ihr zuwarf, ließ sie augenblicklich erbleichen.
„Ja?" fragte er äußerst barsch zurück.
„Er sagte vorhin, daß ihm schwindlig sei und ein paar Minuten später ist er einfach umgekippt, Sir." Sofort schoß Severus' Blick zurück in Richtung des Tisches, um sich einen Überblick zu schaffen, was der Schüler schon alles für seinen Tank vorbereitet hatte. Der Schwarze Nachtschatten lag noch unberührt auf dem Tisch, ebenso die Federn des Augrey, die Stacheln des Billywig, die Haut des Erupment und die Opalaugenschuppen.
Wermut, Alant und die Wurzeln des Himmelsschlüssels waren ungefährlich. Die Zähne der Beißfee standen fertig gemahlen neben Bittersüßbeeren und gehackten Blautodwurzeln. Und dann sah Severus, was er vermutet hatte. Die einzige Zutat des Tranks, die als Vergiftungserscheinung Schwindel hervorrief, die Mondskrautsamen, standen fein gemahlen bereit zur Weiterverarbeitung.
„Was ist, Severus?" fragte Madam Pomfrey, die beobachtet hatte, wie Severus sorgfältig den Tisch absuchte.
„Ich weiß noch nicht", wiegelte er abwesend ab und griff nach den Händen des Schülers, die in den vorgeschriebenen Drachenhauthandschuhen steckten. Es war im Prinzip unmöglich, daß der Junge eine Mondkrautvergiftung haben konnte, aber andererseits machte es Sinn.
„Mondkraut", flüsterte Severus gepreßt, als er fand, was er vermutet hatte. Ein nicht zu übersehendes Loch in den Drachenhauthandschuhen. „Dieser Narr hat mit kaputten Handschuhen gearbeitet! – Poppy, es ist eine doppelte Vergiftung." Die Medihexe nickte und griff erneut in ihre Tasche. Nichts, was sie nicht beheben konnte.
Doch Severus sah die Sache weniger ruhig. Er bebte vor Zorn.
„Wann wird er wieder auf dem Damm sein?" fragte er die Medihexe schließlich, als diese die leeren Violen wieder in ihrer Tasche verstaute und einen Schwebezauber über den bewußtlosen Schüler aussprach.
„Spätestens zum Abendessen. Ich habe ihm beide Gegengifte verabreicht und wir haben rasch gehandelt, es sollte also schnell gehen." Severus nickte und blickte dem Schüler ins Gesicht. Die verkrampften Züge hatten sich inzwischen wieder entspannt.
„Sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn heute abend noch in meinem Büro erwarte, wenn er aufwacht. Ich werde ein Wort mit ihm darüber reden müssen, daß er hier mit beschädigter Schutzbekleidung auftaucht", knurrte Severus. Poppy nickte und schenkte ihm ein sanftes Lächeln, bevor sie mit dem schlafenden Schüler den Klassenraum verließ.
Severus drehte sich zu seinem Pult und schloß für einen Moment die Augen. Seine Schüler warteten, was jetzt passieren würde, er konnte ihre angespannten Blicke in seinem Rücken fühlen.
„Aufgrund dieses kleinen Zwischenfalls werden wir heute wohl alle ein wenig länger hierbleiben müssen", sagte er schließlich und drehte sich wieder zu seiner Klasse um. Kein unwilliges Stöhnen war zu hören, wie es in seinen unteren Klassen in diesem Moment der Fall gewesen wäre, doch Severus wußte, daß nicht alle seiner Schüler sich über diese Nachricht freuten. Es war für sie alle die letzte Stunde des Tages und alles darüber hinaus ging von ihrer Freizeit ab. Dennoch beschwerte sich keiner von ihnen und binnen weniger Minuten hatte sich wieder das geschäftige Schweigen über die Klasse gelegt.
Severus fühlte sich müde.
Harry konnte die schlechte Laune des Älteren augenblicklich fühlen, als dieser an diesem Nachmittag sein Quartier betrat, den schwarzen Umhang abstreifte und ihn entgegen jeder Gewohnheit einfach achtlos auf den Boden gleiten ließ. Sie war wie die Kälte, die immer von ihm Besitz ergriff, wenn er nachts allein in seinem Bett aufwachte. Vielleicht sogar noch ein bißchen kälter.
„Guten Abend, Professor", begrüßte er ihn dennoch heiter wie immer, erhielt jedoch keine Antwort. Severus ging einfach an ihm vorbei ins Schlafzimmer, von wo er wenige Minuten später umgezogen wieder kam. Harry hob leicht die Augenbrauen. Auch daß Severus sich noch vor dem Abendessen umzog, war sehr ungewöhnlich.
„Das war wohl kein guter Tag", versuchte Harry es erneut und klappte das Buch zu, in dem er bis eben gelesen hatte, um Severus ein Zeichen zu geben, daß er wirklich mit ihm reden wollte und nicht nur höflich war.
Severus ging zu einem kleinen Schrank neben einem der vielen Bücherregale, nahm ein Glas und eine Flasche Whiskey heraus und goß sich ein großzügiges Glas ein. So gerüstet kam er zu Harry hinüber und ließ sich in seinen Sessel fallen.
Harry nagte nervös an seiner Lippe. Der Sessel, nicht der Platz neben ihm auf der Couch.
„War ja nicht anders zu erwarten", entgegnete Severus schließlich spitz und nahm einen Schluck Whiskey. Er brannte warm und weich in seiner Kehle.
„Was war los?" fragte Harry und Severus konnte die Besorgnis aus der Stimme des jungen Zauberers herauslesen.
„Einer meiner Schüler hat sich fast umgebracht. Ein krönender Abschluß für eine absolut verkorkste Woche." Harry seufzte leise und setzte sich ein wenig aufrechter hin. Die eisige Kälte, die ihm von Severus entgegen schlug, verhieß absolut nichts Gutes.
„Aber das war noch nicht alles oder?" Severus starrte den Jüngeren mit einer Mischung aus Überraschung und Zorn an.
„Was meinst du?"
„Sie sind seit über zwanzig Jahren Lehrer. Das kann noch nicht alles gewesen sein, um Sie so aus der Bahn zu werfen." Severus zog unmerklich die Schultern ein wenig höher und fühlte sich augenblicklich wie auf heißen Kohlen sitzend.
„Und wie kommst du auf die absurde Theorie, ich sei aus der Bahn geworfen?" Harry versuchte ein Lächeln, brauchte aber nicht einmal einen Spiegel, um zu wissen, daß es ihm ziemlich mißlang. Seine Kehle fühlte sich mit jeder Minute zugeschnürter an.
„Ich habe Augen im Kopf, Professor. – Sie sind heute sehr merkwürdig. Und ich glaube einfach nicht, daß das nur an diesem Zwischenfall liegt. Sie halten heute mehr Abstand zu mir als sonst. Ist etwas passiert? Habe ich etwas falsch gemacht?"
„Harry, nein..." versuchte Severus abzuwiegeln, wurde jedoch fast sofort von Harry unterbrochen.
„Es hat mit letzter Nacht zu tun oder? Sie waren da schon so komisch." Severus preßte die Lippen aufeinander. In Harrys Augen blitzte es auf.
„Sagen Sie schon, was war es? Was hab ich getan?"
„Laß es gut sein, Harry", Severus' Stimme wurde leiser, bedrohlicher. Einen Moment lang dachte Harry wirklich daran, einen Rückzug zu machen, doch dann gewann sein Trotz die Oberhand. Wenn es etwas war, was er gesagt oder getan hatte, dann wollte er das wissen. Er wollte wissen, wenn Severus sich über ihn ärgerte und nicht geschont werden, wie ein dummes Kind.
Oder für ein paar Tage auf die Strafbank gesetzt werden, so wie es wohl im Moment geschah, betrachtete man das Verhalten des Professors genauer.
„Vergessen Sie es. Ich will es wissen." Severus hielt wütend die Luft an. Verstand dieser dumme Junge denn gar nichts? Was wollte er hören? Wollte er wirklich, daß er ihm die Wahrheit sagte? Wollte er die Schuldgefühle? Wollte er sich verantwortlich fühlen, daß sein ohnehin schon isolierter Lehrer sich nach seinem Verschwinden noch weiter abgesondert hatte?
