Da bin ich wieder, pünktlich zu Weihnachten mit dem Weihnachtskapitel. Ich muß es jetzt leider mit allen Tippfehlern hochladen, weil meine arme Beta Kiki sich eine Mördererkältung eingefangen hat und ich deshalb die Korrektur von ihr noch nicht zurück hab. Da ich gleich zu meinen Eltern fahre, dort kein I-net habe, das Kapitel aber unbedingt noch vor Weihnachten hochladen wollte, müßt ihr wohl oder übel mit meinen Fehlern leben. Ich bitte, das dieses eine Mal zu verzeihen -:verbeug:-

Wie ihr feststellen werdet, hat sich auch wieder was an der Formatierung getan. Ich habe eine - wenig schöne - Zeichenfolge verwendet, um die Szenen zu trennen, aber wenigstens werde diese Zeichen nicht automatisch rausgelöscht. Zu gütig, -:grummel:-

Kapitel 8 gibt es auch bald. Ich bin gestern mit dem Schreiben fertig geworden, muß es nur überarbeiten und schicke es dann gleich zur Beta, wenn ich wieder da bin. Ich hab noch nicht alle Reviews beantwortet, aber zu den meisten findet ihr die Antwort auch diesmal wieder im oft erwähnten LifeJournal (Link im Profil). Bis die Tage dann!


Kapitel 7

Über Mauern und Grenzen hinweg

Das leise Rascheln der Laken war es, was Harry am nächsten Morgen weckte. Müde blinzelte er, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, und streckte sich vorsichtig, um Severus nicht zu wecken.

Der Schlaf hing ihm noch immer wie Blei in den Augen und sein ganzer Körper fühlte sich merkwürdig dumpf und schlaff an, gerade so, als hätte er wieder etwas eingenommen. Aber das war ja unmöglich. Er war hier bei Severus, der niemals zulassen würde, daß er etwas mit einer solchen Wirkung einnahm. Selbst den Trank des Traumlosen Schlafes gab er ihm nur höchst selten und Harry wußte, wie klug das war, auch wenn er ohne Hilfsmittel selten ruhig schlief.

Und trotzdem war heute etwas anders. Stirnrunzelnd drehte er sich auf die Seite und blickte nachdenklich in Severus' schlafendes Gesicht. Irgendwas mußte doch gewesen sein, irgendwas... zunächst konnte Harry sich nur sehr mühsam und bruchstückhaft an den Streit des vergangenen Abends erinnern, doch mit etwas Anstrengung wurde das Bild immer klarer und schließlich kamen auch die Ereignisse der Nacht mit einem gewaltigen Schlag zu ihm zurück.

Harry riß die Augen auf, vermied es aber, irgendein Geräusch zu machen, das den Älteren wecken konnte. Sein Herz raste und sein Atem beschleunigte sich, als sich Puzzlestück für Puzzlestück in seinem Gedächtnis wieder zusammen setzte. Und obwohl er sich auch an Severus' Worte erinnern konnte, wurde er noch immer das Gefühl nicht los, daß die Ereignisse der vergangenen Nacht doch nur eine Katastrophe gewesen sein konnten.

Zitternd kam seine rechte Hand unter der Decke hervor und er fuhr sich mit ihr durchs Haar, vergrub seine Finger fest in den verknoteten Strähnen und zog ein wenig, in der törichten Hoffnung, vielleicht noch nicht wirklich wach zu sein.

Er spürte den leichten Schmerz zwar kaum, aber er spürte ihn. Er war wach, das alles war kein böser Traum. – Und vielleicht war es auch besser so. Böse Träume hatten ihn schließlich erst in diese Situation gebracht, er hatte also in der letzten Zeit eindeutig zu viele davon.

Nervös löste er seine Hand aus seinen Haaren und bedeckte sich statt dessen mit ihr die Augen. Nein, das war nicht gut. Severus würde Antworten wollen. Es war nur allzu verständlich, wer konnte ihm das absprechen? Aber das mußte ja nicht heißen, daß Harry diese Antworten auch geben wollte. Das einzige, was er wirklich wollte, war diese ganze Sache so schnell wie möglich zu vergessen.

Aber es war auch damit wie mit allem in seinem bisherigen Leben. Man würde ihn nicht fragen, was er wollte. Weder seine Erinnerungen, noch sein Gedächtnis, das sie so gewissenhaft aufbewahrte. Severus, ja der würde vielleicht fragen, vielleicht sogar nach Harrys Entscheidung handeln, aber im Grunde würde er sich damit nie zufrieden geben können. Die Fragen würden in ihm stets weiterbrennen, wie es die antwortenden Erinnerungen in Harry tun würden.

Ärgerlich stieß Harry einen Schwall Luft aus, zuckte bei dem zischenden Geräusch aber sofort wieder zusammen. Ein hektischer Blick auf Severus zeigte ihm jedoch, daß er den anderen immer noch nicht geweckt hatte.

Harrys Züge wurden ein wenig weicher und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Wie ungewöhnlich für den Älteren, so fest zu schlafen. Vermutlich forderte der Körper des Zaubertrankmeisters endlich seinen Tribut für alles, was er ihm wegen Harry die letzten Wochen zugemutet hatte.

Und es war gut so. Harry war nicht blind gewesen, wußte nur zu genau, wie wenig von der scheinbar unerschöpflichen Kraft des anderen noch übrig geblieben war. Es waren nur kleine Dinge, die Severus verraten hatten. Fahrige Gesten, ein müdes Leuchten in den schwarzen Augen, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Ein kurzes Zögern am Morgen, bevor er aufstand, um ins Badezimmer zu gehen.

Harry war all das aufgefallen und auch wenn ihm ein direkter Vergleich zu einem vollkommen ausgeruhten Severus fehlte, konnte er alleine an dem Unterschied zwischen Anfang Oktober und jetzt schon ausmachen, daß es so sein mußte.

Und noch immer war ihm nicht wirklich klar, warum Severus das alles für ihn tat. Er hatte immer geglaubt, daß es schon kühn war, darauf zu hoffen, daß dieser ihn nach seiner Rückkehr nach Hogwarts als Freund annehmen würde. Mit einer solchen Opferbereitschaft, einem solch hohen Maß an Selbstaufgabe, hatte er nicht im Traum gerechnet.

Es überwältigte Harry, schnürte ihm ein wenig die Luft ab, verursache aber auch ein sehr warmes Gefühl in seinem Herzen. Und wenn er sich nicht schwer täuschte, dann wurde das Gefühl auch von Tag zu Tag immer ein wenig wärmer und stärker.

Mit einem Lächeln kuschelte Harry sich wieder etwas tiefer in die Kissen, zog die Decke über seine Schultern und blickte Severus unverwandt ins Gesicht. Entspannt und friedlich und nicht mehr so müde und angespannt, wie es während des Tages wirkte. Was hätte Harry nicht darum gegeben, Severus auch während seiner Wachphasen öfter mal so zu sehen.

Severus Gesicht ohne Sorge, ohne Groll, fast ohne harte Linien. Wahrscheinlich konnte man das zu einem Lebensziel machen und würde es doch nie erreichen. Selbst in der Lebensspanne eines Zauberers nicht.

Aber es war nicht das erste Mal, daß diese Erkenntnis Harry nichts ausmachte. Er wünschte sich zwar, das schaffen zu können, und wenn es nur für die Zeit war, wenn sie beide absolut alleine und unbeobachtet waren, aber gleichzeitig war ihm auch klar, daß er Severus auch so liebte, ihn auch so immer anziehend finden würde.

Einen Moment stockte Harry der Atem und seine Hand unter der Decke verkrampfte sich in den Zipfel des Kissens.

Das war es wohl oder? Darum war so wichtig, was Severus dachte, was er sagte, was er tat. Darum war es so wichtig, daß er nicht erfuhr, was Harry wirklich war. Und hatte Adrian es nicht schon vor einer Weile so deutlich ausgesprochen?

Harry hatte seinem Freund damals widersprochen, hatte von tiefer Freundschaft und Zuneigung geredet, aber den Gedanken an Liebe in einem anderen Sinne – einem viel körperlichen, leidenschaftlicheren Sinne - weit von sich geschoben. Aber genau das war es doch. Was brachte es ihm, davor wegzulaufen? Doch nur noch mehr Kummer, als sich an eine hoffnungslose, aber wenigstens eingestandene Liebe zu klammern.

Harrys Blick wanderte wieder zu Severus' Gesicht und mit einem Mal schimmerten die grünen Augen des Jüngeren feucht, bildeten sich Tränen an den Unterlidern, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten und schließlich frech und unerwünscht einfach lösten, um ihm heiß über das Gesicht zu laufen. Hoffnungslos. Eine klare Sache von Anfang an oder etwa nicht? Warum tat es dann so verdammt weh?

Hastig wischte Harry die Tränen weg und schluckte das würgende Gefühl in seinem Hals hinunter. Es war doch gut so. Er war überhaupt nicht bereit für so etwas. Was er brauchte, war eine leitende Hand, eine Zuflucht, jemanden, der ihn verstand. Gefühle, mit denen er nicht zurecht kam, standen mit Sicherheit nicht auf dieser Liste. Alles in ihm sagte ihm das nur zu deutlich. Angst, sich auf diese Weise auf jemanden einzulassen. Befangenheit, bestimmte Berührungen zuzulassen, selbst wenn sie von Severus kamen. Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Er konnte sie jetzt schon hören, all diejenigen, die ihm sagen würde, daß er nur glaubte, Liebe für Severus zu empfinden. Daß das alles in Wahrheit nur falsch interpretierte Dankbarkeit war.

Er konnte Sirius hören, wie er ihm auszureden versuchte, was er sich angeblich nur einredete. Er konnte Remus' sanfte, goldene Augen sehen, die einen besorgten Ausdruck angenommen hatten, weil er nicht mit der Situation einverstanden war, auch wenn er das niemals so wie Sirius geäußert hätte.

Er konnte das Entsetzen fühlen, mit dem Ron ihm begegnen würde und Hermine würde es als Unrecht empfinden, als Abhängigkeit von Severus, die dieser ausnutzte. – Oder sie würde die einzige sein, die ihn verstand. Bei Hermine war Harry sich nicht sicher. Nicht, nachdem sie ihm in seinen letzten Wochen an der Schule so fremd geworden war.

Und wieder hielt Harry inne. Begriff erst, nachdem all diese Gedanken gedacht waren, was sie überhaupt bedeuteten. Er rechnete zum ersten Mal wieder die Menschen in sein Handeln mit ein, die er früher als seine Familie und Freunde betrachtet hatte. Die Menschen, die bis dato eigentlich noch gar nicht wußten, daß er überhaupt noch am Leben war.

Und wenn sie jetzt wieder mit auf der Rechnung standen, war es dann auch an der Zeit? War es schon so weit? Noch vor kurzem hatte er sich doch so weit davon weg gefühlt.

In diesem Moment wünschte Harry sich nichts mehr, als daß das schlaffe Gefühl ihn einfach nur müde machen und zurück in den Schlaf lullen würde, statt ihn einfach nur von jeder Art von Bewegung abzuhalten und dafür Platz für Grübeleien zu machen, mit denen er noch nichts am Hut haben wollte.

Überhaupt kam er hier von Hundertstel ins Tausendstel und wollte das alles doch gar nicht. Sirius, Remus, Ron, Hermine? Nein, dafür war doch überhaupt noch kein Platz.

„Scheiße", flüsterte Harry fast verzweifelt. „Du mußt den Kopf leer kriegen, Harry. Erinnere dich einfach daran, was Severus dir beigebracht hat. Du warst nie gut darin, aber das heißt nicht, daß du es nicht wenigstens ein bißchen kannst", beschwor er sich selbst und kam sich gleichzeitig so albern vor, weil er sich das alles selbst vorflüstern mußte, um diese Beschwörung überhaupt bis an sein Bewußtsein zu bringen.

Aber tatsächlich wurde er ein wenig ruhiger. Sein Kopf leerte sich nicht, all die Gedanken waren noch da, aber sie verstummten, drängelten sich nicht weiter in den Vordergrund. Harry atmete erleichtert durch. Das waren einfach zu viele Katastrophen auf einmal, wenn man ihn fragte. Sich in Severus zu verlieben...

Wieder richtete Harry den Blick auf das Gesicht des Älteren. Nein, sich in Severus zu verlieben, erschien ihm schon lange nicht mehr so unwahrscheinlich oder gar unvorstellbar, wie es noch zu seiner Schulzeit gewesen war. Es war sogar irgendwie fast logisch. Nicht daß Harry glaubte, etwas über die Liebe zu wissen, aber so, wie er sie sich vorstellte, war sie vor allem ein Gefühl, das sich langsam aus anderen Gefühlen entwickeln konnte.

Aus einfacher Dankbarkeit und Zuneigung konnte sich nach seiner Vorstellung sehr leicht Liebe entwickeln, die sich dann auch kein Stück um irgendwelche Unterschiede kümmerte wie sie zwischen Severus und Harry bestanden. Dieses Gefühl interessierten weder Alter, noch Fehler aus der Vergangenheit.

Vielleicht war es ja blauäugig von ihm, das zu denken, aber so stellte er es sich vor und so empfand er es im Moment, und das konnte nicht einfach falsch sein. Wer das behauptete, machte es sich nur zu einfach, wollte etwas beiläufig abtun, nur weil er es nicht für möglich hielt.

Das alles wußte Harry, dem war er sich so sicher. Warum also zweifelte er trotzdem daran, daß er das auch alles so umsetzen und vor anderen behaupten konnte?

Grenzen und Mauern, überall standen sie ihm im Weg rum. So hoch, so dick, so stark befestigt, daß sie ihm allesamt unüberwindbar schienen, obwohl der Weg doch so klar war.

Weil sie nicht räumlich waren, kam es Harry in den Sinn. Früher waren seine Grenzen räumlich und greifbar gewesen. Kammern unter Treppen, verschlossene Türen, Gitter vor den Fenster, Zauberverbot für minderjährige Zauberer außerhalb von Hogwarts, Tante und Onkel. Das alles hatte eine Form gehabt und einen Schwachpunkt. Irgendwo war immer einer gewesen. Aber jetzt? Jetzt waren seine Grenzen nur noch emotional und damit irgendwie unantastbar.

„Worüber grübelst du am frühen Morgen schon nach, Harry?" Erschrocken blickte Harry auf und geradewegs in das unergründliche Schwarz von Severus' Augen, die noch immer ein wenig schlafverschleiert waren, aber trotzdem wachsam auf seinem Gesicht ruhten. Er hatte gar nicht bemerkt, daß Severus aufgewacht war und jetzt hatte er schon wieder etwas gesehen, das Fragen hervorrief, die Harry ihm nicht beantworten konnte. Er war nicht gut in diesem Spiel, so viel stand fest.

Aber wie sollte er auch? Er wußte ja nicht einmal genau, was es für ein Spiel war.

„Guten Morgen", murmelte er etwas verlegen und senkte den Blick wieder. Severus kämpfte einen Arm unter der warmen Decke hervor und benutzte ihn dafür, die Decke ein wenig platt zu drücken, um Harrys Gesicht besser sehen zu können, das dieser hinter der Decke zu verbergen versuchte.

„Guten Morgen. Du hast wohl nicht gut geschlafen."

„Doch. – Zumindest traumlos." Die winzige Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf Severus' Lippen. Die Befangenheit, die von Harry ausging und langsam auch ihn anzustecken drohte, war ihm mehr als unangenehm. Noch eine Minute zuvor, als er den grübelnden jungen Mann heimlich beobachtet hatte, war er sich so sicher, daß er dieses Gefühl losgeworden war, daß ihm die vergangene Nacht gezeigt hatte, wie sehr Harry seine Stärke noch brauchte. Und kaum hatten sie zwei Sätze gewechselt, war diese ganze Sicherheit schon wieder beim Teufel.

„Ich wäre ziemlich enttäuscht, wenn es anders gewesen wäre. Immerhin war das eines meiner Beruhigungsmittel", entgegnete Severus schließlich und versuchte, dabei so normal wie möglich zu klingen, obwohl er spürte, wie seine Stimme zittern, gegen eine seidige, fließende Tonlage aufbegehren wollte.

„Es tut mir leid, daß es... überhaupt nötig war." Severus Gesichtszüge verhärteten sich ein wenig.

„Entschuldige dich niemals wieder für etwas, für das du nichts kannst, Harry. Was heute nacht geschehen ist, lag nicht in deinen Händen. Geist und Unterbewußtsein sind so oft stärker als wir und wenn sie sich deiner bemächtigen, dann kannst du nur hoffen, daß du die Kontrolle zurück gewinnst.

Außerdem ist nichts passiert." Harry fuhr neben Severus hoch in eine sitzende Position. Er spürte, wie seine bleierne Müdigkeit mit einem Mal verschwand, ein aufgebrachter Ausdruck lag in seinen Augen und um seinen Mund, der durch die fast hohlen Wangen noch voller wirkte, als er wirklich war, seit sich die rissige Haut wieder geschlossen und eine gesündere Farbe auf seine Lippen zurückgekehrt war.

Es waren kleine Veränderungen, doch Severus bemerkte sie jedesmal mit immer größer werdenden Zufriedenheit und Erleichterung.

„Nichts passiert?!" brauste dieser Mund, von dem Severus sich nur sehr schwer losreißen konnte, jetzt auf. „Du bist gut", fügte er viel leiser hinzu und blickte unter sich. Er konnte nicht sehen, wie Severus eine Augenbraue leicht anhob. Äußerlich war das die einzige Reaktion in ihm, aber innerlich hatte sein Herz gerade wieder einen Sprung gemacht. Diesmal war Harry nicht wütend oder hatte seine Fassung verloren. Und dennoch so vertraut. Hieß das...?

„Es ist nur ein Kratzer, Harry. Und jetzt hör endlich auf, dir wegen dieser dummen Schramme den Kopf zu zerbrechen. Ich war heute nacht nicht wütend auf dich und ich bin es jetzt nicht. Warum mußt du dir unbedingt einreden, daß du etwas Furchtbares getan hast?" Harry hob die dünnen Schultern und ließ den Kopf noch ein wenig mehr hängen. Ja, warum eigentlich? Irgendwie hatte er erwartet, daß ausgerechnet Severus es verstehen konnte, wenn man sich für alles und jeden verantwortlich fühlte, sich die Schuld an allem gab, so irrational das auch sein mochte.

Warum er das erwartet hatte, konnte er nicht sagen.

„Komm, laß uns aufstehen. Wir können beide ein gutes Frühstück vertragen."

„Nein, bitte..." begann Harry und hielt Severus so zurück, der gerade aus dem Bett steigen wollte. Fragend schaute der Ältere ihn an.

„Ich würde gerne... also ich..." Severus verdrehte die Augen.

„Raus damit oder muß ich deine Gedanken lesen, wenn ich wissen will, was dir vorschwebt?" Harry lächelte und schüttelte den Kopf. Er atmete durch und sprach so schnell er konnte, damit der Mut ihn nicht noch einmal verließ.