„Ich habe aber nichts zu sagen, Harry."
„Schön, dann werde ich Ihnen was sagen. Es hat mit meiner dummen Frage von letzter Nacht zu tun oder?" Severus verkrampfte sich.
„Ich hab den ganzen Tag darüber nachgedacht, Professor. Über die Frage, über Ihr Zögern, ihr unwilliges Antworten und es hat absolut keinen Sinn ergeben. Außer natürlich, man bringt zwei Zeitpunkte in Zusammenhang zueinander.
Entweder sagen sie mir jetzt, daß ich mir das einbilde und nennen mir endlich den wahren Grund dafür, warum Sie sich über Nacht wieder zurück auf das Niveau eines Widerlings entwickelt haben oder ich werde einfach annehmen, daß ich recht habe.
Fing Ihre Wandlung vom Eigenbrötler zum absoluten Einsiedler an, als ich gegangen bin, Professor?" Ihre Blicke trafen sich und Harry konnte nur zu gut aus den schwarzen Tiefen heraus lesen, wie aufgebracht sein scheinbar so ruhiger Lehrer in Wahrheit war. Ein eiskaltes Feuer sprang ihm aus diesen Augen entgegen und Harry war sich nicht sicher, ob es ihn erfrieren oder verbrennen würde.
Vielleicht beides.
„So ein ausgemachter Schwachsinn", knurrte Severus schließlich, doch Harry legte nur herausfordernd den Kopf ein wenig schief.
„Dann nennen Sie mir den Grund." Eine Geschichte. Was war nur mit seinem Kopf los? Warum fiel ihm einfach keine gute Geschichte ein? Er mußte Harry doch einfach nur irgendwas erzählen. Irgendwas!
„Ich wüßte nicht, was es dich angeht, was ich aus meinem Leben mache, Potter!" fauchte Severus schließlich und fühlte sich innerlich hilflos wie ein Kind, das in seiner letzten Verzweiflung ein paar abgestumpfte Stacheln aufstellte.
„Interessant", konterte Harry, der nun auch endlich spürte, wie er immer aufgewühlter wurde. „Mich geht es also rein gar nichts an, was Sie betrifft, aber anders herum haben Sie alle Rechte der Welt, sich in mein Leben einzumischen, ja?" Severus glaubte zu hören, wie sich in seinem Kopf ein Schalter umlegte und noch bevor er es aufhalten konnte, brachen die nächsten Worte aus ihm hervor.
„Ich glaube kaum, daß man diesen Vergleich anstellen kann, Harry. Immerhin habe ich es nicht geschafft, mich langsam aber sicher in die Gosse zu arbeiten. Ich habe meinen Körper nicht auf das Äußerste mit Gift malträtiert. Ich habe nicht meine Freunde und Familie einfach zurück gelassen und über Jahre betrogen. Und ich bin nicht derjenige, der zu feige ist, sich dem allen zu stellen." Eisiges Schweigen senkte sich über die beiden. Das Knistern im Kamin das einzige Geräusch, das die Stille hin und wieder unterbrach.
Harry krallte sich krampfhaft an der Decke fest, die über seinen Beinen lag. Seine Atmung ging schnell und heftig, doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Alle Gedanken schwiegen, nichts war da. Nichts. Nur ganz tief in seinem Inneren fühlte er den dumpfen Schmerz, der mit jedem Schlag seines Herzens immer stärker wurde. Severus' Worte waren schlimmer als jedes Messer, schlimmer als jede Scherbe, schlimmer als alles, was sich bisher in sein Fleisch geschnitten hatte. Severus' Worte waren wie eine tödliche Waffe.
Auch in Severus' Kopf breitete sich augenblicklich eine tiefe Leere aus. Fassungslos über diesen Ausbruch, über das, was er gerade gesagt hatte, starrte auch er einfach nur Harry an.
Keiner von beiden sprach ein Wort, bis Harry schließlich heftig schluckte und den Blick senkte.
„Oh", war alles, was er herausbrachte. Wie in Zeitlupe schlug er die Decke zurück, stand auf und ging in Richtung seines Zimmers. Einen Moment lang dachte Severus darüber nach, ihn aufzuhalten, sich bei ihm zu entschuldigen, doch bevor er sich dazu entscheiden konnte, fiel Harrys Zimmertür krachend ins Schloß.
„Verdammte Scheiße!" murmelte Severus und stürzte das noch halbvolle Whiskeyglas mit einem großen Schluck herunter. Im nächsten Moment zerbarst es am Mantel des Kamins und der Zaubertrankmeister vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
Er war so unglaublich blöd gewesen. Wie hatte er das nur sagen können? Wie konnte er sich nur allen Ernstes wagen, Harry irgendeinen Vorwurf bezüglich Dummheit zu machen? Er war doch kein Stück besser, kein Stück erwachsener.
Es war doch nicht zu fassen!
Er hatte sich aufgeführt wie ein kleiner Junge und vermutlich hatte er dabei mehr kaputt gemacht als er jemals in der Lage sein würde zu reparieren. Wieso nur hatte er sich absolut nicht mehr unter Kontrolle, sobald es um Harry ging?
Es war so lächerlich, sich als der Erwachsene aufzuführen und sich doch gleichzeitig so gar nicht unter Kontrolle zu haben! Und Harry hatte ganz recht, wenn er ihn dafür jetzt verachtete. - Würde er das tun?
Ärgerlich drehte Severus sich auf die Seite und zog seine Decke etwas höher, bis sie ihm bis ans Kinn reichte. Trottel. Das war das einzige Wort, das es beschrieb. Großer, dummer, tölpelhafter Trottel, der es gar nicht anders verdient hatte, genau das war er.
Severus war so sehr in seine Selbstbeschimpfungen vertieft, daß er nicht hörte, wie sich langsam seine Schlafzimmertür öffnete. Erst als sich die Decke ein wenig hob und ein eiskalter Körper darunter kroch, fuhr er zu Tode erschrocken zusammen.
Harry sagte kein einziges Wort, rollte sich einfach nur zu einer zitternden Kugel zusammen und umschlang seine Knie mit den Armen.
Sogar ohne Körperkontakt fühlte Severus, wie ausgekühlt der Körper des Jungen war. Einen Moment lang wußte er nicht, was er tun sollte. Verlegen räusperte er sich.
„Du bist eiskalt, Harry."
„Tut mir leid", kam es dumpf von dem Jungen zurück. Severus krampfte es den Magen zusammen und noch bevor er wirklich überlegen konnte, was er da tat, zog er den schmächtigen Jungen an sich, genau wie damals in der ersten Nacht, in der Harry zu ihm gekommen war. Ein kleiner, verblüffter Laut kam über Harrys Lippen, doch sonst sagte er nichts und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er sich in Severus' Armen ein wenig entspannte.
„Tut mir leid", murmelte er noch einmal und kuschelte sich ein wenig enger an seinen ehemaligen Lehrer, dem das Herz bis zum Hals schlug. Er wußte, daß er etwas sagen mußte, daß sie darüber reden mußten, was vor wenigen Stunden passiert war, doch er konnte nicht. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, sein Kopf war nicht in der Lage, der Zunge den Befehl zu geben, die so dringend notwendigen Worte auch auszusprechen.
Harry war da, war wieder zu ihm gekommen. Vielleicht konnten sie es einfach vergessen. Es war nicht passiert. Severus schalt sich innerlich einen Dummkopf, daß er schon wieder ernsthaft in Erwägung zog, dem Problem einfach den Rücken zu kehren und wegzugehen, als sei nichts gewesen. Aber es war so leicht, es lag so nah. Harry war das erste Wesen seit vielen Jahre, daß er nicht verlieren wollte. Und Probleme bedeuteten doch unweigerlich irgendwann den Verlust.