„Nein, schon gut. Ich würde gerne im Bett frühstücken... also mit dir zusammen, meine ich. Irgendwie möchte ich heute gar nicht aufstehen, sondern den ganzen Tag genau hier und genau so verbringen." Vieles hatte Severus erwartet. Appetitlosigkeit oder vielleicht einfach nur Trotz, vielleicht sogar, daß Harry ihm vorher noch irgendwas anvertrauen wollte, was die Ereignisse der letzten Nacht betraf, aber das... nein, das hatte er sicher nicht erwartet.

Jede Katastrophe hätte Severus Snape weniger erschüttert als diese Bitte. Und dennoch schlug er die bereits zurückgeschlagene Decke wieder über seine Beine und nickte.

„Gut, wenn du das möchtest, soll mir dein Wunsch Befehl sein." Severus kam sich unsicher und albern vor, aber Harry schien beides nicht zu bemerken, denn er schenkte ihm zur Antwort das, was er sich am meisten von ihm wünschte. Sein Lächeln.

:----:

„Ich muß sagen, ich bin zutiefst gerührt."

Halt die Klappe, du Klon."

So langsam machen mir die Gespräche mit dir fast wieder Spaß."

Na wenigstens einem von uns."

Warum bist du hier?"

Sollte ich das wissen?"

Natürlich solltest du. Aber es hätte mich gewundert, wenn du endlich deinen Grips eingeschaltet hättest. Du magst die Tassen haben, aber ich war doch schon immer die klügere Hälfte."

Und du hast eindeutig die dreckigere Lache von uns beiden. – Vielleicht... ich habe heute nacht sehr viel geträumt. Der letzte Traum war – der merkwürdigste."

Du wolltest sagen, der Schönste."

Woher willst du das wissen?"

Ich kann es fühlen. Was hast du geträumt?"

Ich habe von Ruhe geträumt, von Frieden und von Glück. Ich habe mich glücklich gefühlt."

Weiter."

S...Severus war auch da. Ich glaube, er war der Grund, daß ich so glücklich war."

Welch Überraschung. Warum?"

Wir haben uns geküßt."

Das..."

... überrascht dich, ich weiß."

Woher."

Ich... ich kann es fühlen... irgendwie. Das fühlt sich merkwürdig an. Ist das immer so?"

Nur so lange wir als zwei Teile existieren. Später fällt es nicht mehr auf. – Du hast keine Ahnung, was das bedeutet oder?"

Der Kuß?"

Nein, daß du das gerade gefühlt hast, du Blödmann. Du hast meine Emotionen gefühlt. Das ist großartig."

Du freust dich ja wirklich darüber."

Kannst du das fühlen?"

Ja. Das ist so merkwürdig. – Aber noch viel mehr interessiert mich, was du von diesem Traum denkst."

Oho, schon wieder eine großartige Premiere, dich interessiert, was ich denke."

Wärst du bloß nicht so ein nervendes Arschloch."

Du liebst mich doch dafür. – Ich denke, daß du ihn umsetzen solltest."

Spinnst du?!!"

Nein, eigentlich nicht. Was spricht dagegen? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, warum er das alles für dich tut? Warum er seine gesamte Freizeit für dich opfert, entgegen seiner Gewohnheiten lebt und handelt, nur weil du es dir wünschst? Harry, er hat den ganzen Samstag mit dir im Bett verbracht. Den ganzen Tag im Nachthemd und er war nicht todsterbenskrank. Du willst mir doch nicht wirklich sagen, daß du denkst, er würde das nicht nur machen, weil er sehr viel für dich empfindet."

Ich denke, er macht es, weil er sich verpflichtet fühlt und vielleicht auch, weil er mich mag. Aber mehr nicht. Für ihn bin ich doch immer noch nicht viel mehr als ein Kind. Was sollte da schon mehr sein?"

Du bist so ein Idiot. Warum läßt du es nicht einfach drauf ankommen?"

Weil ich Angst habe, daß er mich dann doch verläßt. Ich habe doch jetzt schon mehr, als ich mir jemals erhofft hatte."

Und vielleicht ist es viel weniger, als du erwarten kannst und du wirst es nie erfahren, weil du zu feige bist, es herauszufinden. ER wird den entscheidenden Schritt nicht machen, Harry und das weißt du auch zu genau."

Setz mich nicht unter Druck!"

Du setzt dich selbst unter Druck, ich will dich nur in eine Richtung stoßen, die dich aus diesem Druck herausführt."

Weißt du, so langsam habe ich das unbestimmte Gefühl, daß ich dich doch lieber mochte, als du mich mit meinen Fragen noch hast gegen eine Wand rennen lassen."

Ich hatte ganz vergessen, was für ein verrücktes Wesen wir doch eigentlich sind. Höchst amüsant."

Haha, ich lach später."

Tu einfach, was ich dir sage, dann paßt es schon."

..."

Du kannst nicht ewig alles hinauszögern, Harry. Das Leben hält soviel mehr für dich bereit als nur ein paar halbe Sachen."

:----:

„Hm", brummte Dumbledore nachdenklich und rührte weiter langsam mit dem Löffel seinen Tee um, von dem er bisher noch nicht einen einzigen Schluck getrunken hatte, der sich aber zweifelsohne bereits der bestgerührte Tee in ganz England nennen konnte. „Das klingt gar nicht gut, Severus." Der Zaubertranklehrer nickte zustimmend und versuchte dabei gleichzeitig, Dumbledores Gesicht nicht aus den Augen zu lassen und die beständige Rührbewegung, die etwas faszinierend Beruhigendes auf ihn hatte, zu beobachten.

„Was denkst du, sollten wir jetzt tun?" Severus dachte einen Moment darüber nach. Ja, was dachte er, was man tun sollte? Weglaufen, alles vergessen, einfach so tun, als wäre diese Sache nie passiert. Am besten einfach so tun, als hätte es niemals einen Harry Potter gegeben. – Ein wenig bedauerte er es fast, daß diese Möglichkeit indiskutabel war.

„Ich schätze, wir müssen uns mit dem Gedanken befassen, daß wir in dieser Sache mehr Hilfe brauchen werden, als einer von uns beiden Harry geben könnte", räumte Severus schließlich vorsichtig ein. Er haßte den Gedanken, das Zepter in dieser Angelegenheit aus der Hand geben zu müssen, noch immer, aber diese Sache vor zwei Tagen...

Es war zu offensichtlich, daß es seine Möglichkeiten überstieg. Da mochte dieses Gefühl ihn ihm, das Harry absolut beanspruchte und mit niemandem teilen wollte, noch so wüten und toben. Wenigstens dieses eine Mal mußte die Stimme der Vernunft einfach lauter sein.

„Also eine professionelle Betreuung." Severus nickte.

„Gut. Daran dachte ich auch. – Das sollte kein Problem sein, schätze ich. Schwieriger als das Finden eines guten Meidzauberers stelle ich es mir allerdings vor, Harry davon zu überzeugen, diese Art von Betreuung anzunehmen. Sofern es keine Neuigkeiten zu dem Thema gibt, ist Harrys Auftauchen nach wie vor ein Geheimnis, richtig?" Wieder ein Nicken von Severus.

„Und wenn wir jetzt schon jemanden von außerhalb einschalten würden, würde Harry es sicher so auffassen, als hättest du dein Versprechen ihm gegenüber gebrochen, seine Existenz geheim zu halten."

„Es ist wahrscheinlich."

„Was schlägst du also vor?" Severus nahm einen Schluck von seinem eigenen – längst kalten – Tee und verzog ein wenig das Gesicht. Bitter.

„Ich hoffe, daß die Ereignisse vom Wochenende kein Hinweis darauf sein sollten, daß etwas aus Harry herausbricht und wir uns beeilen sollten, denn sonst tue ich wahrscheinlich genau das Falsche. Aber ich möchte, daß wir uns einen guten Psychologen für ihn suchen, diesen aber vorerst mit dem Fall noch nicht betrauen.

Harry hat versprochen, seine Existenz zu enthüllen, sobald er dazu bereit ist. Ich möchte ihm diese Zeit gerne geben. Sobald das geschehen ist und auch die Medien davon Wind bekommen haben, ist der meiner Meinung nach einzig richtige Zeitpunkt gekommen, Harry diesen Vorschlag zu machen."

„Meinst du nicht, daß eine Betreuung schon vorher Sinn machen könnte? Ein Psychologe könnte Harry den Schritt in die Öffentlichkeit erleichtern, ihn darauf vorbereiten, was auf ihn zukommt", wandte Dumbledore ein. Severus blickte einen Moment lang auf seine Hände, die gefaltet und scheinbar vollkommen ruhig in seinem Schoß lagen. Scheinbar, weil er das Zittern nur allzu deutlich fühlen konnte, das er mit aller Gewalt unterdrückte.

„Natürlich meine ich das. Ich kann Harry diesen Vorschlag auch machen, wenn du darauf bestehst, aber er wird nicht darauf eingehen."

„Du bist dir da ziemlich sicher." Severus nickte.

„Warum?" Der Zaubertrankmeister unterdrückte ein genervtes Seufzen, aber er hatte sich diese Sache selbst eingebrockt. Nichts und niemand hatte ihn gezwungen, mit Dumbledore über diese Geschichte zu reden, es war ihm einfach als das Richtige und sehr wichtig erschienen. Darum war er aus freien Stücken gekommen. Also mußte er jetzt wohl damit leben, daß Dumbledore auch fragte. Es war nur logisch.

„Weil Harry irrational, stur, bockig und in alledem unheimlich berechenbar ist. Bestimmte Themen sind für ihn ein rotes Tuch und ein Psychologe – darauf wette ich mit dir um alles, was du möchtest – würde im Moment eindeutig dazu gehören.

Er will mit mir über alles reden. Aber er kann es nicht. Ich glaube nicht, daß ich ihn im momentanen Stadium davon überzeugen könnte, daß das so durchaus nachvollziehbar ist, und er darum diesen Weg wählen soll." Dumbledore lächelte bei Severus' Worten und nahm endlich den ersten Schluck Tee aus seiner Tasse. Natürlich war auch dieser längst kalt, aber Dumbledore verzog keine Miene.

„Ich staune immer wieder", sagte er schließlich und das Lächeln war sogar aus seiner Stimme zu hören. Severus hob die rechte Augenbraue und sah den Älteren fragend an.

„So weich, so verständnisvoll, sogar einfühlsam. Man möchte nicht meinen, daß du es noch immer sein sollst, Severus. Ich könnte schwören, daß man dich gegen einen anderen vertauscht hat."

„Ich weiß nicht, was das zur Sache tut, Albus", entgegnete Severus abweisend und wich den funkelnden, blauen Augen des Direktors aus. Er wußte, er konnte vor Dumbledore nichts geheim halten, jedes noch so kleine Gefühl würde dieser erkennen, aber versuchen... ja versuchen konnte man es immer. Mußte er es immer.

„Nichts. Und doch irgendwie alles. Ich freue mich, das ist alles, Severus." Doch Severus kannte das Funkeln, kannte diese Fröhlichkeit in der Stimme des anderen und wußte nur zu genau, daß er schon lange und so vollkommen wie selten durchschaut war. Es störte ihn diesmal noch mehr als sonst.

Und Dumbledore erkannte das nur zu gut. Wie hätte es ihm auch entgehen sollen? Severus mochte so verschlossen sein, wie er wollte, Dumbledore hatte ihn bereits als kleinen Jungen gekannt. Und man mochte Dumbledore betiteln, wie man wollte, er konnte sich an jeden Schüler, der nicht vollkommen in der Masse untergegangen war, noch sehr gut erinnern. Manchmal erstaunte das sogar ihn und nicht nur einmal hatte er bereits angenommen, daß sein Gedächtnis nun endgültig überlaufen mußte, doch nie war es geschehen.

Severus war nie einer von denen gewesen, die in der Masse verschwunden waren. Auch wenn er es sich vielleicht manchmal gewünscht hatte, er war immer auf irgendeine Weise herausragend gewesen. Was Dumbledore in die Lage brachte, sich noch gut an viele Eigenarten des stillen, blassen Jungen zu erinnern, die der zynische, blasse Mann teilweise noch immer nicht abgelegt hatte.

Severus Snape war kein offenes Buch, weit gefehlt, aber für Dumbledore war er immerhin auch kein absolutes Rätsel mehr und längst hatte er Dinge gesehen, die Severus vielleicht vor ihm verbergen wollte, aber nicht konnte. – Warum Severus das wollte, stand dabei allerdings auf einem anderen Blatt. Dumbledore würde niemals verstehen, warum sein junger Kollege sich noch immer so beharrlich weigerte, ihm irgend etwas preisgeben zu wollen. Gewohnheit? Trotz? Grenzenlose Sturheit?

„Das ist aber noch nicht alles oder, Severus? Dir brennt noch etwas auf der Zunge." Ein kurzes Anspannen der Schultern zeigte Dumbledore, daß er Severus mal wieder ertappt hatte.

„Ich habe überlegt, daß ich vielleicht noch einmal nach London gehen sollte. Ich möchte noch einmal mit Adrian sprechen." Dumbledore nickte bedächtig und strich sich nachdenklich durch den langen Bart.

„Er hat deine Fragen schon beim letzten Mal nicht beantwortet", wandte er nach kurzer Bedenkzeit ein und endlich sah Severus ihn auch wieder direkt an. Entschlossenheit lag in den schwarzen Augen.

„Ich werde diesmal die Fragen anders stellen. Harry ist ihm wichtig, vielleicht sogar wirklich wichtiger als alles andere. Er will nicht, daß Harry verletzt wird. Und wenn er das vermeiden will, dann wird er wohl reden müssen." Wieder ein Lächeln auf den Lippen des Älteren Zauberers. Es kam Severus so vor, als wäre Dumbledore heute übermäßig zufrieden mit dem, was er tat. Vielleicht lag es aber auch nur daran, daß er sich so darüber freute, Teil des Ganzen sein zu dürfen.

„Wann möchtest du zu ihm gehen?"

„Ich weiß noch nicht. Es war nur eine Idee. Ein Gedanke, der mir als nicht ganz verkehrt erschien. – Ich will ihn mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen." Leichte Runzeln bildeten sich auf Dumbledores Stirn. Die ganze Zeit war Severus ihm so entschlossen erschienen und deshalb wirkte diese letzte Aussagen so merkwürdig unpassend. Irgendwie war sie unsicher und so ganz und gar nicht entschlossen. Gerade so als würde Severus von etwas sprechen, daß er tun mußte, aber um nichts in der Welt tun wollte.

Die Haut auf Dumbledores Stirn glättete sich wieder, als er diesen Gedanken fortführte und schließlich zu dem Schluß kam, daß es vermutlich genau das war. Severus wollte nicht mehr mit Adrian zusammen treffen. Adrian sollte ein Teil einer Welt sein, mit der weder Harry noch er in Zukunft irgendwelchen Kontakt hatte. Zumindest war das so, wenn Dumbledore seinen Lehrer für Zaubertränke richtig durchschaute. Er lächelte.

„Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist." Severus nickte zögerlich. Die Idee, Adrian noch einmal aufzusuchen, war ihm bereits am vergangenen Tag gekommen, aber erst jetzt, nachdem er es ausgesprochen hatte, nahm diese Idee auch so etwas wie eine reale Gestalt für ihn an. Und diese Gestalt gefiel ihm nicht.

Er war kindisch.


Es war eine immergleiche Prozedur, die Adrian und Harry in den letzten Tagen entwickelt hatten. Aufwachen, Fieber messen, neue Verbände anlegen oder vorher die Wunden reinigen, wenn es sein mußte. Ein Trott, wie Harry ihn schon lange nicht mehr erlebt hatte, der ihm aber unbegreiflich tröstlich erschien.

Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß er nicht wollte, daß dieser Trott jemals endete.

„Das sieht schon sehr viel besser aus. In ein paar Tagen ist das verheilt. – Aber es werden ziemlich häßliche Narben bleiben", bemerkte Adrian fast beiläufig, als er Desinfektionsmittel und Tuch zur Seite legte und nach einem neuen Verband griff, der ebenfalls bereits bereit lag.

„Das macht nichts", entgegnete Harry ebenso nebenbei.

„Hast recht, fällt ohnehin nicht auf." Diesmal stachen die Worte zu. Adrian hatte die unglaubliche Fähigkeit, Harry wirklich ein schlechtes Gewissen nur durch solch einfache Worte zu verpassen. Noch nie hatte er sich für die Narben geschämt, aber wenn Adrian so etwas sagte, dann wünschte er sich plötzlich, er hätte sie nie entstehen lassen.

Und er fragte sich, ob es wohl einen Weg gab, sie noch nachträglich verschwinden zu lassen. Allerdings verwarf er diesen Gedanken immer sehr schnell wieder. Wenn es den Weg gab, dann hatte er mit Magie zu tun und damit stand er außer Frage.

„Du findest sie häßlich?" Adrian blickte auf, direkt in Harrys Augen, die tatsächlich so traurig wirkten, wie die Worte geklungen hatten.

„Du etwa nicht?" fragte er sehr sanft zurück, hielt den Blick, die wunderschönen Augen fest. Harry hob die Schultern.

„Sie passen zu mir. Innen und außen gleich. Gleich vernarbt, gleich häßlich." Adrian schüttelte den Kopf, wickelte resolut die nächste Lage Mull über die geschundene Haut.

„Was für ein Unsinn", schimpfte er leise, obwohl Harry schon angenommen hatte, er würde zu dem Thema nichts mehr sagen. „Das ist echt der größte Blödsinn, den ich seit langem gehört habe. Du hältst dich für häßlich, James? Warum? Ja, ja, ich weiß, ich kenne dich nicht, weiß so gut wie gar nichts von dir, aber ich habe bisher noch nichts gesehen, was ich häßlich nennen würde." Harry schwieg, starrte Adrian einfach nur an. Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Natürlich hielt er sich für häßlich. Er hielt sich sogar für unnütz, selbst wenn er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß er immerhin das geschafft hatte, was die Zauberer sein Leben lang von ihm erwartet hatten.

Aber genauso trat dann auch der Gedanke hervor, daß man wohl ebenso von ihm erwartet hatte, daß er bei der Sache drauf ging, denn ganz offensichtlich war er doch nicht in der Lage, ein Leben nach Voldemort auf die Beine zu kriegen. Er schnaubte verächtlich.

„Ist das der Grund, warum du dir sogar das Gesicht zerschnitten hast?" Überrascht blickte Harry auf, runzelte die Stirn. Im ersten Moment wußte er nicht, wovon Adrian sprach. Er hatte sich doch nie das Gesicht zerschnitten. Was für ein Blödsinn. Doch dann streckte sein Gegenüber die Hand aus und betastete vorsichtig seine Stirn. Harry atmete erleichtert aus, obwohl er noch nicht einmal wußte, warum er die Luft angehalten hatte.

„So ein Quatsch. Die hab ich mir nicht zugefügt", ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen.

„Wo hast du sie dann her? Sie sieht aus wie ein Blitz. Das entsteht doch nicht zufällig." Einen winzig kleinen Moment lang spielte Harry mit dem Gedanken, Adrian einfach die Wahrheit zu sagen. Es war eine diebische Freude, die sich in ihm ausbreitete, wenn er sich vorstellte, wie dumm der andere aus der Wäsche gucken würde, wie er sehen konnte, daß er ihn endgültig für verrückt hielt. Aber der Moment war schnell vorbei.