„Ich hatte recht oder? – Sie dürfen keine Angst davor haben, mir die Wahrheit zu sagen, Professor. Auch wenn ich mich verletzt fühle, weine oder weglaufe, das ist alles besser, als mich zu belügen." Harrys Stimme klang klein und irgendwie geisterhaft. Unwillkürlich verstärkte sich Severus' Griff um den Körper des dünnen Jungen ein wenig und das Zittern ließ etwas nach.
„Ja", gab er schließlich zu und ignorierte dabei mal wieder die schreiende Stimmen in seinem Hinterkopf. „Ja, genau damals fing es an."
„Aber warum?" Harry hob ein wenig den Kopf, richtete seinen Blick auf das Gesicht des Älteren, obwohl er ihn in der vollkommenen Dunkelheit von Severus' Schlafzimmer nicht sehen konnte.
„Nicht jetzt, Harry. Bitte nicht jetzt. Ich erzähle es dir irgendwann mal, ja?" Auch jetzt noch wollte Harry widersprechen und auf einer Antwort bestehen, aber er wußte, daß das nur unweigerlich wieder zu einem neuen Streit führen würde.
So suspekt das auch war, aber der Streit an diesem Abend war für ihn furchtbar gewesen. Von einem Moment auf den anderen hatte Harry gedacht, alles verloren zu haben und das, obwohl Severus niemals etwas in der Richtung auch nur angedeutet hatte. So normal es früher gewesen war, mit dem Zaubertrankprofessor ständig auf dem Kriegspfad zu sein, so unerträglich war es Harry heute. So falsch erschien es ihm.
Und zum ersten Mal sah er auch, daß er wohl eine Menge Kompromisse würde eingehen müssen, wenn er Streit mit Severus so weit es ging vermeiden wollte.
Dafür waren sie wohl beide nicht geschaffen, beide stur wie die Maultiere, aber das hieß nicht, daß man es nicht mit viel Mühe und Disziplin schaffen konnte oder? Harry hatte es sich auf alle Fälle vorgenommen und der erste Schritt war, daß er einfach nur zustimmend nickte und schwieg, nicht weiter fragte und Severus nicht wieder in eine Ecke drängte, aus der er sich nur mit Grausamkeit befreien konnte.
Er würde sein Wort schon halten und es erzählen, sobald er dazu bereit war.
Severus registrierte die nickende Kopfbewegung an seiner Brust mit einer gehörigen Portion Erleichterung. Auch wenn er es nicht nach außen ließ, er fühlte sich im Moment so wenig unter Kontrolle, wie noch nie zuvor in seinem Leben und wenn Harry weiter nachgehakt hätte, dann wäre vermutlich alles aus ihm herausgebrochen oder er hätte der Jungen wieder – diesmal schlimmer - vor den Kopf gestoßen.
Beides war inakzeptabel, wie man es auch drehte.
Severus fühlte, wie Harry noch ein wenig näher an ihn heranrückte, doch obwohl sich der Gedanke sofort aufzudrängen versuchte, ließ er es nicht zu, daß er anfing, darüber nachzudenken, warum Harry seine Nähe suchte.
„Willst du leben, Harry?"
„Ja."
„Und warum?"
„Ich weiß nicht, ich will es einfach."
„Das war aber vor kurzem noch anders oder?"
„Ja."
„Wann hat es sich geändert?"
„Vor ein paar Wochen."
„Als Severus dich gefunden hat?"
„Ja."
„Ist es besser so?"
„Ich denke schon."
„Du DENKST schon?"
„Ja."
„Du solltest es WISSEN."
„Ich weiß."
„Woran hängt's?"
„An... an Severus?"
„Ist er so wichtig für dich?"
„Ich denke schon."
„Erinnerst du dich, was ich dir über das Begreifen gesagt habe?"
„Daß aus zwei Teilen erst wieder eins wird, wenn ich begreife und diese Scheiße hier dann aufhört?"
„Na immerhin hörst du mir zu."
„Was hat das mit deinen Fragen zu tun?"
„Ist das denn wirklich so schwer zu verstehen?"
„Nein."
„Na dann solltest du keine Zeit mehr verlieren. Werde dir klar über die Dinge, von denen du bisher nur denkst, es zu wissen. Das ist der erste Schritt des Begreifens. Und jedes neue Ding, über das du dir klar wirst, ist ein weiterer Schritt. Ein Schritt nach dem anderen und eines Tages stehst du vor dem Ziel."
„Ist das schwülstig."
„Ich wollte nur mysteriös klingen, aber bei dir stoße ich mit Dramatik ja ohnehin immer auf taube Ohren."
„Du mich auch."
„Sobald du begriffen hast."
„Arsch."
Die erste Hälfte der Nacht war ausgesprochen ruhig verlaufen. Severus hatte über Harry gewacht, bis dieser schließlich eingeschlafen war, immer noch eng an ihn geschmiegt, ohne jedes Bestreben, daran etwas zu ändern.
Doch auch als die Atemzüge des jungen Mannes tief und ruhig wurden, konnte Severus nicht sofort schlafen. Zu viel ging ihm im Kopf herum, zu viele Fragen, zu wenige Antworten. Zu viel Harry und viel zu wenig Frieden. So vorsichtig wie möglich löste Severus einen Arm aus der Umarmung und strich Harry sachte durch das lange Haar, das ihm jetzt im Gesicht hing.
Was erwartete er von Harry? Daß der junge Mann wirklich alles einfach immer nur hinnahm, was er ihm auch hinwarf, und keine Fragen stellte? Das war vollkommen wider Harrys Natur und das war Severus auch vollkommen klar. Früher oder später würde er Harrys Fragen beantworten müssen, genau wie er Fragen beantwortet haben wollte. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen gehörte nicht zu den Dingen, mit denen Severus Snape viel Erfahrung hatte, aber es wurde immer deutlicher, daß es genau darauf hinaus laufen würde, wenn sich ihre sonderbare Beziehung fortsetzen würde.
Severus seufzte leise. Warum nur wollte er sich das wirklich antun? Warum konnte er nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und Harry aus seinem Inneren ausschließen?
Severus lächelte bitter. Vielleicht war es auch einfacher, wenn er endlich damit aufhörte, sich diese Frage zu stellen, schließlich scheiterte er an ihrer Beantwortung jetzt schon seit geschlagenen vier Jahren. Und seit Harry tatsächlich wieder da war, wurde von Tag zu Tag immer deutlicher, daß es nie wieder so sein würde wie früher. Was der Junge auch mit ihm tat, er würde nie wieder aus seinem Inneren verschwinden. Einzig ob er Schmerz oder Linderung war, würde sich noch zeigen.
Es war so sinnlos, diese Sache immer wieder in seinem Kopf hin und her zu wälzen. Er kam doch zu keiner anderen Lösung als der, daß es für ihn vor Harry kein Entkommen mehr gab. Warum es also immer wieder versuchen? Weil er es nicht gewohnt war, einfach die Waffen zu strecken und sein Kopf immer noch weiter kämpfen wollte, während der Rest von ihm sich längst ergeben hatte.
Severus kniff die Augen ein wenig zusammen und versuchte, Harrys Züge im sehr schwachen Licht des Mondes zu erkennen. Es ging auf Vollmond zu und die Nacht war klar, doch das Licht reichte noch immer nicht wirklich aus, um ernsthaft etwas erkennen zu können. Sehr verschwommene Schemen, die Severus im Geiste vervollständigte und zu Harrys Gesicht zusammen setzte, aber kein wirkliches Sehen.
Es reichte vollkommen aus.
Der junge Mann hatte ihn, das war eine Tatsache, daran war nichts zu rütteln. Ein letztes Mal strich er durch Harrys Haar, dann ließ er sich selbst in eine bequemere Position zurück sinken und legte die freie Hand an seine Stirn.
Ja, er hatte ihn. Und trotz aller Alarmglocken, trotz aller Warnungen seiner inneren Stimme, trotz des flauen Gefühls in seinem Magen, immer wenn er daran dachte, sich endlich in diese Situation zu ergeben und es für sich zu akzeptieren, beschloß Severus in diesem Moment doch, daß es eben so war und damit auch gut war. – Was immer daraus noch werden würde, so war es dann eben.
Eine gewisse Erleichterung lag in dieser Akzeptanz schon, aber Severus wäre nicht Severus gewesen, wenn es ihm nicht gleichzeitig auch ebenso viel Unbehagen bereitet hätte. Dennoch registrierte er erleichtert, wie seine Lider endlich schwerer wurden und sich schließlich schlossen. Morgen. Morgen konnte er weiter grübeln. Für heute war es genug.
Ein Schlag mitten ins Gesicht weckte Severus aber schon kurze Zeit später wieder unsanft auf. Harry hatte sich aus seiner Umarmung freigekämpft und schlug im Schlaf um sich. Er gab ein wimmerndes Geräusch von sich und knapp neben Severus schlug der Arm erneut auf das Kissen.
Sofort war der Zaubertrankmeister hellwach.
„Lumos", murmelte er rasch und eine Sekunde später war das Zimmer schwach erleuchtet.
„Harry!" sanft rüttelte Severus den jungen Mann an der Schulter, doch Harry wachte nicht auf, verzog das Gesicht nur zu einer grotesken Maske aus Angst und warf den Kopf hin und her. Er hatte sich bereits mit den Beinen in der Decke verfangen und mit jeder Bewegung verfestigte sich das Knäuel aus Decke und Beinen nur noch.
Harrys gesamter Körper war schweißüberströmt.
Severus seufzte. Es war das erste Mal, daß Harry einen Alptraum hatte, wenn er bei ihm schlief. Wieder versuchte er, den jungen Zauberer zu wecken, doch wieder brachte das nicht den gewünschten Erfolg, sondern nur einen weiteren Schlag mitten in sein Gesicht.
Severus zischte leicht vor Schmerz, denn Harry hatte genau Lippen und Nase erwischt. Die Unterlippe des Älteren war durch die Wucht des Schlages ein wenig aufgeplatzt und seine Nase pochte schmerzhaft. Severus betastete sie vorsichtig. Leicht angebrochen, aber nicht weiter schlimm.
„Nein!" schrie Harry in diesem Moment auf und warf sich herum auf die Seite. Seine Beine konnten der Bewegung nicht ganz folgen, so daß Harry erst etwas verdreht auf dem Bett lag und sich im nächsten Moment wieder herum war.
„Harry!" rief Severus jetzt schon um einiges lauter, packte ihn kräftiger an den Schultern.
„Loslassen!" schrie Harry. Verwundert runzelte Severus die Stirn, ließ die Schultern des Jungen los und wich im letzten Moment den erneut ausschlagenden Armen des jungen Zauberers aus. Ein selbst für Harry ungewöhnlich tiefer Alptraum.
Severus zögerte einen Moment, bevor er sich schließlich entschloß, einen letzten Versuch zu starten, ihn doch noch zu wecken. Mit einer schnellen, aber vorsichtigen Bewegung setzte er sich auf Harrys Hüften und griff nach den Handgelenken der wild fuchtelnden Arme. Als es ihm schließlich gelungen war, auch die Arme Harrys ruhig zu halten, drückte er sie über den Kopf des Jungen und hielt sie so gut es ging mit der linken Hand fest, während er Harry mit der rechten eine leichte Ohrfeige gab.
„Verdammt, Harry, wach endlich auf!" fuhr er ihn an, mehr verzweifelt als wütend. Harrys Gesicht verzog sich wieder und ein panischer Ausdruck gesellte sich hinzu. Wieder warf er den Kopf hin und her und schrie auf.
„Harry!" Ein letztes Mal schlug Severus zu, diesmal ein wenig fester und endlich wurde der Körper unter ihm ruhiger, hörte auf, sich zu winden und einige Augenblicke später, schlug Harry die Augen auf, blickte den Mann über sich verwundert an.
Severus wollte schon aufatmen und hatte Harrys Arme gerade wieder losgelassen, um von den Hüften des anderen zu steigen, als die Augen des jungen Zauberers sich plötzlich weiteten, riesig groß wurden und vor Angst glänzten. Die gerade in die Freiheit entlassenen Arme schlugen wieder auf ihn ein, diesmal allerdings bewußt und mit aller Macht, die der noch immer geschwächte Körper Harrys aufbringen konnte.
Im ersten Moment war Severus so verblüfft, daß er gar nicht reagierte. Harry war wach. Was sollte das hier? Ganz instinktiv griff er wieder nach dem Handgelenken, drückte die Arme zurück ins Kissen.
„Loslassen! Laß mich los! Ich will nicht!" schrie Harry verzweifelt, kämpfte gegen das Gewicht auf seinem Körper an.
Severus begriff nicht, was hier eigentlich vor sich ging, bis er schließlich in die panischen grünen Augen blickte und erkannte, daß sie nicht sahen, offen, aber noch nicht wieder zurück in der Realität waren. Das mußte ein Erinnerungsflash sein, der Harry auch nach dem Aufwachen noch festhielt.
Harrys Vergangenheit, ein furchtbares Erlebnis und er sorgte dafür, daß es immer weiter ging. Severus preßte die Lippen zusammen und mobilisierte noch einmal alle Kräfte, um wieder beide Arme mit einer Hand zu halten. Mit der anderen griff er nach seinem Zauberstab.
„Stupor!" Harrys Körper erstarrte augenblicklich unter ihm und Severus sprang fast von ihm herunter. Einen Moment lang saß er neben Harry, verwirrt, verschreckt, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Sein Herz schlug rasend schnell und auch ihm war kalter Schweiß ausgebrochen. Bilder drängten sich ihm auf, von denen er nicht wußte, ob sie wirklich so gewesen waren, die er sich aber anhand Harrys Reaktionen so sehr gut vorstellen konnte.
Schließlich stand er entschlossen auf und verschwand für einen Moment im Badezimmer, aus dem er mit einer Viole in der Hand zurück kehrte.
„Trink das, Harry", wies er den Jungen so sanft wie möglich an. Da Harry sich durch den Zauber nicht mehr rühren konnte, konnte er sich trotz der anhaltenden Panik in seinen Augen, nicht dagegen wehren, daß Severus ihm ein wenig den Mund öffnete, den Trank hinein schüttete und ihn schließlich zum Schlucken brachte.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Trank zu wirken begann und die Panik aus den Augen des Jüngeren verschwand. Severus beobachtete ihn mit Argusaugen und so entging ihm auch nicht, wie Harry langsam wirklich erwachte, erkannte, was passiert war. Er sah, wie der Blick des Jungen weich wurde, dann verzweifelt, weil er sich noch immer nicht rühren, nichts sagen konnte.
Dann schlossen sich die Lider schließlich.
Es war nur ein sehr leichtes Beruhigungsmittel gewesen im Vergleich zum Trank des traumlosen Schlafes, aber es reichte, um den erschöpften Körper wenigstens für eine Weile außer Gefecht zu setzen.
Als Harry eingeschlafen war, nahm Severus den Zauber von Harry. Die starre Haltung des jungen Zauberers entspannte sich augenblicklich. Wie mechanisch entwirrte Severus die Decke, schüttelte sie ein wenig auf und deckte Harry zu, bevor er nach seinem Umhang griff, der an der Garderobe neben seinem Schrank hing, diesen überstreifte, in das nächste Paar Schuhe schlüpfte, das er fand und fast fluchtartig den Kerker verließ.
Er wußte nicht warum, aber er mußte weg von Harry und wenn es nur für kurze Zeit war. Seine Gedanken rasten wild umher und er mußte sie erst zur Ruhe bringen, bevor er wieder in der Lage war, Harry gegenüber zu treten. – Wenn er nicht riskieren wollte, daß seine gesamte, so sorgfältig aufgebaute Fassade einfach zusammen brach. Die ersten Mauern bröckelten schon gewaltig, so vieles wollte durchbrechen und warf sich mit vollem Gewicht gegen die Beschränkungen. Doch Severus war nicht gewillt, diese Hervorbrechen zu erlauben. Noch nicht. Vielleicht auch nie.