„Doch, tut es. Ich hab diese Narbe von einem Autounfall. Ich war noch ein Baby, etwas über ein Jahr alt. Meine Eltern sind bei dem Unfall gestorben, aber ich hatte nicht mehr als diese kleine Schnittverletzung. Komisch oder?" Der Ausdruck auf Adrians Gesicht verdüsterte sich ein wenig.

„Das tut mir leid." Harry schüttelte den Kopf.

„Braucht es nicht. Hat ja doch keinen Sinn."

„Du vermißt sie." Harrys Augen verengten sich ein wenig.

„Natürlich vermisse ich sie. Und manchmal vermisse ich sie auch nicht. Dann kommt es mir so vor, als wäre das alles nur Heuchelei. Jemanden vermissen, den man doch eigentlich nie wirklich gekannt hat. Wie geht das? – Aber die meiste Zeit wünsche ich mir, daß ich mich schwerer verletzt hätte und sie dafür noch leben würden." Adrian zog die Stirn kraus und sicherte den fertigen Verband um Harrys Arm mit Klebeband.

„Machst du deshalb diesen Scheiß? Als Bestrafung, daß du lebst und sie tot sind?"

„Quatsch!"

„Warum dann?" Harry wandte trotzig das Gesicht ab.

„Müssen wir darüber reden?" sein Ton war frostig und abweisend. Adrian dachte einen Augenblick darüber nach, auf dem Thema zu bestehen, doch im Grunde wußte er ja, daß das absolut keinen Sinn machte. Harry würde nur bockig werden und schließlich gar nichts mehr sagen.

„Wie alt bist du eigentlich, James?" Dankbar für den Themenwechsel, entspannte Harry sich wieder ein wenig.

„Achtzehn."

„Wo bist du aufgewachsen? In einem Waisenhaus?" Harry lachte und schüttelte den Kopf.

„Manchmal denke ich, daß das die bessere Alternative gewesen wäre. Nein, ich kam zur Schwester meiner Mutter, ihrem Mann und ihrem Sohn. Wir sind ungefähr gleich alt."

„Und das war es nicht wirklich?" Einen Moment lang zögerte Harry, wunderte sich, warum Adrian danach fragte. Er hatte die ganzen letzten Tage kein wirkliches Interesse an ihm gezeigt, nicht nach mehr als seinem Namen gefragt und ob er von der Polizei gesucht wurde. Die Wandlung verstand er nicht ganz. Aber es tat auch gut, daß sich jemand wirklich mit ihm befassen wollte, nach solchen Dingen fragte.

In Hogwarts hatte es nie einer getan. Oder konnte er sich nur einfach nicht mehr erinnern?

„Nein. Sie... Tante Petunia und meine Mutter haben sich gehaßt. Schon seit ihrer Kindheit. Petunia hielt meine Mutter für einen Freak. Über meinen Vater hat sie noch Jahre nach seinem Tod Gerüchte verbreitet, daß er ein arbeitsloser Trinker, ein Versager gewesen ist und so.

Onkel Vernon... er war sogar noch schlimmer als sie, hat sich die haarsträubendsten Strafen für mich ausgedacht, mich Tag für Tag mit Arbeit nur so zugeschüttet, weil er der Meinung war, daß es mich davon abhalten könnte, Dummheiten anzustellen.

Und Dudley. Reden wir nicht über Dudley.

Meine Kindheit war ehrlich gesagt so beschissen, wie ich sie mir vorstellen kann und es ist auch in den Jahren im Internat nicht besser geworden. Ich habe es lange Zeit gedacht, aber das hat sich als Fehler herausgestellt."

„Du warst in einem Internat?"

„Ja, fast sieben Jahre lang."

„Warum war das genauso schlimm?" Harry war verwundert, aus Adrians Stimme so viel ehrliches Interesse herauszuhören. Interessierte es ihn denn wirklich so sehr? Und warum? Adrian verhielt sich so vollkommen gegen alles, was Harry als das Gesetz der Straße kennen gelernt hatte.

Zusammen halten, ja. Sich helfen, wenn Gefahr von außen droht, ja. Seine Nase in die Belange des anderen stecken, sich wirklich für ihn interessieren. Nein. Definitiv nein.

„Ich möchte nicht drüber reden", wich Harry der letzten Frage schließlich aus, obwohl er nicht wußte, warum er von Petunia, Vernon, Dudley und seinen Eltern gesprochen hatte und ausgerechnet vor Hogwarts zurück schreckte als wäre es schlimmer als all das andere.

Nein, nicht schlimmer, aber sehr viel direkter. Harry hatte seine Eltern nicht gekannt, war noch zu klein gewesen, als sie ihr Leben für ihn gelassen hatten. Er wußte, daß er traurig war, daß sie nicht mehr da waren, aber er wußte auch, daß dieses Gefühl mit der wahren Trauer, die er empfunden hätte, wenn seine Eltern mehr für ihn gewesen waren als Figuren aus Erzählungen ihrer Freunde und Weggefährten, nicht vergleichbar war.

Seine Zeit bei seinen Verwandten. Sie war schwer gewesen, aber er hatte es dennoch immer geschafft, das nicht so sehr an sich heranzulassen, daß es wirklich schmerzte. Sie waren unwichtig, vollkommen egal.

Anders alles, was mit Hogwarts zu tun hatte. Nichts war davon egal. Und darum konnte er auch nicht drüber reden. Das waren Wunden, die tief saßen, keine oberflächlichen Kratzer und Blessuren.

„Okay", Adrian klang nicht enttäuscht, wahrscheinlich hatte er es sogar schon viel früher erwartet. „Ich werde dir was zu Essen machen." Er schenkte Harry sein übliches, sanftes Lächeln und verließ mit alten Mullbinden und dem Desinfektionsmittel beladen das Zimmer.

Harry blickte ihm nachdenklich nach. Es fühlte sich gut an, hier bei Adrian zu sein. Es würde vermutlich sehr schwer werden, wieder auf die Straße zurückzukehren. Er seufzte. In was für eine ausweglose Situation hatte er sich da wieder gebracht? Er konnte nur hoffen, daß er bald so weit war, von hier fortzugehen. – Bevor es zu spät war und ihn der Schmerz ein weiteres Mal fast umbringen würde.

:----:

„Ich schätze, wir können den Patienten jetzt entlassen", bemerkte Adrian fröhlich, nachdem er einen Blick auf das Fieberthermometer geworfen hatte. Harry betrachtete nachdenklich die neuen Narben auf seinem Arm. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das ebenso fröhlich sah wie Adrian.

„Dann werde ich wohl besser zusammenpacken und gehen, was?" er wußte, daß sein Versuch, eine fröhliche Maske aufzusetzen und sich seine Bedrückung nicht anmerken zu lassen, gründlich in die Hose ging.

„Wo willst du jetzt hin?" fragte Adrian scheinbar ehrlich interessiert, als er das Fieberthermometer auf das Nachttischchen legte und Harry mit seinen blauen Augen fixierte. Harry hob die Schultern.

„Ich weiß noch nicht. Irgendwo hin, schätze ich. Ich brauche Arbeit, eine Unterkunft. Irgendwas wird sich schon finden, hat bisher auch immer geklappt." Adrian nickte, doch seine Miene hatte sich verfinstert. Harry konnte sich denken, was er gerade dachte, auch wenn er immer noch nicht wußte, warum es Adrian überhaupt interessierte.

„Du wirst das wieder tun, oder?" fragte Adrian und deutete dabei vage in Richtung seines Armes. Harry warf wieder einen Blick auf die Narben. Die vielen alten und die neuen. Schließlich nickte er, langsam, aber doch seiner Sache sicher. Er wußte doch, daß es ihm und Adrian vollkommen klar war, daß er das wieder tun würde. Wem sollte er also etwas vormachen?

„Du hast es die ganze Zeit hier bei mir nicht getan." Harry blickte auf, lächelte, als sich ihre Blicke trafen. Auch die Hoffnung, die er in Adrians Blick las, wollte er nicht so recht verstehen, auch wenn sie ihm das Herz wärmte.

„Es gab noch keinen Anlaß", zerschmetterte er die fragile Hoffnung im nächsten Moment, denn aus seinem Ton konnte man nur zu deutlich herauslesen, daß er fest damit rechnete, auch hier früher oder später einen Anlaß zu haben.

„Oh", entgegnete Adrian schwach und kam sich im gleichen Moment so dumm vor. Vermutlich hätte er auf Cameron hören sollen, als sie Harry aufgegabelt hatten. Der hatte ihm gleich gesagt, er solle sich aus der Sache raushalten. Dann würde es ihn jetzt einen Scheißdreck interessieren, was aus diesem kleinen Wrack wurde, das er so ungern wieder in die Welt hinauslassen wollte.

Glaubte er denn wirklich, daß er Harry beschützen konnte? Glaubte er, daß er alles wieder gut machen konnte?

Er hoffte es zumindest, das war ihm klar.

„Vielleicht möchtest du aber trotzdem noch eine Weile hierbleiben. Ich hab genug Platz und es ist bestimmt leichter für dich, wenn du wenigstens eine feste Bleibe hast. Arbeitgeber stehen auf so was", er zwinkerte Harry zu, der vermutlich bemerkt hätte, wie verkrampft Adrian in diesem Moment war, wäre er nicht so vollkommen überrascht gewesen.

„Das... das geht doch nicht", stammelte er schließlich verwirrt, während er innerlich schon einen kleinen Jubelsprung machte. Doch es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte er seine innere Euphorie wieder unter Kontrolle gebracht. Das konnte überhaupt nicht in Frage kommen und basta.

„Natürlich geht das, wo ist das Problem?"

„Ich habe kein Geld. Keinen einzigen Cent. Ich kann mich nicht einfach hier bei dir einquartieren und von dir leben. Das war schon nicht richtig, als ich noch krank war. Jetzt kommt es gar nicht in Frage." In Harry tobte ein Kampf zwischen beiden Stimmen, die sich gegenseitig beschimpften und die schlimmsten Dinge an den Kopf warfen. Sehr hilfreich.

„Wir suchen dir einen Job und so lange wird es mich sicher nicht umbringen. Du ißt wie ein Spatz und außerdem hab ich gerne ein bißchen Gesellschaft. Man wird schnell einsam, wenn man so lebt wie wir." Harry zog die Augenbrauen Richtung Haaransatz. Wenn man so lebte, wie sie beide? Wie kam Adrian auf die Idee, daß sie ein ähnliches Leben führten? Er wohnte in einer der weniger schönen Gegenden von London, aber im Gegensatz zu ihm hatte er eine Wohnung, konnte es sich offensichtlich leisten, genug Lebensmittel und Kleidung zu kaufen, daß es ihm gut ging. Harry hatte bei seinen wenigen Erkundungszügen durch die Wohnung auch einen Fernseher, eine Stereoanlage, CDs und Videos gesehen.

Wie konnte das die selbe Welt sein, wo Adrian sein Leben doch offensichtlich im Griff hatte, während Harry noch nicht einmal irgendwas hatte, was man Leben nennen konnte.

„Wenn man so lebt, wie wir?" wiederholte Harry deshalb ein wenig baff und starrte Adrian an.

„Ja."

„Was meinst du damit? Du lebst nicht wie ich. Du bist kein Straßenkind oder Bettler, lebst nicht auf der Straße." Adrian lächelte.

„Nein, aber ich bin Teil der Straße, genau wie du. Laß dich niemals vom Äußeren täuschen, James, das kann dich hier ganz schnell Kopf und Kragen kosten." Harrys Mund war furchtbar trocken.

„Was genau tust du, wenn du arbeiten gehst?" fragte er vorsichtig, wagte es nicht, Adrian in die Augen zu sehen, denn mit einem Mal kam ihm ein haarsträubender Verdacht und er hatte Angst, daß man es in seinem Gesicht lesen konnte.

„Möchtest du es im Detail wissen?" lachte Adrian, spürte aber, wie angespannt Harry war, daß es für ihn wohl doch nicht so offensichtlich gewesen war, wie Adrian die ganze Zeit gedacht hatte. Um Himmels Willen, dieser Junge war doch nicht wirklich noch so unschuldig, wie er gerade wirkte? Jeder, der genau hinsah, konnte allein an seiner Kleidung erkennen, was Adrian war, wenn er abends zur Arbeit ging.

Harry antwortete nicht, schluckte nur trocken.

„Ich hätte nicht gedacht, daß du es wirklich nicht weißt. Manchmal erstaunst du mich, Jamie. - Ich gehe auf den Strich." Harry schloß die Augen, versuchte, die gerade gehörten Worte aus seinem Kopf zu verbannen.

Doch Adrian hatte es gesagt, hatte es wirklich gesagt. Und es hatte aus seinem Mund geklungen, wie das Selbstverständlichste der Welt. Oh Gott, das konnte nicht wahr sein, das konnte einfach nicht wahr sein!

„Aber... aber... warum? Warum machst du so etwas? Warum keinen anderen Job?" Adrian hob die Schultern, blickte an Harry vorbei.

„Ich weiß nicht. Es war nicht mein Berufswunsch, aber irgendwann steckte ich mittendrin. Es ist schwer, wieder herauszukommen, wenn man erst einmal drinsteckt, Jamie. Leichtes und schnelles Geld, wenn du keinen Zuhälter hast. Zumindest, wenn du damit zurechtkommst, dich selbst auf ein Stück Fleisch zu reduzieren, das jeder, der das Geld dafür hat, sich für eine Weile leisten kann.

Und jeder potentielle Arbeitgeber, der davon erfährt, daß du mal Teil des Milieus warst, wird dich sofort wieder wegschicken. Es ist wie ein Teufelskreis, aber einer mit dem man sich arrangieren kann."

„Und jetzt hast du dir gedacht, ich bin leichte Beute, was?" sagte Harry bitter, bevor er die Worte aufhalten wollte. Er hatte das gedacht, aber hatte er es wirklich sagen wollen? Jetzt war es raus. Zu spät.

„Bitte?" fragte Adrian atemlos, zu überrascht, um mehr zu sagen.

„Nachschub, Frischfleisch, nenn es, wie du willst. Das ist doch eure Methode oder? Nett und freundlich sein und einen einwickeln. Und wenn man dann so weit ist, daß man euch alles glaubt, alles für euch tun würde, schickt ihr einen ebenfalls auf den Strich." Adrian fühlte, wie Wut in ihm aufstiegt. Er bot Harry die Möglichkeit, endlich ein Dach über dem Kopf zu haben, beantwortete seine Fragen ehrlich und dann so etwas? Er preßte fest die Lippen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten.

Nein, das war zu viel, er mußte weg.

„Du bist doch ein Arschloch", preßte er zischend hervor, bevor er wutentbrannt aus dem Zimmer stürmte und Harry mit einem schlechten Gewissen zurück ließ.

:----:

Harry hatte den ganzen restlichen Tag und die folgende Nacht, um sich darüber Gedanken zu machen, wie er die Sache mit Adrian wieder ins Reine bringen konnte.

Es war dumm von ihm gewesen, daß er so etwas gesagt hatte. Er wußte selbst immer noch nicht, warum er das gesagt hatte. Vermutlich weil es eine absolute Horrorvorstellung für ihn war, das zu tun, was Adrian offensichtlich schon seit langer Zeit und mit einer grausamen Selbstverständlichkeit tat. Anders konnte Harry sich die Kaltblütigkeit des jungen Mannes nicht erklären.

Als er schließlich den Schlüssel im Schloß der Wohnungstür hörte, fuhr er sofort im Bett hoch, schlug die Decke beiseite und lief Adrian entgegen. Der andere wirkte müde, seine blauen Augen leuchteten nicht mehr und waren ein wenig blutunterlaufen. Es war wohl für ihn eine genauso lange Nacht gewesen wie für Harry.

„Du bist noch da", stellte Adrian fast gelangweilt fest, doch Harry glaubte, auch ein wenig Hoffnung aus der Stimme des anderen heraushören zu können.

„Ja", antwortete er zaghaft und machte noch einen Schritt auf Adrian zu. „Ich würde dein Angebot gerne annehmen, wenn es noch steht."

„So? Keine Angst mehr, daß ich dich in zwei Wochen für mich auf den Strich schicken werde? ‚Er macht's auch ohne Gummi, dann kostet es aber extra.'", ätze Adrian und brachte Harry damit zum Lächeln, was ihn sehr erstaunte.

„Nein. Es tut mir leid, es war so dumm von mir, das zu dir zu sagen. Ich habe nie geglaubt, daß du so etwas wirklich tun würdest."

„Wie unglaublich beruhigend." Wieder mußte Harry lächeln. Adrian war noch ein Anfänger, aber dieser Sarkasmus hatte etwas seltsam Tröstliches an sich. Es war so vertraut.

„Ich werde mir einen Job suchen, um dir so bald wie möglich nicht mehr auf der Tasche zu liegen. – Aber ich werde niemals auf den Strich gehen. Versprich mir, daß du das niemals verlangen oder auch nur vorschlagen würdest." Adrian blickte eine ganze Weile in die großen, grünen Augen, die ihn so bittend ansahen. Oh ja, dieser Junge hier war noch komplett unschuldig. Es tat fast weh.

„Niemals würde ich das tun, das mußt du mir glauben, Jamie." Und Harry glaubte ihm, spürte instinktiv, daß Adrian die Wahrheit sagte.


Aus den Augenwinkeln beobachtete Severus Harry verstohlen. Nachdem er an diesem Nachmittag vom Unterricht in sein Quartier zurückgekommen war, hatte er Harry zunächst wie immer lesend vorgefunden. Doch nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten – belanglose Themen, wie so häufig in den vergangenen Tagen, in denen Harry die Episode auf dem Turm wohl immer noch zu verarbeiten versuchte – war er in etwas versunken, was Severus fast schon als Trance oder tiefen Tagtraum bezeichnen wollte, denn scheinbar nichts drang zu dem jungen Mann durch.

Er hatte nicht einmal bemerkt, daß Dobby zwischendurch dagewesen war.

Eine gute halbe Stunde hatte sich nichts im Gesicht des Jüngeren geregt. Keine Emotion war zu erkennen gewesen. Harrys Gesicht war fast wie die totenstille Oberfläche eines Sees. Spiegelglatt, so lange nichts sie beeinflußte.

Doch von einer Sekunde auf die andere änderte sich Harrys Zustand. Die Veränderung kam so schlagartig, daß Severus leicht zusammenfuhr, als Harry plötzlich aufsprang und in Richtung Badezimmer stürzte.

Severus brauchte einen Moment, um sich von der Überraschung zu erholen, doch dann war er auf den Beinen und folgte Harry. Schon von weitem konnte Severus hören, wie Harry sich übergab. Er runzelte die Stirn. Harrys Magen war am Anfang sehr unruhig gewesen, hatte an manchen Tagen keinen Krümel feste Nahrung bei sich behalten wollen. Aber diese Phase war bereits seit mehreren Wochen überstanden. Zumindest war das sein Wissensstand, denn auch Dobby hatte nichts anderes berichtet und der kleine Hauself wachte mit Argusaugen über Harry.

Severus achtete darauf, daß Harry sein Kommen hörte, um ihn nicht zu erschrecken, kniete sich vorsichtig neben ihn und legte ihm eine Hand auf den leicht gekrümmten Rücken. Harrys Gesicht hing noch immer über der Kloschüssel und er atmete schwer.

„Komm, ich helfe dir auf, Harry." Der Jüngere schüttelte den Kopf und versuchte, die Hand auf seinem Rücken abzuschütteln. Severus zog die Augenbrauen zusammen, ließ sich aber sonst nicht anmerken, wie sehr ihn diese Abweisung überraschte.

„Willst du drüber reden?" startete er einen zweiten Versuch, doch wieder erntete er nur ein Kopfschütteln als Antwort. Er spürte das starke Zittern, das Harrys Körper in diesem Moment durchlief und gerne hätte er ihm dabei geholfen, vom kalten Badezimmerboden aufzustehen, wie er es während des Entzuges unzählige Male gemacht hatte, aber er respektierte Harrys Abweisung, wenn auch nicht gerade gerne.

„Ruf mich, wenn du mich brauchst", murmelte er sanft und stand dann auf, um Harry allein zu lassen. Er hatte das Badezimmer kaum verlassen, als er Harry wieder würgen hörte. Severus war mehr als nur leicht besorgt, wenn auch mehr über die Tatsache, daß er das Gefühl nicht los wurde, Harry versuche, sich von ihm zu entfernen. Oder kam es ihm nur so vor?

:----:

Harry kam nicht.

Unruhig warf Severus sich von einer Seite auf die andere, fand einfach keine Position, in der er ruhiger werden und schließlich Schlaf finden konnte. Harry kam nicht, aber wieso?

Ärgerlich zog Severus die Decke ein wenig höher über seine Schultern, als die Kälte unangenehm darunter kroch.

Warum wartete er überhaupt auf Harry? Es war ja nicht so, als bestünde eine Verpflichtung für den Jüngeren, irgendwann aufzutauchen, um bei ihm zu schlafen. Genau genommen war es doch gut, daß Harry nicht kam. Früher oder später mußte er zwangsläufig wieder allein schlafen können. Blödsinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob vielleicht etwas vorgefallen war, was Harry von ihm fernhalten konnte. Es war nichts vorgefallen, es war nur plötzlich alles anders gewesen und mit jedem Tag, der verging, schlimmer geworden. Severus hatte zunächst die Abweisung vor einigen Tagen als den Höhepunkt der Veränderung betrachtet, doch jetzt änderte er diese Meinung. Das hier war gravierender. Es stach.

„Törichter, alter Narr", knurrte Severus und preßte die Augenlider fest aufeinander, kam sich dabei kindisch vor. Doch auch das half nicht gegen die Gedanken, die sich in sein Bewußtsein drängelten, half nicht gegen das ungute Gefühl, das er hatte, wenn er sich bewußt machte, daß es jetzt wohl so weit war. Harry war auf dem Weg der Besserung und bald würde es schon so weit sein und Harry würde wieder fortgehen.

Was hatte er sich selbst vormachen wollen? Nein, es war gut, daß das alles passierte, auch wenn es ihm weh tat, wenn Harry sich Schritt für Schritt von ihm zurückzog. Wahrscheinlich würde sich das mit der Zeit geben und ging ihm im Moment einfach nur zu schnell.

Severus wußte, daß er sich nur selbst etwas vormachte, aber wußte nicht, wie er sonst mit dem Gedanken fertig werden sollte, daß Harry sich offensichtlich nun auch von ihm fernhielt.

:----:

„Es geht schon auf Weihnachten zu, nicht wahr?" Severus erschrak fast, als Harry ihn so plötzlich und unerwartet ansprach. Nur im allerletzten Moment konnte er sich davon abhalten, zusammen zu zucken, und er fühlte, wie der Ärger über diese Schwäche wie Säure in seiner Kehle brannte.

„Nur noch ein paar Tage", entgegnete Severus kühl. Er wollte nicht kühl sein, aber in manchen Momenten konnte er es nicht verhindern, daß die Kälte, die er in sich fühlte, nach außen trat. Und manchmal tat ihm das noch nicht einmal leid. In Momenten wie diesem, in denen er Harry am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt hätte. In denen er von ihm Antworten verlangen wollte, auf die er alleine einfach nicht kommen konnte.

Severus wußte, daß er so nicht empfinden durfte, daß Harry wahrscheinlich weder wußte, was er mit seiner plötzlich so distanzierten Art anrichtete, noch es tun würde, wenn er es wüßte.

Aber warum tat er es? Warum war er jetzt so oft wie Luft für den Jungen, wenn er nachmittags vom Unterricht kam? Manchmal schien Harry so unendlich weit weg, manchmal war er einfach nur abweisend und schlecht gelaunt. Nur noch selten fanden ihre abendlichen Diskussionen über Dinge statt, die Harry über den Tag gelesen hatte, die ihn beschäftigt hatten.

Severus hatte zunächst angenommen, daß Harry vielleicht – ja, eine Art Pause eingelegt hatte. Doch er las noch immer, im gleichen Tempo, noch immer die gleichen Themen. Das hatte sich nicht verändert. Er hatte Severus einfach nur davon ausgeschlossen.

„Man hört es. Die Geräusche im Schloß werden anders, wenn es auf Weihnachten zugeht." Severus runzelte die Stirn, doch Harry bekam das gar nicht mit. Er wirkte wieder nur halb anwesend, sein Blick war auf das Feuer gerichtet, unendlich weit weg und Severus war sich nicht sicher, ob er wirklich mit ihm redete oder einfach nur sprach. – Aber immerhin war das ein Lächeln auf den Lippen des Jüngeren. Auch das hatte Severus in der letzten Zeit nur sehr selten gesehen.

„Weihnachten war immer meine liebste Zeit hier in Hogwarts."

„Ich erinnere mich." Verwirrt sah Harry Severus an. Severus hatte das unangenehme Gefühl, daß es das erste Mal seit vielen Tagen war. Der Blick ging ihm durch Mark und Bein. Er wollte diesen Blick, er wollte Harrys Aufmerksamkeit. Jetzt hatte er sie, aber das war nicht genug, er wollte sie immer.

„Du erinnerst dich?" Severus nickte.

„Du hast mir davon erzählt. – Damals. Weißt es wohl nicht mehr?" Harry schüttelte den Kopf, aber das Lächeln war wieder da.

„Die Einzelheiten beginnen zu verblassen. Ich weiß nur noch, daß deine Worte mir damals sehr geholfen haben." Severus schnaubte, wandte den Blick von Harry ab. Vergessen. Wenn er das nur könnte, wäre vermutlich so vieles einfacher.

„Wie lange noch bis zu den Ferien?"

„Zehn Tage." Harry nickte nachdenklich, ließ seinen Blick zurück zu den orangegelben Flammen im Kamin wandern. Minuten vergingen, in denen sich das schwere Schweigen über die beiden Zauberer senkte, das schon seit vielen Tagen auf Severus' Schultern lastete, als wolle es ihn unter sich begraben, und fast war er sich sicher, daß damit das Gespräch zu Ende war. Doch dann setzte Harry erneut an, weniger fröhlich und sehr viel leiser.

„Ich überlege, ob ich ein paar Briefe schreiben soll. Vielleicht wird es Zeit." Briefe? Es dauerte einen Moment, bis Severus begriff, was Harry meinte. Briefe. Er selbst hatte ihn dazu aufgefordert, aber irgendwie hatte er nicht damit gerechnet, daß Harry das schon so bald in Erwägung ziehen würde. Und dann fiel es Severus wie Schuppen von den Augen.

Harry hatte Angst. Angst davor, die Briefe zu schreiben. Angst davor, was die Briefe bewirken würden. Vermutlich auch Angst davor, dafür noch lange nicht bereit zu sein.

Darum war Harry so bedrückt und still. Darum war er so häufig gedanklich ganz woanders. Aber warum sprach er nicht mit ihm darüber?

Oder war es vielleicht nicht nur das?

Severus unterdrückte mit aller Macht das Gefühl der Hilflosigkeit in sich.

„Vielleicht. Du weißt ja, daß ich sehr dafür bin. – Was läßt dich zögern?" Harry hob sacht die Schultern und drehte eine inzwischen recht lange, schwarze Haarsträhne zwischen seinen Fingern. Seine neueste nervöse Geste, wie Severus wußte.

„Es könnte noch zu früh sein."

„Du wirst es riskieren müssen." Harry warf ihm einen fast verzweifelten Blick zu.

„Aber warum? Warum muß ich sie denn alle aus dem herausreißen, was sie für die Wahrheit halten?" Severus seufzte, hielt Harrys Blick so gut es ging mit seinem eigenen fest.

„Wir hatten diese Diskussion doch schon, Harry. Du kannst nicht immerzu weglaufen. Das wäre grausam." Harry schüttelte heftig den Kopf, seine grünen Augen verhärteten sich ein wenig.

„Sie denken seit fast vier Jahren, ich wäre tot! Wie könnte es grausam sein, sie in dem Glauben zu lassen? Sie haben das schlimmste doch schon hinter sich. Vier Jahre sind eine lange Zeit."

„Unsinn!" Harry fuhr erschrocken zusammen. Severus hatte nicht wirklich laut gesprochen, aber trotzdem kam es ihm so vor, als donnere die schneidende Stimme des Zaubertrankmeisters durch den Raum.

„Vier Jahre sind eine lange Zeit? Was für ein Blödsinn! Sie weinen vielleicht nicht mehr jeden Tag um dich, aber keiner von ihnen hat das schlimmste schon hinter sich, wie du so schön sagst. Und sie alle haben es verdient, endlich die Wahrheit zu erfahren.

Du hast Angst davor, wie sie reagieren, das ist alles. Sie werden Fragen stellen und Antworten wollen. Keiner von ihnen wird dich mit offenen Armen begrüßen und dein Rückkehr schweigend hinnehmen. Und der Gedanke daran macht dich fast verrückt.

Ist es nicht so, Harry?" Severus wußte, daß viel seiner eigenen Wut und Hilflosigkeit, die sich in den letzten Tagen in ihm aufgestaut hatten, in seine Worte eingeflossen waren und er damit wieder einmal viel schärfer mit Harry ins Gericht gegangen war, als er eigentlich wollte, aber manchmal... nein, eigentlich nur wenn es um Harry ging, verlor er die Kontrolle über das, was er sagen wollte und wirklich sagte.

„Laß mich in Ruhe!" wiegelte Harry auch augenblicklich ab. Ein müder Schleier schien sich im nächsten Augenblick über den jungen Mann zu legen. Severus tippte auf einen Volltreffer, aber das war auch nicht wirklich schwer gewesen.

„Und was, wenn nicht?" fragte Severus zurück, jetzt wieder vollkommen unter Kontrolle.

„Bastard", zischte Harry, sprang von der Couch auf und verschwand mit wenigen, großen Schritten in seinem Zimmer.

Severus lehnte sich seufzend in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. Müde fuhr er sich durch das schwarze Haar.

„Ganz großartig, Severus. Ein Barbar hätte es nicht besser machen können."

Natürlich kam Harry auch in dieser Nacht nicht zu ihm. Es war bereits die sechste Nacht in Folge.

:----:

Das Herz schlug Harry bis zum Hals, als er die schwere Eichentür vorsichtig aufschob und einen Blick in den dunklen Flur wagte. Er wußte, man konnte ihn nicht sehen, aber dennoch war es ein merkwürdiges Gefühl. Es war hellichter Tag.

Langsam setzte er den ersten Fuß auf den Gang hinaus. Kein Vergleich zu neulich Nacht. Das Schloß schlief nicht und Harry fühlte das in jedem Luftzug, in jedem noch so kleinen Geräusch. Alles war hellwach und er war mittendrin. Das Krachen der Eichentür, die zurück in ihr Schloß fiel, hatte auch nicht gerade eine sehr beruhigende Wirkung auf ihn.

Harry war sich nicht sicher, warum er so furchtbar aufgeregt war, wußte er doch ganz genau, daß erst vor wenigen Minuten eine weitere Unterrichtseinheit begonnen hatte und so gut wie keine Lehrer oder Schüler im Schloß unterwegs sein konnten. Dennoch war dieses beklemmende Gefühl da, das einem den Hals zuschnürte und jeden Herzschlag fast schmerzhaft erscheinen ließ.

Nur zur Bibliothek. Das war doch kein Akt.

Harry atmete tief durch, machte wieder ein paar Schritte, erreichte die Treppe, die ins Erdgeschoß hinaufführte. Seine eigene Entschlossenheit, diese kleine Reise zu unternehmen, erschien ihm mit jedem Schritt immer unsinniger, aber er konnte sich einem ganz bestimmten Gefühl nicht entziehen, daß er schon bei seinem letzten, nächtlichen Ausflug gespürt hatte.

Das Gefühl der absoluten Überlegenheit, im Schutz des Umhanges. Das Gefühl des Glücks, das ihn durchströmte, wenn die schönen Erinnerungen zurückkamen, die mit diesem Umhang zusammen hingen. Das war die Freiheit, die er für sein ganzes Leben wollte. Leben, ohne gesehen zu werden, unbeachtet, in Frieden.

Das Lächeln von seinen Lippen verschwand.

Severus verstand das nicht. Er wollte ihm helfen, doch er lehnte alles vehement ab, das in diese Richtung ging, wollte es ihm verbieten. Und vielleicht, ja vielleicht würde er ihn sogar eines Tages dazu zwingen, sich den anderen endlich zu offenbaren. Harry hatte nicht vergessen, wie Severus seinen Kopf durchsetzte, wenn er sich im absoluten Recht fühlte.

Dabei wollte er doch gar nicht ohne Severus sein. Nichts war in seinen hoffnungslos durcheinander geratenen Gefühlen und Plänen so klar, wie diese kleine, weltbewegende Tatsache. Er wollte nicht ohne Severus sein, selbst wenn er plante, sich für den Rest des Welt vor allen anderen zu verstecken.

Wenn er ehrlich sein sollte, hatte Harry nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet ein so zurückgezogener Mensch wie Severus das nicht nachvollziehen konnte. Und es hatte ihn noch viel mehr überrascht, daß Severus sich scheinbar noch immer unsicher war, was seinen Platz in Harrys Leben anging. Dabei war es so klar, so offensichtlich.

Harry schnaufte leise, als er bemerkte, was gerade vorging. Natürlich war es klar und offensichtlich. Für ihn. Wie sollte es klar für Severus sein? Severus wußte doch nur, daß Harry ihm einen Teil seiner Gefühle offenbart hatte und dann für eine lange Zeit verschwunden war, als tot galt. Severus wußte, daß er in Harrys verrückte Welt eingelassen wurde, um dann vollkommen aus ihr ausgeschlossen zu werden, sobald es Harry zu viel wurde.

Es war nicht so, daß Harry nicht genau wußte, was er gerade tat, wie sehr er Severus zurückwies und wie verwirrt Severus deswegen war. Er wußte es und konnte doch nicht anders handeln. Das war genau das, was Harry seinen Wahnsinn nannte. Den richtigen Weg kennen und sehen, ihn aber nicht begehen können. So war es auch mit dem Schneiden, mit den Drogen.

Das war falsch gewesen, schlecht, und doch hatte er nie davon lassen können.

Vollkommen in seine Gedanken versunken, war Harry nicht gerade wenig überrascht, als er aufblickte und die große Tür der Bibliothek vor sich sah. Er lächelte. Er kannte dieses Schloß wie seine Westentasche und nichts würde das mehr ändern können. Wie ungemein beruhigend.

Vorsichtig blickte er um die Ecke, auf der Suche nach Madam Pince oder vielleicht einem Lehrer, der gerade keinen Unterricht geben mußte und sich die Zeit in der Bibliothek vertrieb. Doch die riesige Halle, die bis unter die Decke mit Regalen und Büchern vollgestopft war, schien wie ausgestorben. Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, trat Harry über die Schwelle.

Der Geruch, der ihn sofort einhüllte, war wunderbar. Altes Pergament, altes Leder, neues Leder, Staub. Eine Mixtur, die Harry noch immer mit dem Wissen von Jahrhunderten assoziierte.

Nein, er war nie eine männliche Hermine gewesen, aber er wußte doch spätestens jetzt besser denn nie, wie wertvoll Wissen war. Es öffnete Türen, die ihm verschlossen geblieben waren, als er sie so dringend offen benötigt hatte.

Das würde nicht noch einmal passieren. Dafür würde er alles tun, koste es, was es wolle.

Das Licht, das durch die großen Buntglasfenster in die Bibliothek fiel, schnitt sich durch den Staub, der in der Luft lag, wirkte fast so, als wäre es wirklich greifbar, solide. Die kräftigen Farben der Fensterfacetten fingen sich auf den Buchrücken vieler Bücher wieder, flimmerten kurz, wenn Harry unter seinem Umhang an den Büchern vorbei ging. Nicht mehr als eine Luftspiegelung in der sonst so totenstillen, leeren Bibliothek.

Harry fühlte sich wohl.

Vorsichtig strichen seine Finger über die Buchrücken, glitten seine Augen über die Titel, auf der Suche nach etwas, das sein Interesse weckte und ihn für einige Stunden fesseln würde. Ein extrem dicker Band über die Inquisition war es schließlich, der das schaffte.

Nur mit Mühe konnte Harry das enorme Buch aus dem Regal ziehen, ohne auch nur einen Zentimeter seines Körpers zu enthüllen. Aber schließlich gelang es ihm doch. Vorsichtig schleppte er das Buch zu einem Tisch, der in einer etwas geschützteren Ecke der Bibliothek stand. Ihn konnte man vielleicht nicht sehen, aber ein Buch, bei dem sich scheinbar von selbst die Seiten umblätterten, war sogar in Hogwarts ungewöhnlich genug, um sofort aufzufallen, wenn es jemand sehen sollte.

Nachdenklich schlug Harry die erste Seite auf. Inquisition. Wollte er das wirklich lesen? Hier trafen Muggelwelt und Magie wieder aufeinander. Hier begegneten sich die zwei unvereinbaren Welten. Ein wenig genervt schüttelte Harry den Kopf. Natürlich wollte er das. Er wollte nicht wirklich für immer alles meiden oder verleugnen, was mit Magie zu tun hatte. Blödsinn.

Harry begann zu lesen. Und sofort wurde er in einen grausamen Bann gezogen. Ein Schauer nach dem anderen lief ihm über den Rücken, als er sich durch die geschichtlichen Fakten grub, von Prozessen gegen angebliche Hexen und Zauberer las, die doch in Wahrheit alle nur Muggel gewesen waren, die nie etwas getan hatten. Die Abbildungen in dem Buch waren es jedoch, die den bleibendsten Eindruck bei Harry hinterließen. Die geballte Grausamkeit.

Ein wenig bitter kam ihm der Gedanke, daß die Todesser gar nicht so furchtbar anders gewesen waren, als die Menschen, die sich als Richter und Henker aufgespielt hatten. Aber so war es im Endeffekt ja eigentlich immer, in jeder Zivilisation tat sich diese Art von Macht und Demut irgendwann auf.

Harry klappte das Buch zu, ekelte sich plötzlich ein wenig vor dem, was er gerade gelesen hatte, und dabei war er noch nicht einmal so sonderlich weit damit gekommen.