Kalte Angst, Panik, Schmerz, Scham, das alles war plötzlich wieder da gewesen. Er wußte noch, er hatte sich wieder sicher gefühlt, wußte aber nicht mehr, warum das so gewesen war. Was aber ganz klar war, war die Tatsache, daß es dumm gewesen war, sich sicher zu fühlen. Alles war wieder da. Sie hatten doch alle recht gehabt. All jene, die immer gesagt hatten, daß es keinen Weg zurück mehr gab.
War der Schritt einmal gemacht, dann war es für immer so. Wenn nicht außen, dann doch immer innen. Und früher oder später holte es einen ein, holte einen zurück und das Spiel begann von vorne.
Hatte es schon wieder von vorne begonnen? Aber es war doch gerade erst zu Ende gewesen!
Und dann war das alles auf einmal weg gewesen. Eine angenehme Schwere hatte sich über ihn gelegt und mit einem Mal hatte er die Wahrheit erkannt. Severus, niemand sonst. Keine Gefahr, kein Schmerz, kein Grund, in Panik zu verfallen. Nur Severus.
Und Severus war verletzt gewesen. Er hatte es sehen können. Sicher hatte der andere es nicht gewußt, aber in diesem kurzen Moment hatte Harry alles von seinem Gesicht ablesen können, die Maske, die sonst immer darüber lag, war nicht da gewesen.
Was hatte er nur getan?
Doch bevor er etwas sagen oder tun konnte, war die Schwärze da gewesen, hatte ihn in sich eingehüllt und ihn fortgetragen. Die Schwärze war ruhig und friedlich und normalerweise hieß Harry sie immer gerne willkommen. Doch nicht heute. Severus war verletzt gewesen und er mußte es wieder gut machen. Er hatte es getan, wegen ihm waren all diese Gefühle auf dem Gesicht des Zaubertrankmeisters zu sehen gewesen.
Er mußte es wieder in Ordnung bringen, was auch immer er getan hatte.
Mit einem leisen Stöhnen erwachte Harry schließlich, als er seinen Kampf gegen die tröstliche Dunkelheit gewonnen hatte. Noch immer war Severus' Schlafzimmer in das angenehm gedämpfte Licht getaucht.
Vorsichtig richtete Harry sich auf und griff sich an den Kopf, der sich ein wenig dumpf anfühlte. Der Trank, den Severus ihm gegeben hatte. Der war sicher schuld, daß er sich so merkwürdig fühlte.
Severus. Harry zwang sich, die Augen zu öffnen und auch wirklich offen zu halten. Noch immer schienen seine Wimpern zusammen zu kleben und seine Lider schwer wie Blei zu sein, aber schließlich schaffte er es doch und blickte sich suchend um. Doch Severus war nicht im Schlafzimmer.
Mühsam schwang er seine Beine über den Bettrand und tapste trotz der Kälte barfuß ins angrenzende Wohnzimmer. Kein Severus.
Langsam alarmiert kehrte die Wachheit mit einem Schlag zu Harry zurück. Und nach einem hektischen Blick in sämtliche anderen Räume der Lehrerwohnung, war er sich sicher, daß der Zaubertrankmeister nicht hier war.
Mitten in der Nacht. Und wie lange schon?
Harry hielt inne und preßte die geballte rechte Hand an seine Brust. Nur einen Moment lang zögerte er, dann schloß er die Augen und holte tief Luft.
„Bastard", murmelte er, bevor er in sein eigenes Zimmer stürzte und den kleinen Kleiderschrank aufriß, in dem seine wenigen Kleidungsstücke hingen. Er mußte nicht lange suchen, bis er gefunden hatte, was er brauchte und zog schließlich den Umhang aus dem so merkwürdig schillernden Material heraus.
Er fühlte, wie sein Herzschlag sich sofort beschleunigte, als das feine Material durch seine Finger glitt und sofort Dutzende Erinnerungen zu ihm zurück kamen. Die vielen Gelegenheiten, zu denen er den Umhang seines Vaters schon genutzt hatte prasselten auf ihn ein und zum Großteil waren es zum ersten Mal seit langem Erinnerungen, die er am liebsten nicht sofort von sich geschoben hätte, aber gerade jetzt war keine Zeit dafür. Er mußte Severus finden.
Mit einem entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht, warf er sich den Umhang über die Schultern, zog sich die Kapuze über den Kopf und war im nächsten Augenblick für die Außenwelt verschwunden.
Nur noch mehr Erinnerungen prasselten auf ihn ein, als sich dieses vertraute Gefühl der Überlegenheit in ihm breit machte, das er immer gefühlt hatte, wenn er den Umhang benutzt und damit so viele seiner Lehrer und Mitschüler immer wieder an der Nase herum geführt hatte. Gute Zeiten. Zeiten mit Ron, Hermine und so vielen anderen Schülern aus Gryffindor.
Fast schon gewaltsam mußte Harry sich von diesen Erinnerungsfetzen losreißen.
Die ersten Schritte, die er aus der Tür hinaus in die Gänge von Hogwarts machte, fühlten sich mehr als nur merkwürdig an. Alles war gleichzeitig so vollkommen vertraut und doch so fremd, daß Harry nicht wußte, ob er lieber das Schloß erkunden oder weglaufen und sich verstecken wollte. Seine Nerven prickelten fast schon erregt, als er sich vorstellte, daß im nächsten Moment Mrs. Norris um die Ecke kommen würde, Hausmeister Filch direkt auf ihren Fersen, immer auf der Suche nach Regelbrechern, denen man mit mittelalterlichen Foltermethoden drohen konnte, die Professor Dumbledore leider, leider nicht mehr zuließ.
Trotz seiner Sorge um Severus bogen Harrys Mundwinkel sich beim Gedanken an den schrulligen und gleichzeitig so furchteinflößenden Hausmeister von Hogwarts nach oben. Wie oft dieser Mann ihn doch beinahe erwischt hatte bei seinen Touren durch das Schloß. Ja, es hatte auch so viele gute Zeiten gegeben. Das meiste davon hatte er nur einfach über die schlechten hinweg vergessen. Das hätte er wohl niemals zulassen sollen.
Fieberhaft überlegte er, wo er Severus suchen sollte. Im Prinzip fielen ihm nur sehr wenige Plätze ein, an denen er sich den Zaubertrankprofessor vorstellen konnte, aber auch ein Blick in das Klassenzimmer für Zaubertränke brachte nur ein negatives Ergebnis. Jetzt blieben nur noch zwei Möglichkeiten in Harrys Augen und da er sich nicht vorstellen konnte, daß Severus wegen der Sache vorhin zu Dumbledore gegangen war, schlug er nun mehr oder weniger zögernd den Weg in Richtung Astronomieturm ein.
Je näher er seinem Ziel kam, desto heftiger schlug sein Herz. Würde Severus wirklich dort sein? Und wenn er dort war, warum ausgerechnet dort? Hatte dieser Ort etwa für ihn ebenso viel Bedeutung wie für Harry selbst? Oder war es einfach nur aus Gewohnheit, weil es ein Ort war, der außerhalb der Unterrichtszeiten normalerweise eher spärlich besucht war?
Jede Treppenstufe ein Herzschlag. Unbewußt verlangsamte Harry seine Schritte. Und was wenn er da sein würde? Was sollte er sagen?
Unwillig schüttelte Harry den Kopf und machte einen nächsten Schritt. Es gab jetzt keinen Grund, keine Entschuldigung mehr, nicht dort rauf zu gehen – oder wohin auch immer, Hauptsache er fand den anderen irgendwann.
Seine Hand zitterte wieder unkontrolliert, als er sie auf den Griff der Tür legte, die ihn jetzt noch von der Plattform trennte. Ein letztes Mal atmete er tief durch, dann drückte er ihn nach unten und schob die Tür auf.
Harry trat hinaus auf die Plattform, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Langsam strich er die Kapuze des Umhangs ab. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß und erst dann blickte er auf – genau in die Augen von Severus Snape, der ein paar Meter von ihm entfernt auf der steinernen Berüstung saß.