„Nicht so spannend, wie du dachtest?" Harry fuhr erschrocken zusammen, prüfte automatisch und hastig, ob sein Umhang während des Lesens verrutscht war, doch noch immer war alles, wo es sein sollte und er mußte eigentlich vollkommen verborgen sein. Ein wenig ängstlich blickte er auf.

Direktor Dumbledore. Harry atmete auf. Er hatte ganz vergessen, daß man Dumbledore nicht mit einem simplen Tarnumhang täuschen konnte.

„Grausam und beängstigend", beantwortete er die Frage, an die er sich erst in diesem Moment wirklich erinnerte, davor zu erschrocken, einen Sinn in den gesprochenen Worten zu erkennen.

„Darf ich mich zu dir setzen, Harry?" fragte Dumbledore vorsichtig. Harry war sich im ersten Moment nicht sicher, ob er es wollte. Eigentlich wollte er schon ablehnen, das Buch weglegen und so schnell wie möglich zurück in den Kerker fliehen, aber irgendwie war der Drang diesmal nicht so stark. Ein anderes Gefühl war viel stärker und überrascht stellte Harry fest, daß es die Entschlossenheit war, endlich nicht mehr wegzulaufen, sondern sich der Situation zu stellen.

„Wenn Sie möchten", entgegnete er deshalb schließlich und nur ein wenig zaghaft. Dumbledore lächelte und seine blauen Augen funkelten verschmitzt, genau so, wie Harry es all in die Jahre in Erinnerung gehabt hatte. Harry atmete tief durch und ließ schließlich ein Stück von seinem Tarnumhang hinabgleiten, gab Kopf und Schultern frei.

Das Lächeln auf Dumbledores Gesicht wurde noch ein wenig breiter.

„Es tut gut, dich mal wieder zu sehen, Harry. Danke, daß du mich nicht wieder wegschickst."

„Ich wollte... ich wollte Sie damit nicht verletzen", entgegnete Harry ein wenig schüchtern und fixierte seinen Blick auf seine Hände, die wenig entspannt auf dem Tisch auflagen.

„Ich weiß. – Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, Harry. Nur weil ich etwas nicht mag, heißt es ja nicht, daß ich es nicht verstehen kann.

Ich bin sehr stolz auf dich, mein Junge." Harry blickte überrascht auf. Er hatte viel von Dumbledore erwartet, viele verschiedene Gesprächansätze, die er sich schon lange in seiner Fantasie ausgemalt hatte, aber nie hatte der alte Zauberer das Gespräch so begonnen. Es gab keinen Anlaß, auf ihn stolz zu sein!

„Stolz auf mich? Aber warum? Ich habe nichts getan, worauf man stolz sein könnte", entgegnete Harry bitter, starrte wieder auf seine Hände, die ihm von Sekunde zu Sekunde immer faszinierender vorkamen.

Dumbledore lachte leise und strich sich vergnügt durch den langen Bart.

„Doch ich finde schon, daß du stolz sein kannst. Jeder in deiner Situation, der stark genug ist, Hilfe nicht auszuschlagen und den Weg so weit zu gehen, wie du ihn jetzt schon gegangen bist, kann stolz auf sich sein, Harry.

Und du sprichst mit mir, sitzt hier in der Bibliothek und versteckst dich nicht vor mir. Noch etwas, worauf du stolz sein kannst. Du solltest dich nie selbst klein machen, dazu gibt es keinen Grund." Harry verzog die Lippen zu etwas, was einem Lächeln ähnlich schien, die Bezeichnung aber dennoch nicht ganz verdiente. Scheinbar hatte Dumbledore in den letzten Jahren nur sehr wenig von seinem immerzu sonnigen Gemüt eingebüßt.

Damit war er noch mehr er selbst, als Harry und Severus zusammen.

„Außerdem wußte ich ja die ganze Zeit, daß du in den besten Händen bist. Ich brauchte mir also noch nicht einmal Sorgen zu machen, weil ich nicht selbst dafür sorgen konnte, daß du die bestmögliche Versorgung bekommst.

Severus hat gute Arbeit geleistet, wie ich sehe." Harry nickte.

„Scheint so, nicht wahr? – Er war auf alle Fälle unerbittlich, das steht fest."

„Bedauerst du es, daß er dich gefunden hat?" Darüber mußte Harry erst einen Moment nachdenken. Bedauerte er es? War alles besser geworden?

Nein. Nein, eigentlich war alles nur komplizierter und schwieriger geworden, aber trotzdem konnte er kein Bedauern in seinem Inneren finden. Angst, Verzweiflung, Unsicherheit und Müdigkeit, aber kein Bedauern. Sehnsucht. Ja, ein wenig Sehnsucht war da. Nach Adrian, dem einzigen guten, das er mit den letzten Jahren verbinden konnte.

Wenn er etwas bedauerte, dann nur, daß er Adrian nicht mehr um sich hatte.

„Nein. Ich bin froh. – Ich mußte das nur erst begreifen." Harry lehnte sich ein wenig zurück, versuchte sich zu entspannen. Von Dumbledore ging keine Gefahr aus. Es gab keinen Grund, sich so zu verkrampfen und auf eine Katastrophe zu warten. Tatsächlich wurde Harry ein wenig ruhiger, sein Herz schlug nicht mehr ganz so schnell.

„Es ist nicht immer einfach mit ihm, was?" schmunzelte Dumbledore und registrierte zufrieden, wie Harry sich ein wenig entspannte. Er hatte darauf gehofft, wenn er es auch nicht wirklich erwartet hatte.

„Nein", Harry lachte bei dem Gedanken. Einfach und Severus, das paßte nicht zusammen, damit konnte man keinen Satz bilden, der Sinn machte. „Wir sind beide nicht einfach. – Aber Severus ist mir eine sehr große Hilfe. Ich... ich bin ihm unendlich dankbar."

„Das solltest du auch sein. Er ist wirklich besorgt um dich."

„Ich weiß."

„Und ich habe im Moment das Gefühl, daß er noch besorgter ist als in den vergangenen Wochen. Ist etwas passiert, das ihm Anlaß dazu gibt?" Dieser etwas forsche Vorstoß überraschte Harry dann allerdings doch. Das war so – überhaupt nicht Dumbledore.

„Heute gar keine Umwege, sondern direkt aufs Ziel, Sir?" Die blauen Augen funkelten noch ein wenig mehr. Harry mußte schon wieder lächeln. Lag das an Dumbledore oder war er heute nur viel besser gelaunt als sonst?

„Ja, vielleicht", räumte Harry schließlich ein, ohne wirklich zu wissen, warum er das ausgerechnet Dumbledore erzählen wollte.

„Erzählst du mir, was passiert ist?" Harry konnte hören, daß Dumbledore sich so vorsichtig wie möglich vorzutasten versuchte. Er erinnerte Harry in diesem Moment an jemanden, der versuchte, einen scheuen Streuner in sein Haus zu locken. Streuner. Es war nicht zu leugnen, daß der Vergleich auf ihn paßte.

„Er glaubt, daß ich ihn nicht mehr an mich heranlasse und mich von ihm zurückziehe." Dumbledore nickte nachdenklich, stützte seinen Kopf auf seine gefalteten Hände und lehnte sich Harry ein wenig entgegen.

„Und hat er damit recht?"

„Ich tue es doch nur, weil ich... Es gibt Dinge, mit denen ich ohne ihn fertig werden muß. Ich weiß ja, daß Severus nur helfen will, aber er... er kann mir da nicht helfen, das muß ich alleine schaffen."

„Und ich kann dir auch nicht helfen?" Harry blickte auf, blieb einen Moment vollkommen bewegungslos. Dann hob er resigniert die Schultern und sackte ein wenig auf dem Stuhl zusammen.

„Ich weiß nicht. Vielleicht." Dumbledores Lächeln, das einer Minute fast verschwunden war, wurde wieder ein wenig breiter, sein Blick wieder zuversichtlicher.

„Probier es aus", forderte er Harry auf.

„Sir, ich..."

„Harry, versuch es einfach. Vielleicht kann ich dir keine Lösung für dein Problem präsentieren, aber das bedeutet ja nicht, daß ich nicht wenigstens hilfreich bei der Suche danach sein kann. Du kannst mir vertrauen, das weißt du doch." Vertrauen. Das Wort ließ Harry alle Haare zu Berge stehen. Konnte er Dumbledore vertrauen? In manchen Stunden war er sich ja noch nicht einmal sicher, ob er Severus vertrauen konnte, obwohl der sein Vertrauen bisher noch nie mißbraucht hatte.

Dumbledore allerdings schon. Es war alles Vergangenheit und Harry wußte, daß alles, was Dumbledore getan und nicht getan hatte, einzig dazu hatte dienen sollen, sie an ihr Ziel – die Vernichtung Voldemorts – heranzuführen. Er hatte gute Absichten gehabt. Man konnte ihm vertrauen. – Und trotzdem war er noch immer König Minos. Der böse König. Was würde Severus jetzt tun?

Und dann erschien ihm die Antwort so einfach. Auch Severus hing schon seit Jahren in Dumbledores Netz, war Teil seiner Pläne, aber trotzdem vertraute der Ältere Dumbledore wie keinem anderen in Hogwarts. – Oder zumindest war Harry das immer so vorgekommen, selbst wenn die zwei nicht immer einer Meinung waren.

„Was glauben Sie, wird passieren, wenn ich ein paar meiner alten Freunde Briefe schreiben würde?" fragte Harry schließlich, seine Stimme so leise, daß Dumbledore ihn kaum verstehen konnte.

Dumbledore nickte, blickte nachdenklich für einen Moment an die hohe Holzdecke der Bibliothek, bevor er schließlich langsam zu einer Antwort ansetzte.

„Ich denke, das würde eine Menge Aufregung geben. Und ein paar Überraschungsbesuche von alten Bekannten.

Aber eigentlich möchtest du wissen, was ich denke, wie sie reagieren werden, nicht wahr?" Harry nickte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wollte es wissen und wollte es doch wieder nicht. Was würde passieren, wenn sie negativ reagierten? Wenn sie ihm Vorwürfe machten, wütend auf ihn waren? Konnte er das so einfach wegstecken? Einfach als Rückschlag verbuchen und trotzdem weiterkämpfen, als wäre nichts gewesen?

„Ich wünschte, ich wüßte es. Ich kann dir aber nur eines mit Gewißheit sagen, Harry. Sie sind alle nicht mehr die selben wie damals. Dein Verschwinden war für alle eine Katastrophe, dann die aufreibenden Kämpfe, die wir in den letzten Jahren gegen die überlebenden Todesser geführt haben. Einige von ihnen sind noch immer auf freiem Fuß und so lange sie da draußen sind, kann keiner von uns vergessen.

Und auch deine Freunde haben eine Menge an Dingen angehäuft, die sie besser vergessen sollten.

Es kann also alles passieren. Im schlimmsten Fall reagieren sie mit Wut, verletztem Vertrauen oder mit Berührungsangst dir gegenüber. Es werden sicher Tränen fließen.

Nicht ganz das, was du hören wolltest?" Dumbledore lächelte sanft, wollte damit seinen Worten ein paar ihrer Kanten und Spitzen nehmen. Doch er wollte Harry auch nicht anlügen. Was für einen Sinn hätte das gemacht?

„Es ist das, was ich mir schon gedacht hatte. Nur daß ich noch mit Verachtung und Ablehnung rechne, vielleicht sogar Haß. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie ich reagieren würde, wenn mich Ron oder Sirius vier Jahre lang in dem Glauben gelassen hätten, er wäre tot.

Ich hab es für das Richtige gehalten, als ich diese Entscheidung getroffen habe, aber inzwischen denke ich, sie war genauso falsch, wie viele andere meiner Entscheidungen. Ich war zu voreilig, zu unüberlegt und jetzt weiß ich nicht, wie ich das rechtfertigen soll." Dumbledore streckte vorsichtig den Arm aus und berührte Harry an der Schulter. Ihrer Blicke trafen sich und die Wärme, die Harry im Gesicht des alten Direktors sah, tat ihm unheimlich gut. Er wollte sich an sie klammern, denn sie erschien ihm im Moment als das einzige, was ihm Hoffnung gab.

„Du mußt dich nicht rechtfertigen, Harry. Egal wie sie im ersten Moment reagieren, deine Freunde werden nie verlangen, daß du dich rechtfertigst. Du weißt, daß du einen Fehler gemacht hast und Fehler kann man bestenfalls erklären, aber niemals rechtfertigen. Und das sollte auch keiner von dir verlangen.

Ich denke, du solltest dich auf jeden Fall bei ihnen melden. Du vermißt sie, sie vermissen dich. Und es wird dir gut tun, ein paar Menschen zu sehen, die dich wirklich lieben. Denn das tun sie alle, ich bin mir da ganz sicher." Ängstlich verkrampften sich Harrys Finger ineinander. Sie liebten ihn? Taten sie das denn noch? Sirius vielleicht, Remus... ja, Remus ganz sicher. Aber Hermine? Ron? Die zwei waren schon so vollkommen anders gewesen, als er damals verschwunden war. So abweisend, so voller Ärger und Wut auf ihn. Und wenn sie sich jetzt noch mehr verändert hatten, wie Dumbledore sagte, was bedeutete das dann?

Verändert im Sinne, daß es noch schlimmer geworden war?

Adrian. Ihm würde er ganz sicher schreiben. Er war nicht böse auf ihn, das wußte er. Remus und Sirius. Ja, ihnen würde er auch schreiben. Sie würden es – nein, nicht verstehen, aber verzeihen ganz sicher.

Ron und Hermine. Harry konnte es fühlen, wie sehr er die beiden vermißte. Er vermißte das Goldene Trio, den Spaß, den sie zusammen gehabt hatten, das Vertrauen das zwischen ihnen bestanden hatte. Aber waren das Dinge, die man noch einmal zurückholen konnte?

Vor den beiden hatte er die meiste Angst. Sie waren die ersten Menschen gewesen, die ihm eine so echte und so enge Freundschaft entgegen gebracht hatten. Sie waren seine Säulen gewesen, auch wenn sie das vielleicht nie gewußt hatten. Er hatte Angst, daß er nicht stehen konnte, wenn sie nicht länger seine Säulen sein wollten. Es war so schlimm gewesen, erleben zu müssen, wie sie sich von ihm abwandten.

„Was tun sie jetzt eigentlich? Was ist in den letzten vier Jahren passiert? Ich weiß so gar nichts mehr von ihnen." Irgendwie bezweifelte er sogar, daß er jemals wirklich etwas über sie gewußt hatte. Sie waren so selbstverständlich gewesen und schon nach kurzer Zeit, war er sich sicher gewesen, daß sie immer zusammen sein würden. Und nun waren Ron und Hermine Fremde für ihn geworden.

„Der junge Mr. Weasley hat vor etwa zwei Jahren geheiratet", begann Dumbledore und sofort spürte Harry den ersten Stich. Ron hatte geheiratet. Sein bester Freund hatte geheiratet und er hatte es verpaßt. Er war nicht Trauzeuge gewesen, wie Ron einmal wie selbstverständlich gesagt hatte. Sie waren erst sechzehn gewesen, hatten es wie einen dummen Scherz behandelt – welcher Sechzehnjährige überlegte sich schon, wie einmal seine Hochzeit sein würde? Das taten doch nur Mädchen. Und trotzdem hatte Harry schon immer gewußt, daß Ron das wirklich wollte.

Und er war selbst schuld daran, daß das nicht in Erfüllung gegangen war. Das war noch das schlimmste.

„Wen?" fragte Harry mit belegter Stimme. Er fühlte, wie seine Augen zu brennen begannen, doch er wollte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht über Dinge, die er doch ganz allein verbockt hatte.

„Kannst du dir das nicht vorstellen?" fragte Dumbledore gutmütig zurück und irgendwie war Harry gleichzeitig erleichtert und noch trauriger darüber, daß er die Hochzeit verpaßt hatte, als noch einen Moment zuvor.

„Hermine also." Dumbledore nickte.

„Sie leben jetzt in Luton." Harry blickte überrascht auf.

„Nicht gerade die schlechteste Gegend von London."

„Nicht viele haben erwartet, daß Ron Weasley die Karriereleiter so schnell hinaufsteigen würde. Und auch Hermine ist nicht gerade eine unwichtige Person.

Ron bekam einen sehr guten Posten im Ministerium angeboten. Die herausragenden Dienste seines Vaters waren mit ein Grund dafür, ein anderer natürlich, daß nach unserem – deinem Sieg über Voldemort viele wichtige Ämter überraschend frei wurden. Diese Positionen wurden bevorzugt mit Leuten besetzt, denen aus Gründen wie der Tatsache, ein Sohn von Arthur Weasley zu sein, ein gewisses Vertrauen entgegen gebracht wurde.

Hermine sitzt inzwischen in der Redaktion des Tagespropheten. Man munkelt sogar jetzt schon, daß sie eines Tages die neue Chefredakteurin sein wird. Und wenn du mich fragst, diese Leute haben gar nicht so Unrecht damit", er zwinkerte Harry zu, der mit deutlich sichtbarem Staunen zuhörte.

Hermine eine Journalistin? Vielleicht sogar bald Chefredakteurin? Ron ein höheres Tier im Ministerium? So viel konnte in nur vier Jahren also passieren. Ron und Hermine verheiratet, vielleicht sogar selbst schon Eltern. Er hatte ein ganzes Leben verpaßt, wie es schien.

„Haben sie schon Kinder?" fragte Harry fast automatisch, nur damit die Stille um ihn herum aufhörte und Dumbledore weitersprach.

„Nein. Aber sie sind ja auch erst seit zwei Jahren verheiratet und noch sehr jung. Sie haben Zeit. Beide haben im Moment andere Dinge im Kopf, schätze ich."

„Ja... ja, Sie haben recht. Sie müssen es ja nicht überstürzen", Harry versuchte, fröhlich zu klingen, aber für ihn hörte es sich so an, als würde er dabei vollkommen versagen.

„Sirius und Remus leben zusammen in Sirius' Elternhaus. Sirius wollte es erst verkaufen, aber Remus hat ihn dann doch irgendwie überredet, es zu behalten.

Zu viele Erinnerungen und nicht nur schlechte, wie er sagt.

Sie sind beide nicht verheiratet, aber sie haben vor etwa drei Jahren eines der vielen Waisenkinder zu sich geholt. Ein kleines Mädchen." Harrys Kopf schoß förmlich nach oben bei diesen Worten und Dumbledore mußte nicht einmal besonders hellsichtig sein, um die Gedanken des jungen Mannes erraten zu können. Sie standen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

„Sie brauchten eine Aufgabe und einen Sinn im Leben, Harry. Ich glaube nicht, daß sie dich damit ersetzen wollten. – Ich finde es sogar gut. Für viele der Kämpfer, die viel verloren hatten, ist es zum Ziel geworden, immer weiter zu kämpfen und nicht zu ruhen, bis der letzte Todesser in Askaban ist.

Sirius und Remus haben entschieden, daß sie lieber einem jungen Zauberer ein Leben bieten wollen. Ich bin mir sicher, sie hätten es auch getan, wenn du nicht – verschwunden wärst." Doch irgendwie konnte Harry das noch nicht so vollkommen überzeugen. Er fühlte sich noch immer, als hätte Dumbledore ihm gerade gesagt, daß er durch ein anderes Kind ersetzt worden war, eines das jünger war, weniger kaputt, weniger verbraucht.

Die kleine innere Stimme in ihm sagte ihm, daß das vollkommener Blödsinn war, doch er hatte Mühe, sie zwischen all den Ängsten und negativen Gefühlen auch zu hören. Es war so einfach, an das Schlechte zu glauben.

Der Gedanke ließ ihn auch nicht los, als Dumbledore ihm von all den anderen erzählte. Von Neville, der eine eigene kleine Kräuterapotheke in der Winkelgasse besaß, von all den anderen Weasley, inzwischen fast alle verheiratet und selbst Vater oder Mutter. Und von dem riesigen Erfolg, den Fred und George noch immer mit ihren Scherzartikeln hatten.

Die Offenheit, die Dumbledore ihm gegenüber während des ganzen Gespräches gezeigt hatte, hatte ihm sehr gut getan, selbst wenn diese Offenheit nicht nur gute Nachrichten für ihn gehabt hatte. Er fühlte sich tatsächlich besser. Es war gut gewesen, darüber zu reden, selbst wenn neue Fragen und neue Sorgen aufgekommen waren, da war er sich sicher.

Ob er sich stark genug fühlte, jetzt auch wirklich diesen Schritt auf seine Freunde zu zum machen, konnte er zwar immer noch nicht sagen, aber irgendwie fühlte er sich zuversichtlicher und das war doch schon ein großer Fortschritt. Mut fehlte ihm jetzt noch, aber den würde er schon noch finden. Mut und Kraft.

Sie hatten viele Stunden in der Bibliothek gesessen, als Dumbledore Harry schließlich zurück in die Kerker schickte. Der Nachmittagsunterricht würde in wenigen Minuten enden.

:----:

Deine Verwirrung in der letzten Zeit ist so stark, daß sie selbst mich irritiert. Machst du das mit Absicht?"

Natürlich. Es ist mein einziges Lebensziel. – Daß gerade du so etwas zu mir sagst, finde ich schon ziemlich komisch."

Warum?"

Weil du doch der Meister darin bist, jemanden zu irritieren, wenn ich dich an unsere Anfänge erinnern darf. Keine klaren Antworten, immer nur geheimnisvolles Getue."

Das war etwas Anderes."

Wieso wußte ich ganz genau, daß du das sagen würdest? Du wirst berechenbar."

Sehr gut. Das kann doch nur heißen, daß die Grenzen langsam wirklich verschmelzen."

Das klingt ja mal erstaunlich kleinlaut für dich. Du weißt es also in Wahrheit auch nicht wirklich und tust schon die ganze Zeit so furchtbar oberschlau. Interessant."

Natürlich weiß ich es nicht wirklich. Wenn ich dich daran erinnern darf, nicht nur du machst so etwas hier zum ersten Mal durch. – Und nur so nebenbei. Ich halte es nicht für besonders hilfreich, daß du ihn im Moment so vor den Kopf stößt."

Severus?"

Nein, Salazar Slytherin. Natürlich Severus, wen denn sonst? Ist ja nicht so, als würdest du großartig soziale Kontakte pflegen."

Ach, halt doch die Klappe."

Nein, werde ich nicht. Wenn ich die Klappe halte, wirst du dich nie entscheiden und vielleicht am Ende noch alles kaputt machen. Wie könnte ich da die Klappe halten, du dummes Kind?"

Du bist genau so ein Kind!"

ICH würde ihn nie so vor den Kopf stoßen."

Das sagt sich so leicht, wenn man eigentlich nur eine Wahnvorstellung ist. Im Gegensatz zu dir existiere ich aber auch außerhalb dieser Fantasie hier und ich muß erst darüber nachdenken, bevor ich etwas von mir gebe, was alles verändern kann."

Du raffst es einfach nicht oder? Ich bin keine Wahnvorstellung. Mit deinem Kopf, deinem Verstand und deinem Geist ist alles vollkommen in Ordnung."

Lieber schizophren als ganz allein, was?"

Idiot. Sei froh, daß das hier nichts mit Schizophrenie zu tun hat. – Und jetzt krieg endlich deinen Hintern hoch und triff eine Entscheidung. Hör auf, ihm aus dem Weg zu gehen oder ihn mit Nichtachtung zu strafen. Er mag ein kluger Mann sein, aber das heißt nicht, daß er das begreifen kann. Und du weißt doch, wie er ist. Mich würde es nicht wundern, wenn er schon ziemlich bald als Antwort die eigenen Stacheln aufstellt."

Lust auf einen Rollentausch?"

Ich hab Lust, dich zu erwürgen und jetzt hau endlich ab. Du hast ein Leben zu führen. – Man könnte fast meinen, der denkt, ich mache das hier gerne."

DAS habe ich gehört!"

Hab nie behauptet, daß du es nicht hören sollst."

..."

Warum bist du immer noch da?"

Ich... ich weiß nicht, was ich machen soll. Hilf mir, nur einmal. – Bitte."

Ich kann dir nicht sagen, wie du dich entscheiden sollst."

Warum nicht?"

Weil ich nicht der Teil von uns bin, der begreifen muß. – Tu einfach das, was du vom Gefühl her für das richtige hältst. Das ist keine Entscheidung, die man mit dem Kopf trifft. Wenn du das versuchst, wirst du wirklich niemals zu einer Lösung kommen. – Aber egal, wie du dich entscheidest, hör verdammt noch mal damit auf, Severus auszuschließen!"

Dir liegt sehr viel an ihm, was?"

Dir doch auch."

Ja. Und vielleicht sogar noch mehr."

Dann zeig ihm das."

..."

Das ist der falsche Zeitpunkt, um Angst zu haben, Harry."

:----:

Kein Buch. Nicht auf dem Couchtisch, nicht auf dem Teppich vor dem Kamin. Nur ein schweigsam dasitzender Harry, der die Beine ganz nah an den Körper gezogen und die Arme darum geschlungen hatte, während er ins Feuer starrte.

Besorgt runzelte Severus die Stirn. Es war in den letzten paar Tagen immer schlimmer geworden. In zwei Tagen schon würden die Schüler das Schloß verlassen, die Ferien würden beginnen. Was würde dann sein? Vor kurzem noch hatte er sich sogar fast auf die Zeit gefreut, die er wieder intensiver mit Harry verbringen konnte, doch seit dieser angefangen hatte, sich so in sich zurückzuziehen und das sogar noch immer schlimmer statt wieder besser wurde, war Severus sich nicht sicher, ob er das volle zwei Wochen mitmachen konnte.

Das Schweigen war belastend, die Abweisung inzwischen sogar schmerzhaft. Noch immer schalt er sich einen törichten Narren deswegen, aber es gehörte nun einmal zu den Dingen, die er einfach nicht abschalten konnte, wie und wann er wollte. Er war verletzt und fühlte sich verletzt.

Und er war sich inzwischen nicht mehr sicher, daß Harrys merkwürdiges Verhalten wirklich damit zusammenhing, was er vor kurzem angedeutet hatte. So viel Angst davor, mit seinen Freunden zusammen zu treffen, konnte er nicht wirklich haben. Oder doch? Severus wußte, daß Harry den Überblick ein wenig verloren hatte. – Ein wenig? Er mußte schmunzeln. Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.

Harry hatte den Überblick total verloren, während er in London im Dreck versunken war, aber jetzt wurde er mit jedem Tag klarer und einsichtiger und Severus konnte sich nicht vorstellen, daß er in dieser Phase noch immer glaubte, seine Freunde und die kläglichen Überreste seiner Familie könnten ihn wirklich so abgrundtief hassen, wie er befürchtete.

Severus griff nach der Wolldecke, die in einem Knäuel auf der Couch lag und ging langsam auf Harry zu. Sanft legte er dem jungen Mann die Decke um die Schultern, denn das leichte Zittern, das den immer noch viel zu dünnen Körper durchfuhr, war ihm nicht entgangen.

Harry fuhr heftig zusammen, als er die Decke um sich und Severus' Hände auf seinen Schultern spürte. Er war so tief in seine Gedanken versunken gewesen, daß er den anderen gar nicht gehört hatte. Mal wieder. Nachdem der erste Schreck verklungen war, versuchte er ein Lächeln, doch er wußte, daß es ihm nicht sonderlich gut gelang. Er sah die Sorge in Severus' Gesicht, den fragenden Blick, den Severus ihm schon seit Tagen immer wieder zuwarf.

Er wollte so gerne darauf antworten, doch er wußte nicht wie.

„Du hast mich erschreckt", murmelte er leise, zog aber dankbar die Decke fester um sich. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß er gefroren hatte.

„Tut mir leid", entgegnete Severus fast genauso leise und widerstand nur knapp dem Impuls, Harry einfach zu umarmen und ihm zu sagen, daß er sich vor ihm nie erschrecken brauchte. Woher kamen auf einmal nur diese lächerlichen Gedanken und diese noch viel lächerlicheren Impulse?

Aber was noch viel schlimmer war: Sich diese Impulse zu untersagen, intensivierte den dumpfen Schmerz, den Harrys Verhalten in ihm hervorrief nur noch.

„Hast du schon etwas gegessen?" versuchte er erneut, wenigstens eine Art Gespräch aufzubauen. Harry schüttelte den Kopf. Er hatte längst begriffen, daß es keinen Sinn machte, Severus in dieser Sache belügen zu wollen. Dobby würde es ihm sofort sagen. Kleiner Verräter, dachte Harry mit einem winzig kleinen Lächeln.

„Ich werde Dobby rufen. Er soll uns etwas bringen." Doch wieder schüttelte Harry den Kopf.

„Nein, für mich bitte nicht. Ich fühle mich nicht gut und ich es will es nicht wieder alles auskotzen müssen." Im ersten Moment wollte Severus widersprechen, aber er mußte wohl zugeben, daß Harry in der letzten Zeit sehr häufig auf diese Art und Weise auf Nahrung reagierte. War Severus anfangs noch ratlos gewesen, war er sich jetzt doch ziemlich sicher, daß das mit dem zusammen hing, über das Harry nun schon so lange nachgrübelte. Es mußte etwas sein, woran er wirklich heftig knabberte und das er scheinbar nicht alleine in den Griff bekam. Um so unverständlicher war es für Severus, daß der Jüngere einfach nicht um Rat bat.

„Versuch es mit Suppe", startete er seinen letzten Versuch, doch wieder war die Antwort ein Kopfschütteln, als Harry langsam aufstand und seine Beine streckte, die vom langen Sitzen in dieser angewinkelten Haltung schon halb eingeschlafen waren.

„Nein, ich werde schlafen gehen, denke ich. Ich bin schon den ganzen Tag so müde." Harry sah ihn nicht an, bei keinem einzigen Wort. Er tat es nie, wenn er sich aus Severus' Gesellschaft herauswand. Schon wieder. Sie waren kaum fünf Minuten zusammen in diesem Raum gewesen und schon wieder flüchtete Harry. Seine Zimmertür fiel hinter Harry ins Schloß.

Die Decke hatte der Jüngere beim Aufstehen auf den Boden gleiten lassen. Nachdenklich bückte Severus sich und hob sie auf. Sie war noch leicht warm und an ihr haftete Harrys Geruch. Er war der einzige, der sie benutzte, deshalb war es nicht verwunderlich. Doch an diesem Abend verspürte Severus den heftigen Drang, sich selbst in sie einzuwickeln und einfach darauf zu hoffen, daß alles von alleine verging, er nicht dazu gezwungen wurde, weiter darauf zu warten, ohne zu wissen, ob Harry ihn loswerden oder doch bei ihm bleiben wollte. Das machte ihn wahnsinnig.

Langsam ging Severus zur Couch hinüber, streifte seine Schuhe ab, setzte sich. Mit ein wenig Mühe nahm er eine ähnliche Haltung ein wie Harry wenige Minuten zuvor auf dem Teppich, und schlang die Decke um seinen Körper.

Er hätte es gleich tun sollen, als er es Dumbledore gegenüber erwähnt hatte. Aber der Gedanke daran, Adrian noch einmal zu begegnen, den er nach wie vor – und wieder war es nur ein törichter Gedanke – für seinen Rivalen hielt, wenn er nur an ihn dachte, war nicht gerade verlockend gewesen. Und so hatte er zwar zu Dumbledore gesagt, daß er ihn wohl noch einmal aufsuchen mußte, hatte es aber nie getan.

Jetzt schien es ihm langsam unumgänglich. Adrian wußte Dinge, die er nicht wußte, die ihm aber den Umgang mit Harry ungemein erleichtern würden. Er wußte, daß der Muggel es ihm niemals freiwillig würde erzählen wollen, aber Severus würde ihn schon von der Notwendigkeit überzeugen können. Oder besser, er würde es müssen. So konnte es nicht weitergehen, früher oder später würden seine Nerven das nicht mehr mitmachen und er würde Dinge sagen und tun, die er dann sehr bald bereuen würde.

Adrian konnte helfen und er mußte helfen, keine Diskussion.

Severus fühlte sich schlecht und klein und er war es nicht gewohnt sich so zu fühlen. Wie hatte Harry ihn nur so weit gebracht?

:----:

Das starke Gefühl, ein Déjà Vu zu erleben, überkam Severus, als er zum zweiten Mal in dem schäbigen Stadtteil von London apparierte, in dem Adrian lebte. Die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche und auch fürs Auge hatte sich nicht viel getan, wie er feststellen mußte.

Er konnte sich Harry noch immer nicht in dieser Umgebung vorstellen.

Vor dem Wohnhaus blieb er stehen, das Gefühl wurde noch einmal stärker. Er wußte noch immer nicht, welche Klingel die richtige war. Er hatte aber auch nicht wirklich damit gerechnet, noch einmal zurückkehren zu müssen. Wieso hätte er also daran denken sollen, diese Frage noch zu klären?

Ein leises Knurren drang aus Severus' Kehle, als er in die Tasche seines Mantels griff und seinen Zauberstab hervorholte. Vorsichtig blickte er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete, bevor er den Stab auf das Schloß richtete.

„Alohomora", flüsterte er. Das Türschloß klickte leise, als es sich entriegelte und mit einem sanften Druck gegen die Tür schwang sie sacht nach innen auf.

Na immerhin hatte er sich gemerkt, in welchem Stockwerk die Wohnung war, dachte Severus bitter und stieg die Treppen hinauf. Wie auch schon beim letzten Mal sehr langsam und vorsichtig. Er traute dem baufälligen Ding noch immer nicht über den Weg.

Das Licht im Hausflur erschien ihm diesmal sogar noch trüber, doch trotzdem wußte er sofort, welche der drei Türen auf dem Stockwerk die zu Adrians Wohnung war. Zögernd blieb er vor ihr stehen, schloß für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, das Gefühl niederzukämpfen, das ihn dazu bringen wollte, sich einfach wieder umzudrehen und zu gehen. Warum benahm er sich nur so kindisch?!

Wütend über sich selbst preßte er die Zähne aufeinander und klopfte energisch an die Tür. Er mußte. Schluß.

In der Wohnung rührte sich nichts. Severus klopfte erneut. Als schließlich auch nach dem dritten Klopfen keine Reaktion kam, zog er erneut seinen Zauberstab hervor und öffnete die Tür zur Wohnung. Drinnen brannte kein Licht.

Trotzdem trat Severus über die Schwelle, warf einen vorsichtigen Blick in jeden Raum. Man wußte ja nie, ob Adrian nicht vielleicht schlief oder seinerseits vollgepumpt mit Drogen in irgendeiner Ecke lag und ihn einfach nicht gehört hatte. In seiner Abneigung gegen den jungen Mann traute er ihm so ziemlich alles zu, selbst wenn er sagte, daß er keine Drogen nahm.

Doch Adrian war nicht da, die Wohnung wirklich absolut leer und verlassen. Und genauso ordentlich und sauber wie beim letzten Mal, stellte Severus überrascht fest. Irgendwie war es in seiner Vorstellung gar nicht möglich, daß jemand, der so ein Leben führte solch vollkommen normalen Eigenschaften hatte, wie einen Hang zur Ordnung.

Severus rieb sich müde über die Augen. Was für ein Unsinn. Warum sollte das nicht so sein?

„Du bist überreizt und du hast Vorurteile, Idiot", zischte er sich selbst zu, bevor er mit einem letzten Blick in das Wohnzimmer auf dem Absatz kehrt machte und die Wohnung verließ. Jetzt mußte er den jungen Mann wohl oder übel suchen. Ein kleiner Ortungszauber würde da sicher sehr hilfreich sein.

Wie Severus erwartet hatte, führte der Ortungszauber in ein nicht wirklich freundlicheres Viertel, das allerdings ein ganzes Stück näher am Stadtkern von London lag. Schon bei seinem ersten Besuch war ihm klar gewesen, daß die Wohngegend von Adrian als lukrativer Arbeitsplatz nicht taugte. Und jetzt wo er diese Straßen sah, in denen an jeder Ecke ein Mann oder eine Frau stand und eindeutig auf etwas wartete, sah er sich in der Annahme bestätigt. Und er fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten.

Er war nicht zum ersten Mal in einer solchen Gegend, aber trotzdem war das Gefühl diesmal ein ganz anderes. Weil er diesmal nicht einfach an ihnen vorbei ging. Diesmal suchte er einen von ihnen und es war ihm mehr als unangenehm, daß die meisten ihn für einen von diesen Perversen halten würden, an denen sie ihr Geld verdienten.

„Ich hoffe, Sie sind auf der Suche nach mir, Snape", erklang eine bekannte Stimme hinter ihm und ließ Severus sofort in seinem Schritt innehalten. Das leichte Versteifen seiner Schultern war dabei jedoch das einzige Zeichen, daß der andere ihn überrascht hatte. Er drehte sich um und das erste, was er sah, waren schon wieder diese auffällig blauen Augen.

„Ich suche ganz sicher nicht nach einer Gesellschaft für ein paar Stunden", warf er bissig zurück, als Adrian sich von der Hauswand löste, an der er gelehnt hatte und auf ihn zutrat.

„Wie schade. Ich hätte Ihnen sogar einen Sonderpreis gemacht, weil Sie ein guter Freund von Jamie sind." Snape hob die rechte Augenbraue.

„Lassen wir die Spielchen. Sie und ich, wir wissen beide, daß ich nicht nach einer Nutte suche und daß Sie sich mir auch niemals anbieten würden. Eher müßte ich doch aufpassen, daß Sie mir allein dafür, daß ich in scheinbar offensichtlicher Absicht hier bin, kein Messer in den Rücken rammen, weil Sie denken, ich hintergehe Harry." Adrian lächelte, sagte nichts. Snape hatte es ziemlich gut erkannt.

„Tatsächlich suche ich nach Ihnen und von mir aus bezahle ich Ihnen Ihre Zeit auch. Ihre Kleidung können Sie allerdings gerne anbehalten, ich will nur ein paar Antworten." Adrians Haltung wurde abwehrend.

„Sie werden nichts von mir erfahren, was Jamie Ihnen nicht erzählt, Snape." Die schwarzen Augen des Zaubertranklehrers wurden hart, sein Blick kalt wie Eis, als er ein wenig näher auf den Jüngeren zutrat. Seine Haltung und sein Auftreten war zu hundert Prozent gebieterisch, duldete keinen Widerspruch.