Harry wollte etwas sagen, doch kein Ton kam über seine Lippen und dann hatte Severus den Blick auch schon wieder abgewandt, das Gesicht gedreht und starrte in die fast undurchdringliche Nacht hinaus. Harry räusperte sich kaum hörbar und sammelte all seinen Mut aus dem scheinbar undurchdringlichen Wirrwarr aus Emotionen in seinem Inneren zusammen.
Wie mechanisch setzten seine Beine sich in Bewegung und trugen ihn langsam zu der Stelle hinüber, an der Severus saß, das linke Bein angewinkelt auf der Berüstung, während das rechte auf der sicheren Seite baumelte, der Fuß nur ein oder zwei Zentimeter über dem Boden der Plattform. Oberkörper und Gesicht waren von Harry abgewandt und die eleganten, langfingrigen Hände des Professors hatten sich knapp unterhalb des Knies ineinander verwoben.
Noch nie hatte Harry Snape so gesehen und nie hätte er es für möglich gehalten, daß es mal passieren würde. Diese Haltung wirkte durch und durch verletzlich, offen, ja irgendwie zu jung für Severus, denn er machte auf Harry in diesem Moment den Eindruck, vielmehr ein Junge zu sein, als der kühle, abweisende Zauberer, der er sonst immer war.
„Hallo", versuchte Harry es erneut und diesmal schaffte er es wirklich, dieses eine Wort hervor zu pressen, auch wenn es schrecklich klein und fast piepsig erklang.
„Was tust du hier, Harry? Du solltest schlafen", entgegnete Severus, ohne seine abgewandte Haltung aufzugeben.
„Sagt mein Körper auch."
„Du solltest anfangen, auf ihn zu hören." Harry lächelte schwach und schüttelte den Kopf. Beides konnte Severus nicht sehen, aber er machte es trotzdem.
„Ich mußte Sie finden."
„Warum?" Hilflosigkeit machte sich in Harry breit. So abweisend hatte er Severus schon lange nicht mehr erlebt, so menschlich noch nie. Er wußte nicht, wie er damit umgehen sollte, wußte aber, daß er das irgendwie hervorgerufen hatte und daß er erklären mußte, was da heute nacht passiert war. Auch wenn er nicht erzählen wollte, was das alles hervorgerufen hatte. Noch nicht jedenfalls.
Langsam legte er den Tarnumhang vollständig ab und setzte sich ebenfalls auf die Berüstung, Severus genau gegenüber.
„Hier hat alles angefangen", sagte er schließlich , ohne vorerst auf Severus' Frage einzugehen. Sein Blick folgte dem des Zaubertranklehrers. Ein unsichtbarer Punkt irgendwo in tiefer Finsternis.
„Wie lange ist das jetzt eigentlich genau her?" Im Grunde hatte er keine Antwort von Severus erwartet, doch Severus drehte ihm langsam sein Gesicht zu und blickte ihm in die müden Augen.
„Eintausendvierhundertacht Tage und ein paar Stunden." Schweigen senkte sich über die beiden Zauberer. Minuten, in denen sie sich einfach nur in die Augen sahen, keinen Muskel rührten. Minuten, in denen es nur sie und sonst nichts auf der Welt gab. Minuten, in denen Harry zu verarbeiten versuchte, was Severus ihm jetzt schon wieder offenbart hatte.
„Eine so genaue Antwort hatte ich nicht erwartet," brachte Harry schließlich mühsam hervor. Severus lächelte. Ein Lächeln, das ebenso mühsam schien, wie Harrys hervorgestammelten Worte.
„Glaub mir, ich hab mich so manches Mal gewünscht, es nicht so genau zu wissen."
„Warum..." wieder blieben ihm die Worte im Halse stecken. Ein wenig ärgerlich räusperte Harry sich. „Warum wissen Sie es dann so genau?" Severus hob abweisend die Schultern, wandte den Blick erneut von Harry ab und starrte zurück in das Dunkel, in dem es doch so rein gar nichts zu sehen gab. Harry glaubte schon, daß das alles war, was er zur Antwort bekommen würde, doch dann ertönte die sanfte Stimme des Älteren doch noch.
„Weil ich mit der Fähigkeit zu zählen gesegnet bin, schätze ich."
„Sie erinnern sich an alles, was Ihnen jemals passiert ist, so genau, daß Sie mir immer sagen können, wie viele Tage das her ist?" fragte Harry mit einem Lächeln und konnte den leicht spöttischen Unterton nicht zurückhalten, der Severus nur allzu deutlich zeigte, was er ohnehin schon wußte. Daß Harry ihm das nicht abnahm. Nun ja, das hatte er auch nicht wirklich angenommen, wenn es auch einen Versuch wert gewesen war.
„Dann wäre die Hölle auf Erden vermutlich endlich komplett."
„Sie wollen mir den Grund nicht nennen?" Severus zögerte, schüttelte schließlich den Kopf. Harry quittierte das mit einem Nicken, zog die Beine auf die Berüstung und schlang seine Arme darum. Nachdenklich preßte er die Stirn gegen seine Knie und wiegte sacht ein wenig vor und zurück. Severus schien davon keine Notiz zu nehmen, doch Harry war sich sicher, daß er alles sah.
„Daran interessiert, was ich denke?" setzte Harry schließlich wieder an und erntete ein erneutes Schulterzucken, wenn auch diesmal ein eher gleichgültiges. Ob Severus wirklich so gleichgültig war?
„Ich glaube, daß Sie manchmal nur so tun, als wären Sie ein eiskalter Bastard, den rein gar nichts interessiert", begann Harry, das Zittern in seiner Stimme nicht zu überhören, aber mit jedem Wort wurde sie ein wenig fester und sein Herz ein wenig ruhiger. Jetzt mußte es raus und konnte es endlich raus. Das wichtigste waren die ersten Worte und dann ging es von ganz allein. Ganz sicher. „In Wahrheit gibt es aber doch ein paar Dinge, die Sie nicht so kalt lassen, wie Sie immer tun. Und ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber scheinbar gehöre ich dazu.
Sie wissen es so haargenau, weil Sie seit dem Tag meines Verschwindens gehofft haben, daß ich wieder komme. Sie haben selbst gesagt, daß Sie nicht daran geglaubt haben, daß ich tot war. Und ich denke, daß Sie nicht nur nicht daran geglaubt haben, sondern auch gehofft haben, daß ich zurück komme. Schließlich hatte ich es doch versprochen.
Jeden Tag sind Sie mit der Hoffnung aufgewacht und jeden Abend mit dem Gedanken schlafen gegangen, daß die Hoffnung am nächsten Tag wieder da sein würde." Harry verstummte und registrierte zufrieden, daß er inzwischen innerlich vollkommen ruhig war. Er wußte nicht, woher diese Ruhe kam, woher der Mut zu diesen Worten gekommen war oder gar die törichte Hoffnung darauf, daß es wahr sein könnte, aber all das war da und es fühlte sich gut an.
Severus hörte die Worte des jungen Zauberers und glaubte doch, sie nicht wirklich zu hören. Oder hoffte er, sie nicht zu hören? Was machte es für einen Unterschied?
„Eine verwegene Theorie." Kälte und Arroganz fehlten dieses eine Mal völlig in seiner Stimme, obwohl beides doch in diesem Moment so essentiell wichtig gewesen wäre.
„Vielleicht ist es auch nur ein Wunschtraum, aber ein schöner oder nicht?" Severus schnaubte verächtlich und blickte Harry in die Augen, die leicht geschlossen waren, obwohl der Jüngere mit aller Macht gegen die Müdigkeit ankämpfte.
„Für wen?" Das Lächeln auf Harrys Gesicht wurde nur breiter.
„Nur für mich. – Ich weiß, daß ich Sie verletzt habe. Aber was ich damals getan habe, kann ich jetzt nicht mehr gut machen, dafür ist es viel zu spät. Alles, worum ich bitten kann, ist eine zweite Chance und ich glaube, Sie sind bereit sie mir zu geben." Harry suchte in Severus' Gesicht nach einer Reaktion, irgendeiner. Doch er fand nichts. Nichts was ihn widerlegte, nichts was ihn bestätigte.