„Sie werden reden, das verspreche ich Ihnen. Oder Sie sind nichts weiter als ein großer Lügner. Und jetzt kommen Sie mit", seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie verfehlte ihre einschüchternde Wirkung nicht, auch wenn Adrian sich schon nach Sekunden wieder so weit gefaßt hatte, daß er ihm doch noch einmal die Stirn bieten wollte.

„Wohin, Snape?" zischte er zurück, stellte sich nun selbst so gerade wie möglich hin, um gegen Severus anzukommen, doch so entschlossen und imposant wie der Ältere würde er wohl nie wirken.

„Zu Ihnen nach Hause, in irgendeine Kneipe, es ist mir vollkommen gleich. Hauptsache wir können ungestört reden." Sie fixierten sich mit Blicken, trugen einen sturen Kampf aus und erkannten sich in diesem Moment deutlich als die Konkurrenten, die sie waren, selbst wenn der Kampf von Harry schon lange entschieden war, wie Adrian nur zu genau wußte. Doch Severus schien das nicht zu wissen und das machte Adrian neugierig.

Es hatte den jungen Mann nicht wirklich verwundert, daß er nichts mehr von Harry gehört hatte, aber er hatte nicht damit gerechnet, daß Severus Snape nach zweieinhalb Monaten wieder bei ihm auftauchen würde und das nicht als triumphaler Gewinner, sondern als ein Mann, der scheinbar zu allem entschlossen war, weil er keinen anderen Weg mehr wußte.

„Gut. Zu mir", gab er schließlich nach, drehte sich um und ging davon. Snape würde ihm schon folgen. Mit wenigen langen Schritten war Severus mit ihm wieder auf gleicher Höhe.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich den Weg gerne ein wenig abkürzen", knurrte er, packte Adrian am Arm und zog ihn in die nächste dunkle Gasse, die ihm als brauchbar erschien.

Adrian sank in diesem Moment das Herz vor Schreck in die Hose und das Gefühl wurde noch schlimmer, als Severus ihn näher an sich heranzog. Was um Himmels Willen sollte das?

„Seien Sie so gut und zappeln Sie nicht so rum. Ich habe keine Lust, Ihre Einzelteile wieder zusammensuchen zu müssen." Sofort stand Adrian stockstill und im nächsten Moment spürte er ein Kribbeln, das in seiner Magengegend anfing und sich in wenigen Sekunden in seinem ganzen Körper ausbreitete, bevor die Welt um ihn herum schließlich verschwamm.

Und sich Sekundenbruchteile später wieder materialisierte. Nur daß er nicht mehr in der selben Straße stand, sondern ganz in der Nähe seines Wohnhauses. Magie. Er hatte zum ersten Mal erlebt, was echte Magie war! Verdattert strich er sich durch das wirre, blonde Haar, das auch heute wieder in alle Richtungen abstand.

„Können Sie stehen?" fragte Severus ein wenig sanfter, und erst da fiel Adrian auf, daß der Zauberer ihn noch immer festhielt. Er schluckte, nickte dann aber. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, aber es würde schon gehen. Severus ließ ihn los und trat aus der Gasse ins Freie.

Den restlichen kurzen Weg zur Wohnung legten sie schweigend zurück. Erst als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloß fiel und Adrian seine Jacke aufgehängt hatte, sah er Severus wieder an.

„Möchten Sie einen Tee?" fragte er mehr automatisch und wunderte sich, als Severus nickte.

„Ja, gerne."

„Gehen Sie doch schon mal ins Wohnzimmer. Sie wissen ja, wo es ist."

Adrian brauchte die Minuten, die er vor dem Gespräch noch einmal allein sein konnte, um sich wieder zu fangen. Severus Snape, hier in seiner Wohnung. Er hatte nicht gedacht, daß er den stolzen Zauberer noch einmal wiedersehen würde. Aber jetzt war er da und er würde vielleicht endlich was über Harry erfahren. Schon seit Monaten nicht mehr zu wissen, wie es ihm ging, war einfach nur furchtbar für Adrian gewesen.

Severus wollte Antworten. Gut, da konnten sie einen fairen Handel machen. Ihm ging es genau so.

Das Pfeifen des Kessels holte ihn in die Realität zurück.

:----:

Doch zu Adrians Deal kam es nicht. In der Zeit, die das Teekochen beanspruchte, hatte auch Severus sich seine Gedanken gemacht, wie er das Gespräch aufziehen sollte und wo seine Möglichkeiten lagen.

Und ihm war klar, daß er an Adrian nur herankommen konnte, wenn er ihm alles berichtete. Nur so konnte Adrian verstehen, wie wichtig es war, daß er Harry half statt ein paar Geheimnisse zu hüten, die ihn früher oder später doch nur auffressen würden.

Und so begann Severus, kaum daß Adrian sich gesetzt und den Tee ausgeschenkt hatte, auch schon damit, die vergangenen sieben Wochen aufzurollen. Adrian hörte zu. Und er verstand. Das konnte Severus aus seinen Reaktionen ablesen, dem Ausdruck auf seinem Gesicht. Adrian versuchte zwar so gut wie möglich, all das vor Severus zu verstecken, aber Severus war einfach zu viele Jahre seines Lebens Spion gewesen, als daß ihm die subtilen Reaktionen, die das menschliche Gesicht stets aufwies und so viel über die Gedanken des anderen verrieten, noch übersehen konnte.

Immerhin half ihm dieses Verstehen in Adrians Gesicht über seine Widerwilligkeit hinweg, was das Erzählen überhaupt betraf.

„Sie wissen, was Harry in diesen Flashback erlebt hat, Adrian. Und ich weiß, daß Sie es wissen. Es ist mir vollkommen egal, was Sie Harry versprochen haben, oder was Sie ihm zu schulden glauben, ich will wissen, was damals geschehen ist. Und ich will wissen, ob ich noch mehr zu erwarten habe." Severus' Ton war gebieterisch, die Kälte der Stimme griff nach Adrian und machte ihm unmißverständlich klar, was Severus nicht ausgesprochen hatte. Wenn er es ihm nicht sagte, würde er wissen, wie es aus ihm herausquetschte.

Verzweifelt vergrub er das Gesicht in seinen Händen, die ein wenig zitterten. Er hatte nur noch vor sehr wenig in diesem Leben Angst, aber es war nicht überraschend, daß er jetzt feststellte, daß Severus Snape eines dieser wenigen Dinge war.

„Snape, Sie müssen versuchen, das zu verstehen. Jamie hatte es nicht leicht, er hat viel Scheiße durchgemacht und Scheiße hat ihre Folgen. Sie verändert einen Menschen. Aber es bleibt dennoch seine persönliche Angelegenheit..."

„Antworten, keine Ausflüchte", Severus verlor die Geduld. „Darf ich Sie vielleicht daran erinnern, was Sie bei unserem letzten Zusammentreffen zu mir sagten? Ich solle gut auf ihn aufpassen, weil er mir vertraut.

Ich wußte damals schon genau, was diese Worte noch bedeutet haben. Sie waren nicht einfach nur eine Bitte, nicht wahr? Sie waren gleichzeitig auch eine Drohung. Tu ihm weh und ich zahle es dir heim. Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?" Adrian preßte die Lippen zusammen, seine Augen wurden schmaler. Und was, wenn er das hatte sagen wollen? Wollte dieser Kerl jetzt behaupten, daß er auch nur im geringsten davon beeindruckt gewesen wäre? Wollte er ihn vielleicht verarschen?

„Schon möglich", preßte Adrian hervor und Severus hörte die Wut. Nur knapp unterdrückte er ein Lächeln. Wut war gut. Wut entriß einem oft die Kontrolle. Adrian würde reden. – Nur ob es ihm danach auch noch gefallen würde, konnte Severus beim besten Wille noch nicht sagen.

„Und Sie denken nicht, daß ich Harry sehr weh getan habe, als das passiert ist? Denken Sie nicht, daß meine Reaktion ihn verletzt hat?" Mit jedem Wort steigerte sich die Schärfe in Severus' Stimme. Er konnte gar nicht verhindern, daß es ihn immer wütender machte, wenn er an die Sache dachte und daran, daß ein bißchen mehr Hintergrundwissen zumindest hätte verhindern können, daß diese Verlustängste in Harry ausbrachen. – Vielleicht sogar diese Distanz, die der junge Mann jetzt zu ihm aufbaute.

„Eine Reaktion, die nur so ausfiel, weil ich von nichts wußte." Adrian zuckte bei diesem Vorwurf zusammen.

„Und warum denken Sie, daß Sie anders gehandelt hätten, wenn Sie von seiner Vergangenheit gewußt hätten", erwiderte Adrian trotzig, aber doch in dem vollen Bewußtsein, daß dieser Frage kindisch war. Der Zauberer hätte anders reagiert. Man mußte ihn nur genauer ansehen, um zu wissen, daß Severus schlimmeres gesehen hatte, als das was Adrian verschwieg, mehr Kontrolle über seine Emotionen hatte, als für ihn gut war.

Adrian war vielleicht in den Augen vieler nicht mehr als ein Prostituierter, ein minderwertiges Geschöpf, aber eines brachte dieser Beruf doch mit sich, wenn man klar dabei blieb und nicht wie Harry abstürzte. Masken wurden weniger undurchdringlich und der sechste Sinn wurde mit jedem Jahr schärfer.

Was aber nicht hieß, daß seine Vernunft über seinen Trotz siegen mußte, wenn es um Harry ging. Adrian hätte gerne darüber gelacht.

„Sie weichen noch immer aus. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann hören Sie damit jetzt auf und fangen endlich an, mir zu erzählen, was ich wissen will." Adrian schloß die Augen und atmete tief durch. Er wußte, daß er es jetzt auf die Spitze getrieben hatte, daß er nicht mehr weiter gehen konnte. Die Stimme des Zauberers war nicht mehr als ein bedrohliches Flüstern gewesen. Und doch war der Widerwillen in ihm noch immer da. Was war nur aus seinem Selbsterhaltungstrieb geworden, seit er Harry kannte?

Diesmal erlaubte Adrian sich zumindest ein Lächeln.

„Jamie hat schon gute zwei Jahre bei mir gelebt, als diese Sache passierte, die er vermutlich noch einmal durchlebt hat. Es ist jetzt etwas über ein Jahr her, aber er hat immer wieder Alpträume davon gehabt, manchmal auch diese Flashbacks. Es ist vollkommen unberechenbar." Blaue Augen trafen auf schwarze, Adrians Blick eindringlich, als wolle er sicher gehen, daß der andere diese wichtige Information auch garantiert aufgenommen hatte. Severus nickte, seine Nerven zum Zerreißen gespannt.

„Er hat mir nie genau erzählt, was passiert ist und ich habe nach einer Weile aufgegeben, es aus ihm herausbekommen zu wollen. Ich habe mir im Prinzip meinen Teil gedacht, anhand seiner Reaktionen, der Verschlechterung seiner ganzen Situation.

Ich wollte ihn halten, aber es ging nicht. Er hat nicht nach meiner Hand gegriffen, als ich sie ihm reichen wollte." Adrian fuhr sich durch das Haar und blickte sich einen Moment suchend in seinem Wohnzimmer um. Er fühlte sich auf diesem Boden verloren, wußte nicht, wo er anfangen sollte, welche Informationen Severus brauchte, was er für sich behalten konnte, um wenigstens ein wenig von Harrys Geheimnissen zu bewahren, wie er es eigentlich für sich geschworen hatte.

„Aber vielleicht fangen wir besser von vorne an, bei der Frage, die Ihnen wohl am meisten auf der Seele brennt.

Nachdem ich Jamie verletzt aufgelesen habe, habe ich ihn hier gesund gepflegt. Eigentlich wollte ich das zu Anfang gar nicht. Ich wollte ihn so früh wie möglich wieder auf die Straße setzen, mein eigenes Leben weiter leben.

Aber so einfach ist das bei Jamie nicht. Selbst wenn er vorsichtig wie ein scheues Tier oder kratzbürstig und abweisend ist, hat er ein gewinnendes Wesen. Ich fand ihn interessant, seine Gegenwart sogar angenehm, auch wenn es nicht immer einfach war.

So angenehm, daß ich ihn nicht gehen lassen wollte, als die Wunden schließlich verheilt waren.

Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht, als was ich mein Geld verdiene und er hat mir klar gesagt, daß er das nicht machen will. – Ich hätte es nie von ihm verlangt, aber der Ehrlichkeit halber muß man auch sagen, daß es für die meisten als der einfachste Weg erscheint. Sie denken nicht so weit, sich wirklich alle Konsequenzen klar zu machen." Severus spürte, wie er innerlich immer unruhiger wurde, während er seine äußerliche Starre aufrecht halten wollte. Hoffnung mischte sich mit dem Wissen, daß es trotzdem so weit gekommen sein mußte.

Und was wenn?" Eiskalte Stimme, noch viel kältere, blaue Augen.

Nichts. Nichts war wenn.

„Jamie hat nach einem Job gesucht. Unermüdlich. Manchmal hatte ich das Gefühl, seine Hoffnung und Zuversicht kenne keine Grenzen. Und dann gab es auch wieder Tage, an denen ich nach Hause gekommen bin und ihn nah am Zusammenbruch gefunden habe. Manchmal war Monate nichts und dann gab es wieder Tage, in denen mehr von seinem Blut geflossen ist, als ich ertragen konnte.

Ich habe bis heute kein Muster in der Sache erkannt und wußte darum nie, wann es wieder so weit sein würde. Das war ziemlich niederschmetternd." Adrian hielt für einen kurzen Moment in seiner Erzählung inne, um sich selbst wieder ein wenig zu beruhigen. Selbst die bloße Erinnerung an die Tage, an denen er Harry im Badezimmer gefunden hatte, Blut überall, mehr als man bei den kleinen Wunden für möglich gehalten hatte, schnürte ihm noch immer die Luft ab, ließ die Panik wieder in ihm aufwallen.

Mehr als einmal hatte er gedacht, daß es so viel Blut war, daß er wohl diesmal zu spät war. Aber in Wahrheit waren die Verletzungen nie wieder so tief gewesen wie an dem Tag, an dem er Harry gefunden hatte.

Severus beobachtete den Blonden, keine einzige Regung an ihm entging ihm. Er war nicht überrascht, daß er ein wenig nachempfinden konnte, was er empfand. Auch er machte sich schon seit Wochen Gedanken darüber, ob dieser spezielle Teil der Geschichte nun ausgestanden war oder nicht. Harry hatte Schmerz durch Gift ersetzt, aber das Gift hatte Severus ihm nun genommen. Wie regelte er es in Zukunft? Wieder durch Schmerz oder hatte er sich jetzt im Griff?

„Er hatte Arbeit, es hat nicht lange gedauert, bis er was gefunden hat. Aber es war nie etwas dabei, mit dem er glücklich war. Bedienung in Fastfoodketten oder Kellner in Kneipen und kleinen, billigen Restaurants war nicht das, was er vom Leben wollte und ich konnte ihm das gut nachempfinden.

Ich hab zu dem Zeitpunkt nicht verstanden, wo eigentlich das Problem war. Jamie hatte mir von einem Internat erzählt, ich wußte, daß er zumindest einen mittleren Abschluß haben mußte, und trotzdem sollte es nicht möglich sein, einen vernünftigen, nicht unterbezahlten Job zu finden? Wenn man mit Jamie geredet hat, hat man sehr schnell gewußt, daß er kein Dummkopf ist. Irgend etwas war also ziemlich faul, aber ich stieg einfach nicht dahinter was es war.

Erst fast ein Jahr später hat er mir erzählt, was für eine Schule er eigentlich besucht hat. Wir waren beide betrunken, Jamie hatte am Abend seinen aktuellen Job mal wieder verloren und ich hatte beschlossen, daß er Gesellschaft und billigen Whiskey gut gebrauchen konnte. Er hat noch nie so viel geredet, wie an dem Abend.

Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich mich schlagartig nüchtern gefühlt habe, als er mit der Zauberei anfing. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich ihm fast sofort geglaubt habe. Ich habe nie an solche Hirngespinste geglaubt, aber was Jamie erzählte, erschien so klar, so logisch, so möglich. Vollkommen überzeugt hat er mich, als er mir das Foto von seinen Eltern zeigte. Es war praktisch das einzige außer seiner Kleidung, was er besaß, als wir aufeinandertrafen.

Das Bild hat sich bewegt, während mein Kopf plötzlich vollkommen still stand. Ich wußte sofort, daß ich mir die Bewegung nicht nur einbildete. Das Bild würde sich auch noch bewegen, wenn ich am nächsten Tag wieder vollkommen nüchtern war.

Und so war es dann ja auch." Die Anspannung in Severus wurde immer größer. Er wünschte nichts mehr, als daß der junge Mann endlich zum Punkt kam und dieses Vorgeplänkel aufsparte für einen Moment, in dem sie Zeit dafür hatten, aber scheinbar war Adrian wirklich der Meinung, daß er auch ruhig alles erzählen konnte, wenn er denn schon erzählen mußte.

„Danach war vieles klarer, aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich ihm hätte helfen können. Ich nehme an, ihr hättet was für ihn tun können." Severus nickte zögerlich.

„Er hätte nur darum bitten müssen, dann hätte man ihm Zeugnisse ausgestellt, die er auch außerhalb – unserer Welt hätte benutzen können." Adrian hob für einen kurzen Moment die Augenbrauen an, als Severus diese betonte Trennung zwischen den zwei Welten machte, aber an sich war es ja nichts neues mehr. Auch Harry hatte diese klare Trennung immer eingehalten, auch wenn er im Unterschied zu Severus immer von ‚deren Welt' gesprochen hatte, sich nicht als Teil davon gesehen hatte.

Scheinbar waren Severus und Adrian sich aber darin einig, daß Harry es nach wie vor war, auch wenn er es vielleicht nicht mehr gewollt hatte. Adrian hatte es immer so empfunden und erkonnte das selbe Gefühl in Severus' Gesicht ablesen.

„Dachte ich mir.

Hin und wieder hat Jamie mich auf dem Weg zur – Arbeit begleitet. Er hat für einige Monate ganz in der Nähe des Straße gearbeitet, auf der Sie mich heute getroffen haben. Zwei Ecken weiter gibt es eine ganz anständige Kneipe, sehr ungewöhnlich für die Gegend. Aber ich war froh, daß Jamie dort arbeiten konnte. Ich wähnte ihn sicher." Severus wurde hellhörig. Kam jetzt endlich die Stelle, auf die es ankam? Adrian wähnte ihn dort sicher, hatte sich aber getäuscht?

„Wahrscheinlich hätte ich ihn davon abhalten sollen, mich so häufig zu begleiten, aber es war eigentlich nur logisch. Er kam an dieser Straße vorbei, warum also nicht zusammen gehen? Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich wurde noch nicht einmal mißtrauisch, als einer meiner Stammkunden mich auf Jamie ansprach.

Ich sagte ihm, daß er keiner von uns sei und damit war für mich die Sache erledigt." Die Alarmglocken gingen in Severus los, schrill, laut, unerträglich.