„Ich hatte aber gehofft, daß ich wieder gut machen könnte, was ich heute angerichtet habe." Severus' Augen verengten sich ein wenig. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Harry freiwillig auf seinen Alptraum und damit auf den Erinnerungsflash zu sprechen kommen würde. Aber andererseits hatte er auch nicht erwartet, daß er so schnell wieder aufwachen und dann auch noch nach ihm suchen würde. Scheinbar war Harry wirklich noch immer für eine Überraschung gut, worum es auch ging.
„Es tut mir leid, Severus!" Severus blickte auf.
„Ich weiß nicht genau, was ich getan habe, aber ich kann es mir denken. Ich erinnere mich nur noch an den Traum, daß alles so realistisch war! So realistisch, daß ich wirklich dachte, es nicht nur zu träumen, sondern zu erleben.
Was ich auch immer getan hab, es ging nicht wirklich gegen dich, das mußt du mir glauben!" Severus sah die plötzliche Verzweiflung in dem eben noch so merkwürdig ruhigen Jungen, die Angst in den jetzt wieder weit aufgerissenen Augen. Er sah das Zittern, das Harry krampfhaft zu unterdrücken versuchte, indem er die Hände fest ineinander verkrallte und gegen seine Beine preßte. Severus wollte nach ihm greifen, ihm sagen, daß es gut war, aber kein Muskel rührte sich, sein Befehl wurde von seinem Körper einfach ignoriert.
Harry sprang auf, überbrückte die letzte Distanz zwischen ihnen. Und jetzt war er es, der die Hand ausstreckte und ihm gelang es tatsächlich. Vorsichtig berührte er die aufgeplatzte Lippe des Älteren, legte den Kopf ein wenig schief. Erste Tränen quollen aus seinen Augen hervor.
„Das war ich. Oh Gott, das war ich. Es tut mir so leid! Aber du mußt mir glauben, ich wußte nicht, daß du es bist! Bitte! Ich hätte doch nie... Oh verdammt!"
„Harry!" endlich gehorchte seine Stimme und auch seine Armen schienen es sich endlich anders überlegt zu haben, als er die Oberarme des Jüngeren schließlich in seinen Händen fühlte.
„Bitte! Ich weiß, daß ich das nicht hätte tun sollen! Schick mich nicht fort!" Sanft schüttelte Severus Harry an den Schultern und versuchte, ihn aus der nahenden Panikattacke heraus zu holen, bevor sie ihn vollends erfaßte.
„Sieh mich an, du dummer Junge!" fuhr er ihn dabei an und schaffte es wirklich, zu Harry durchzudringen, denn im nächsten Moment hob Harry den Blick und sah ihm in die Augen. Angst und Panik verdunkelten das klare Grün. Severus schüttelte leicht den Kopf.
„Bis eben hast du es so gut gemacht, so vernünftig und jetzt redest du so einen Blödsinn", schalt er ihn nicht wirklich ernsthaft. Erleichtert stellte er fest, daß wohl auch Harry das begriff, denn seine verkrampfte Haltung entspannte sich ein wenig.
„Ich hab Angst", flüsterte Harry kaum hörbar. „Ich wollte das nicht. Aber der Traum.. das alles. Ich..."
„Harry, hör mir zu." Harry schüttelte noch immer den Kopf und wollte erneut ansetzen, doch Severus unterbrach ihn sofort, indem er sein Kinn umfaßte und ihn zwang, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Hey, du bleibst jetzt ganz ruhig, verstanden?" Harry schluckte, zögerte, nickte schließlich.
„Gut. – Ich werde dich nicht wegschicken, Harry. Ich hab nicht einmal die leiseste Idee, wie du auf so etwas Absurdes überhaupt kommst, aber es wird auf keinen Fall passieren. Du wirst vielleicht eines Tages gehen, weil du es willst, aber ganz sicher nicht, weil ich dich fortschicke und noch viel sicherer nicht in den nächsten Wochen und Monaten.
Hör endlich auf, dich für deinen Traum zu entschuldigen. Ich werfe ihn dir doch nicht vor." Wieder tastete Harry nach der leicht geschwollenen Lippe des Älteren und war durch seine große Aufregung nicht einmal ein wenig darüber verwundert, daß Severus es zuließ. Beim ersten Mal hatte man vielleicht noch Überraschung vorschieben können, aber jetzt?
„Das ist nicht schlimm, Harry. Das heilt." Wieder schüttelte Harry den Kopf, leckte leicht über seine trockenen Lippen.
„Aber du bist weggelaufen. Warum?" Jede noch so kleine Dummheit fiel doch immer wieder auf einen zurück, stellte Severus mit wenig Verwunderung fest.
„Ich bin nicht weggelaufen, Harry. Ich wollte nachdenken." Harry schnaubte.
„Ich erkenne es, wenn jemand wegläuft. Das ist etwas, das ich besonders gut kann, also erzähl mir hier nichts vom Pferd, Severus. Du bist weggelaufen."
„Ist das so wichtig, Harry?" Severus' Stimme hatte einen sehr eindringlichen Ton angenommen.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich würde nur gerne wissen, warum du weggelaufen bist. Erträgst du es nicht mehr, bei mir zu sein? Erträgst du es nicht, mich zu sehen? Das was ich bin?" Severus Augen weiteten sich ein wenig.
„Harry..."
„Ich hatte immer Angst, dir unter die Augen treten zu müssen und zugeben zu müssen, was ich bin. Ich wußte, daß es nicht mehr gut genug für dich sein würde. Ich hätte es so gerne besser gemacht. Ich hab alles versucht. Alles... Aber ich kann es verstehen. Es ist nicht schlimm. Schlimmer als sonst, aber nicht so schlimm, daß ich es nicht überleben würde."
„Wovon redest du?" Harrys konfuses, schnelles Geplapper und die panisch zitternde Stimme des Jungen verwirrten ihn fast noch mehr, als das, was Harry sagte.
„Davon, daß du mich abstoßend findest. Viele Menschen empfinden das, wenn sie mich sehen, ich bin es inzwischen gewohnt. Ich hatte mir nur so sehr gewünscht... Nein, nein, es ist nicht..." Doch Harry brachte seinen Satz nicht zu Ende. Unaufhörlich rannen die Tränen über seine Wangen und ein Schluchzen schließlich erstickte seine Worte. Ohne darüber nachzudenken, warf Harry sich in Severus' Arme, schlang seine eigenen um den Hals des Älteren und ließ den Tränen freien Lauf. Er wußte ja, daß er in der letzten Zeit zu oft weinte, aber er wollte es einfach rauslassen, es fühlte sich immer so gut an, wenn er seinen Gefühlen Luft machen konnte.
Und was hatte er schon zu verlieren? Severus würde schon nicht noch schlechter von ihm denken, als er es ohnehin schon tat.
Vorsichtig legte Severus die Arme um die Taille des Jungen. Noch immer verspürte er ein wenig Angst davor, ihn zu berühren und ihn so nah kommen zu lassen, aber er wußte, daß es genau das war, was er jetzt tun mußte. Er mochte Angst haben, aber Harry war derjenige, dessen Wunden so tief saßen, daß andere mit ihren eigenen Problemen erst einmal in den Hintergrund treten und sich zusammen reißen mußten. Zum Beispiel Zaubertranklehrer, die sich wie verstörte Kinder aufführten, weil sie es persönlich nahmen, daß man sie in einem furchtbaren Erinnerungsflash für jemand anderen gehalten hatte.
Einen Moment lang konnte Severus sogar über sich selbst lächeln.
„Harry, ist es denn wirklich so schwer, mir einfach nur zu vertrauen? Ich hatte gehofft, du würdest es endlich tun." Harry schniefte und drückte sich noch ein wenig enger an Severus.
„Ich werde dich nicht wegschicken. Was da heute nacht passiert ist, war doch etwas, was du nicht absichtlich getan hast. Du hast geträumt. – Und ich finde dich garantiert nicht abstoßend. Ich wüßte nicht, warum ich das tun sollte." Harry verkrampfte sich ein wenig in Severus' Armen
„Weil... weil ich... es gibt Schmutz, den man einfach nicht mehr abwaschen kann!" Severus schloß die Augen und verstärkte den Druck seiner Arme um die Taille des Jungen ein wenig. Oh ja, sie kamen der Sache so nah und das widerliche kleine Gefühl in ihm, das sich mit seiner verräterischen inneren Stimme zusammen getan hatte und ihm nun Dinge zuflüsterte, die er gar nicht hören wollte, ließ sich nicht lange bitten.
„Was ist das für ein Schmutz?" drängte Severus den Jüngeren sanft, weiter zu reden, doch wieder schüttelte Harry nur den Kopf, sein Schluchzen wurde lauter. Vorsichtig löste Severus eine Hand vom Rücken Harrys und ließ sie zum Hinterkopf des Jungen wandern. Wieder wehrte Harry sich nicht gegen die Zärtlichkeiten von Severus' Hand, die durch Harrys wirres Haar fuhr, sanft einige Knoten löste und eine angenehme Wärme durch den Körper des jungen Mannes schickte.
„Shh, Harry, ganz ruhig. Es gibt keinen Grund, daß du Angst haben mußt. Nichts, was du getan hast, kann so furchtbar sein, wie du glaubst. Und glaub mir, ich will dir wirklich helfen. Aber um das tun zu können, mußt du mir vertrauen. Ich kann dir nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist, warum du solche Angst hast.
Du mußt es mir nicht heute erzählen. Aber versprich mir, daß du darüber nachdenkst und dann zu mir kommst, wenn du bereit bist, mir alles zu sagen. Kannst du das tun?" Harry zögerte einen Moment lang und nur schwer konnte Severus sich davon abhalten, den Atem anzuhalten. Doch dann nickte Harry endlich.
„Gut. Wir schaffen das schon, Harry. Und jetzt komm. Du bist eiskalt. Ich bring dich ins Bett." Nur mühsam schaffte er es, Harrys verkrampfte Hände so weit zu lösen, daß er den immer noch vollkommen aufgelösten Jungen auf den Arm nehmen konnte. Den wertvollen Umhang warf er sich fast achtlos über die Schulter und ging mit seiner kaum schweren Last auf die Tür des Turms zu.
So ruhig er auch Harry gegenüber schien, in ihm raste alles. Gedanken, Stimmen, Gefühle, nichts schien mehr noch in geordneten Bahnen zu laufen. Severus wollte schreien, weinen, lachen, am liebsten alles auf einmal. Aber nichts davon taugte, um Harry zu helfen, also schlug er sich alles davon gleich aus dem Kopf.
Harry brauchte jemanden, an den er sich anlehnen konnte. Niemanden, der selbst vor Unsicherheit und Angst zitterte wie ein Kind.
Harry war überrascht, als er fühlte, wie Severus ihn von den Füßen hob und auf den Arm nahm, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Doch im Prinzip war er ihm dankbar, daß er den Kontakt nicht brechen mußte.
Ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, daß ihn jetzt jeder, der ihnen eventuell trotz der späten Stunde noch über den Weg laufen konnte, sehen konnte, vergrub Harry sein Gesicht im Umhang des Zaubertranklehrers, atmete den Geruch des älteren Mannes ein und versuchte, sich zu beruhigen.
Vertrauen. Er wollte Severus vertrauen, wußte daß er wohl einer der wenigen Menschen war, denen er überhaupt vertrauen konnte. Aber dennoch, irgendwie ging das nicht so leicht, wie er sich das vorgestellt hatte. Was wenn er Severus die Wahrheit wirklich sagte? Würde der andere dann zu dem stehen, was er gesagt hatte? Würde er sich wirklich nicht abgestoßen fühlen?
Harry konnte es einfach nicht glauben. Er wollte es, aber sein Wille und sein Verstand prallten in dieser Frage erbarmungslos aufeinander.
Der Weg zurück in den Kerker erschien Severus unendlich lang. Aufmerksam beobachtete er auf seinem Weg alles ganz genau, aber inzwischen war es schon so spät, daß sich wohl selbst die verwegensten Schüler nicht mehr im Schloß herum trieben und auch die Lehrkörper, die heute Aufsicht gehabt hatten, längst in ihren Betten waren.
Doch genauso aufmerksam wie seine Umgebung beobachtete Severus auch den jungen Mann in seinen Armen. Zufrieden registrierte er, daß Harry sich mit jeder Minute, die er so von ihm durch das Schloß getragen wurde, immer mehr entspannte. Und als er schließlich seine Räume erreicht hatte und den jungen Mann wieder auf seinem Bett ablegte, war Harry schon fast eingeschlafen.
„Nicht weggehen", murmelte Harry verschlafen, nachdem Severus ihn sanft zugedeckt hatte und mühte sich damit ab, die Augen wieder zu öffnen, deren Lider aber immer fester zusammen zu kleben schienen.
„Keine Angst, ich bin sofort wieder da. Ich will nur nicht in meinen Kleidern schlafen", sagte Severus und streichelte Harry noch einmal über den Kopf, bevor er sich rasch umzog. Noch immer beobachtete Harry ihn aus kaum geöffneten Augen und über seine Lippen glitt ein winziges, müdes Lächeln, als Severus wirklich kaum eine Minute später unter die Decke schlüpfte.
„Schlaf Harry. Ich bin hier und gehe nicht weg, versprochen." Harry lächelte und schloß gehorsam die Augen. Keine fünf Minuten später waren seine Atemzüge so regelmäßig, daß Severus sich sicher war, daß er schlief.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den schlafenden, jungen Zauberer, strich ihm vorsichtig das Haar aus dem Gesicht und anschließend über die blasse Narbe auf seiner Stirn. Noch immer begriff er nicht vollkommen, was eigentlich genau in dieser Nacht passiert war. Er konnte nicht wirklich sagen, warum es ihm plötzlich die Luft abgeschnürt hatte, mit Harry im selben Raum zu sein. Er wußte einfach nur, daß es so gewesen war und er in diesem Moment einfach rausgemußt hatte. Nicht im Traum hatte er daran gedacht, daß das eine solche Reaktion in Harry hervorrufen konnte.
Und was war das für eine Sache, von der Harry gesprochen hatte? Warum glaubte er, daß er ihn für abstoßend halten würde? – Weil er damit vermutlich angedeutet hatte, daß auch er genau wie Adrian sein Geld auf dem Strich verdient hatte? Der Ausdruck auf Severus Gesicht wurde etwas weicher, die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen weniger tief.
Niemals konnte er ihn deswegen abstoßend finden, wenn es wirklich so sein sollte. Das war eine schlimme Sache, aber doch kein Grund, sich von ihm abzuwenden.
Doch Severus wußte auch, daß Harry vermutlich solcher Ablehnung schon mehr als einmal begegnet war. Und vermutlich war er noch lange nicht so weit gewesen, damit umgehen zu können. War das der Moment gewesen, in dem sich der Schalter umgelegt hatte und Blut nicht mehr genug war?
Es gab nur einen, der all diese Fragen beantworten konnte, aber gerade den durfte man nicht drängen, auch wenn Severus all diese Fragen auf der Seele brannten.
„Vertrau mir, Harry. Vertrau mir einfach", murmelte der Zaubertrankmeister. Langsam näherte sich sein Gesicht dem von Harry, zögerte, näherte sich weiter. – Severus schloß die Augen, als er dem schlafenden Jungen einen winzig kleinen, federleichten Kuß auf die Lippen gab und sein Herz machte einen gewaltigen Sprung.
Mit einem letzten Blick auf Harry murmelte er: „Nox", und das Licht im Raum erlosch.
TBC
Kleines Goodie. Wer sich wirklich die Mühe macht, kann im oben genannten LiveJournal einen Link zu dem Lied finden, das mir sehr viel Inspiration zu diesem Kapitel gegeben hat (wenn auch der Stil wohl nicht jedermanns Geschmack sein wird XD)
Wer es sich runterladen will, braucht noch eine Kleinigkeit, denn der Bereich ist mit einem Passwort gesichert. Benutzername: Adrian, Passwort: blueeyes
Bitte Groß- und Kleinschreibung beachten, sonst klappt et nich.