„Ich weiß nicht, was er mit ihm gemacht hat, ich habe nie mehr aus Jamie herausbekommen, als daß er es wohl gewesen sein muß. Fast zwei Monate nachdem mich dieser Kunde auf Jamie angesprochen hat, kam ich nach Hause. Die Wohnung war ein Schlachtfeld. Es muß einen Kampf gegeben haben, vielleicht sogar eine Jagd.

Jamie war im Badezimmer. Ich habe noch nie solche Wunden gesehen. Es war einfach..." Adrian brach ab, unfähig weiterzusprechen. Übelkeit stieg in ihm auf, als die Bilder wieder zu ihm zurück kam. Die Unmengen von Blut, der grotesk zugerichtete Körper des anderen. Alle möglichen Wunden waren zu sehen gewesen, nicht nur Schnitte, die sauber mit einer Rasierklinge gesetzt worden waren.

Blutige Faustabdrücke waren an den Wänden zu sehen gewesen und alles, was nur halbwegs scharf gewesen war, war dazu benutzt wurden, Haut zu durchbrechen.

„Er war nicht mehr ansprechbar, als ich ihn fand. Ich habe den Notarzt gerufen. Vorher war es nie nötig. Nicht einmal bei den Verletzungen, die er hatte, als ich ihn aufgegriffen habe. Aber dieses Mal wußte ich instinktiv, daß es nicht ohne Arzt ging.

Wenn ich nur ein bißchen später gekommen wäre, wäre Harry gestorben." Severus fühlte sich leer, wie erstarrt. Er wollte etwas sagen, aber kein Wort schaffte es aus einer Kehle. Er wollte auf der Stelle gehen, wollte die Wut, die sich langsam und sehr heiß in seinem Magen zusammenballte, irgendwie ablassen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht.

Er hatte es befürchtet. Adrian mußte nicht erzählen, was passiert war, damit er sich das sehr genau vorstellen konnte. Er war zu lange Todesser gewesen, um zu wissen, was ein Mensch einem anderen selbst ohne Waffen antun konnte. Harrys Flashback war sehr eindeutig gewesen, aber Adrians Geschichte ließ keinen Zweifel mehr zu und die Endgültigkeit beraubte Severus seiner Sinne.

„Der Arzt hat Stunden mit ihm zugebracht. Ich habe ihn am Morgen gerufen und gegangen ist er erst wieder gegen Mittag. Aber als er weg ist, war Jamie zumindest wieder wach. Ich werde nie vergessen, wie er mich an diesem Tag angesehen hat. Der Jamie, den ich kennengelernt habe, war nie ein fröhlicher Springinsfeld, aber die Augen, die mich ansahen, nachdem der Doktor weg war... Er sah aus, als wäre er schon tot.

Und dann sagte er zu mir: Ich kann mich nicht mehr fühlen, Adrian. Ich hätte mir die Haut vom Fleisch schneiden können, ich hätte es nicht gefühlt." Adrian wandte sich leicht von Severus ab, wischte sich verstohlen über die Augen. Die Erinnerung überwältigte ihn. Bisher hatte er sich nie erlaubt, darüber noch einmal nachzudenken.

Es war passiert, es hatte Konsequenzen für sie beide gehabt, aber trotzdem hatte Adrian es verdrängt, wollte nicht, daß es sich immer wieder in seine Gedanken mogelte.

„Jamie hat nicht mit mir gesprochen, egal, was ich ihn gefragt habe. Das Thema war für ihn tabu. Er hat alles in sich hineingefressen. Ich kann Ihnen deshalb nicht sagen, ob der Kerl ihn letztlich wirklich vergewaltigt hat oder ob er sich durch – Zauberei vielleicht retten konnte." Severus hörte die Hoffnung aus den letzten Worten heraus und er wußte, daß Adrian die Antwort dazu von ihm haben wollte. Das riß ihn aus seiner Starre, die ihn noch immer umklammert hielt.

Ein bitteres Halblächeln legte sich auf seine Lippen, als er Adrian schließlich direkt ansah und den Kopf schüttelte.

„Wenn Harry seinen Zauberstab in den letzten vier Jahren benutzt hätte, hätte das Ministerium das registriert und man hätte schon viel früher gewußt, daß er noch am Leben ist. Harry wußte das, er hatte als Schüler öfter Probleme mit den Zauberbeschränkungen für minderjährige Zauberer. Er hat ihn garantiert nicht benutzt." Adrians Züge entgleisten als diese letzte kleine Hoffnung, die er sich all die Jahre als letzte Zuflucht aufgehoben hatte, von Severus zerschlagen wurde.

„Die Wunden entzündeten sich teilweise. Harry mußte wahnsinnige Schmerzen gehabt haben, auch wenn er nie etwas davon gesagt hat, wenn er mal kurz bei sich war. Die meiste Zeit lag er im Delirium. Der Arzt war es letztendlich, der ihn wohl auf den Geschmack von Drogen gebracht hat. Er hat starke Beruhigungsmittel verschrieben. Morphium, in nicht gerade kleinen Dosen", redete Adrian fast augenblicklich weiter, um der Hoffnungslosigkeit noch für ein paar Augenblicke zu entkommen. Das neue Wissen konnte später über ihn herfallen, wenn er wieder alleine war und sich in Ruhe Vorwürfe machen konnte.

„Es hat sehr lange gedauert, bis Harry wieder auf die Beine kam. Und als er dieses schwere Fieber hatte und im Delirium vor sich hingebrabbelt hat, ist auch Ihr Name zum ersten Mal gefallen. Anfangs kam es mir nicht komisch vor, Leute mit schwerem Fieber reden viel. Aber bei ihm war es der einzige Name, die ganze Zeit über. Er hat nach niemand anderem gerufen.

Man fühlt sich dabei ganz schön hilflos, das kann ich Ihnen sagen." Das brauchte er ihm nicht zu sagen, das wußte Severus auch so. Bilder von gefolterten Hexen und Zauberern liefen vor seinem inneren Auge ab. Halbtote Menschen, die schon längst mit ihrem Verstand in den Fieberwahn abgetaucht waren und wirres Zeug redeten, willkürlich Namen ausriefen.

Eine Gänsehaut zog über Severus' rücken und er straffte sich energisch. Falsche Zeit, falsche Erinnerung. Keine Zeit dafür.

„Danach ging es dann nur noch bergab. Jamie konnte nicht aus dem Haus, es sei denn, er war mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Und als der Arzt ihm schließlich nichts mehr verschrieben hat, ist er umgestiegen.

Das ging ziemlich fließend ineinander über und noch bevor ich überhaupt kapiert hatte, was passierte, war Jamie mir schon aus den Fingern geglitten. Obwohl ich alles versucht habe, habe ich es danach nicht mehr geschafft, noch einmal wirklich zu seiner vernünftigen Seite durchzukommen.

Er hat im Prinzip von da an eine ziemlich typische Fixerkarriere durchlaufen. Sein Chef war nicht dumm und hat schnell gemerkt, was los war. Er hat später noch einmal mit mir darüber gesprochen, hat nach Jamie gefragt. Ich glaube, er wollte ihn an sich gar nicht auf die Straße setzen, aber ein Angestellter wie Jamie, der nie wirklich klar war, war für ihn unhaltbar und ich habe das verstanden." Severus nickte. Er wußte nicht, was er sich unter einer ‚typischen Fixerkarriere' vorzustellen hatte, aber es erschien ihm durchaus logisch, daß der Verlust eines jeden normalen Jobs ab einem gewissen Stadium nur natürlich war.

Und da er Harry kannte, hatte er keine Schwierigkeiten dabei, sich vorzustellen, daß Harry ein solches Extrem gewesen war.

„Ist Harry auf den Strich gegangen, Adrian?" Severus wußte nicht, warum er diese Frage stellte. Sie erschien mit einem Mal so überflüssig, so deutlich beantwortet. Aber dennoch wollte er es hören. Er wollte hören, wie Adrian es sagte.

Der Blonde blickte ihn ernst an, in den blauen Augen standen Trauer und eine wilde Mixtur aus so vielen verschiedenen Gefühlen, daß Severus sie kaum alle herausfiltern konnte. Äußerlich ruhig, tobte in Adrian wohl der gleiche Sturm wie auch in ihm selbst.

„Was denken Sie?" erwiderte Adrian müde. Er konnte es nicht sagen, wollte es nicht, würde es nicht sagen. Severus kannte die Antwort jetzt auch so. Dummer, kindischer Trotz, aber damit konnte er leben.

„Ich würde jetzt lieber gar nicht mehr denken", murmelte Severus kaum hörbar, doch er wußte, daß Adrian ihn sehr gut verstanden hatte.

Immer noch ein wenig benommen und schwindelig von dem Sturm, der in ihm tobte, stand Severus schließlich auf. Hier gab es für ihn nichts mehr. Er mußte weg, eine Weile nachdenken. Nein, lange nachdenken. Am besten eine Ewigkeit.

Adrian stand ebenfalls auf. Einen Moment standen die beiden sich unschlüssig gegenüber. Dann hob Severus den Blick und sah Adrian an.

„Danke, Adrian. Sie haben mir sehr geholfen." Adrian nickte und Severus erwiderte dieses Nicken knapp, bevor er sich umdrehte und die Wohnung des Blonden verließ.

:----:

Severus war sich nicht sicher, was er erhofft oder erwartet hatte. Er war sich ja nicht einmal bewußt gewesen, daß er etwas gehofft hatte. Aber dieses Gefühl in ihm, dieses Brennen einer erschlagenen Hoffnung, das deutete wohl unweigerlich darauf hin.

Er apparierte in Hogsmeade und setzte ohne Umschweife seinen Weg hinauf zum Schloß fort, obwohl er das dringende Bedürfnis fühlte, selbst Bekanntschaft mit einer nicht zu verachtenden Menge billigen Whiskeys zu schließen, bevor er ins Schloß zurück ging. Gewißheit war wie ein zweischneidiges Schwert. Hatte man sie nicht, dann wollte man sie um jeden Preis, die Unwissenheit war unerträglich.

Hatte man sie dann jedoch, wünschte man sich manchmal, man wäre nie so weit gekommen.

Severus war alles, außer naiv und hatte so im Grunde schon die ganze Zeit gewußt, was passiert sein mußte. Adrians Geschichte war nicht mehr gewesen als eine bloße Bestätigung. Aber es war doch immer ein sehr großer Unterschied zwischen wirklich wissen oder etwas im Inneren zu wissen, es aber noch nicht bewiesen zu haben.

Ganz automatisch trugen Severus seine Schritte durch das Eichenportal, hinter dem bereits Ruhe eingekehrt war. Er war sehr lange bei Adrian gewesen und die meisten Bewohner des Schlosses schliefen bereits, bemerkten nichts von dem Zaubertrankmeister, der an diesem Abend sogar noch blasser aussah als sonst und neben seiner typischen Kälte auch noch einen Hauch von Gehetztheit im Blick hatte.

Und ebenso automatisch ging er an den Treppen zum Kerker vorbei, steuerte höhere Gefilde an. Hinterher konnte er sich bewußt an nicht einen einzigen Schritt mehr erinnern, bis er sich auf der Plattform des Turmes wiederfand. Es endete wohl wirklich immer alles hier. Aber hier war der ideale Ort, um nachzudenken. Außer ihm kam nie jemand hierher. Na ja, abgesehen von Harry.

Der lag jetzt allerdings mit Sicherheit ebenfalls in seinem Bett – seinem eigenen und nicht in Severus' – und machte sich vielleicht noch nicht einmal Gedanken, wo der Ältere überhaupt blieb, weil er zu sehr damit beschäftigt war, alte Dämonen zu bekämpfen, die jetzt, wo er keine Möglichkeit mehr hatte, ihnen zu entfliehen, immer mehr auf ihn eindrangen.

Mit einem Seufzen setzte Severus sich auf die Berüstung und zog die Beine ein wenig an seinen Körper. Wo sollte man da nur anfangen, wo weitermachen und wo aufhören? Es war alles so wirr, so furchtbar kompliziert und er hatte diesmal wirklich das Gefühl, daß es mehr war, als er schaffen konnte.

Vielleicht doch der Psychologe. Der Direktor hatte versprochen, sich gleich nach einem umzusehen, sicher war er längst fündig geworden. Irgendwie würde er es schon schaffen, Harry zur Zusammenarbeit zu überreden.

Severus schnaubte. Und die Erde war eine Scheibe, um die sich die Sonne drehte.

:----:

Severus hatte das Gefühl für Zeit längst verloren, aber er war sich sicher, daß er schon seit Stunden auf dieser Berüstung saß und in die unverschämt klare, wunderschöne Nacht blickte. Die Kälte war längst in jeden Winkel seiner Kleidung gedrungen, kein Winterumhang der Welt hätte das auf Dauer verhindern können.

Doch noch immer dachte er nicht daran, aufzustehen und endlich in die Kerker zu gehen. Noch immer war er zu keinem Schluß gekommen und das nagte an ihm, fast so sehr wie die Erkenntnisse dieses Tages.

Er registrierte die zufallende Tür zum Treppenhaus kaum, fühlte nur schwach, wie sich ihm jemand näherte.

„Ich finde dich immer hier, wenn ich nicht weiß, wo du bist oder?" Harrys Stimme war leise, aber warm. Sie ließ Severus aufblicken, denn diesen Ton hatte er in der letzten Zeit so selten gehört, daß er ihn fast schon nicht mehr erkannte.

„Ich mußte nachdenken." Harry lächelte, der silbrig schimmernde Stoff seines Tarnumhangs glitt mit einem leisen Rascheln über seine Schultern.

„Wann tust du auch schon einmal etwas Anderes?" Severus erwiderte den Blick des Jüngeren kurz, sah die neuerliche Veränderung, konnte sie aber noch nicht zuordnen. Noch immer fühlte er sich viel zu taub, um überhaupt etwas zu fühlen.

„Verrätst du mir, was dich grübeln läßt?" fragte Harry vorsichtig. Er versuchte, Severus' Blick aufzufangen, aber es wollte ihm heute einfach nicht gelingen. Der andere wich ihm aus.

„Ich habe mich gefragt, was geschehen ist. Warum ich dich nicht mehr verstehe, warum du dich so vor mir verschließt", log Severus, weil ihm in diesem Moment nichts Besseres einfiel, er Harry aber auch nicht vor den Kopf stoßen wollte, wo er sich seit einer halben Ewigkeit mal wieder interessiert und offen zeigte. Zumindest war es Severus wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Eine unerträgliche Zeitspanne, auf die er gut hätte verzichten können.

Harry blickte augenblicklich unter sich. Im Grunde hatte er damit gerechnet. Er hatte schon zu lange und zu auffällig gegrübelt, ausgeschlossen, abgewiesen, als daß es nicht zur Thematik werden konnte. Er hatte sich schließlich sogar die richtigen Worte zurecht gelegt, um es Severus zu erklären. Das Problem war nur, daß ihm jetzt kein einziges mehr davon einfiel.

„Es tut mir leid", sagte er deshalb nur kleinlaut und zum ersten Mal trafen ihre Blicke sich.

„Du wirst einen Grund gehabt haben", lenkte Severus ein, ohne zu wissen, warum er das tat. War das nicht Diplomatie? Und war Diplomatie nicht eigentlich nichts für ihn?

„Kann schon sein. Aber ich war wohl unfair. Ich hätte das nicht tun sollen. Ich bin manchmal einfach ein egoistisches Arschloch.

Ich mußte etwas entscheiden und das hat mich sehr viel Zeit gekostet. Ich konnte nicht mit dir drüber reden, obwohl ich es wirklich wollte, bitte glaub mir das." Einen Moment senkte sich Schweigen über sie beide. Severus fing Harrys flehenden Blick auf, fragte sich, wann Harry verstand, daß solche Dinge kein Grund für ihn sein würden, ihn jemals allein mit sich und seinen Problemen zu lassen.

Aber er wußte ja, daß er solches Verstehen von Harry noch nicht verlangen konnte. Es war noch zu früh, da war noch zu viel, was Harry verarbeiten mußte.

„Hast du deine Entscheidung getroffen?" Harry nickte.

„Dann ist gut. – Komm, laß uns schlafen gehen. Es ist viel zu kalt hier oben. Man friert sich ja alles ab." Harry nickte lächelnd und griff nach seinem Tarnumhang, um Severus in die Kerker zu begleiten.

Schlafen war eine gute Idee, hatte er schon lange nicht mehr richtig machen können. Wurde Zeit, daß er das endlich nachholte.

:----:

Severus fühlte sich seltsam leicht, als er am Ende des letzten Schultag des Jahres zurück in seine Räume kam und sich mit einem erleichterten Seufzen auf die Couch setzte. Harry blickte auf, lächelte ein wenig verschmitzt und rückte näher an Severus heran.

„So froh, daß sie weg sind?" Severus, der beide Augen geschlossen hatte, öffnete eines ein wenig und legte den Arm um Harry. Er wußte, daß diese Geste besitzergreifend wirkte, aber das sollte sie an sich auch. Die Wandlung von Eis zu Wärme war genauso plötzlich gekommen, wie zuvor die Zurückweisung und hatte das Gefühl in ihm nur noch verstärkt, das ihm sagte, daß er diesmal festhalten mußte.

„Ich wünschte, sie wären alle weg. Aber wenigstens sind keine Slytherins mehr im Schloß, auf die ich aufpassen müßte." Das Lächeln auf Harrys Gesicht wurde ein wenig breiter. Dann würde er Severus also für die kommenden Wochen für sich alleine haben. Die Aussicht gefiel ihm. – Wenn sich auch immer noch ein klein wenig Angst mit in die Vorfreude mischte.

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„Fröhliche Weihnachten, Severus!" begrüßte Dumbledore ihn fröhlich, als er am Heiligabend in die Große Halle kam. Gerne hätte er dieses Essen ausgelassen, aber so lange er in Hogwarts war, wurde von ihm erwartet, daß er an einigen gemeinsamen Essen teilnahm. Heiligabend und Weihnachten gehörten dazu. – Allerdings hoffte er darauf, in diesem Jahr dem Weihnachtsessen entkommen zu können.

Dieser Gedanke allein hielt ihn davon ab, die Augen genervt zu verdrehen und Dumbledore böse anzufunkeln. Diese furchtbare Fröhlichkeit war fast noch abstoßender, als Dumbledores wie immer unübertroffen geschmackloser Aufzug zu solchen Feierlichkeiten. Dieses Jahr trug er eine leuchtend grüne Robe, die mit gelben Sternen, roten Kugeln und winzigen, weißen Schneeflocken verziert war.

Normalerweise hätte Severus von so etwas Kopfschmerzen bekommen. Aber heute war sein Kopf zu beschäftigt, sich die richtigen Worte zurecht zu legen, da blieb keine Zeit, Schmerzen zu entwickeln.

„Guten Abend, Direktor", gab Severus die Begrüßung zurück, wobei er wie immer in Anwesenheit anderer darauf achtete, die vertraute Basis, die sie hatten, nicht durchblicken zu lassen. Die wenigen zurückgebliebenen Gryffindors, Hufflepuffs und Ravenclaws waren auch so schon verschreckt genug, wie er mit Genugtuung feststellte.

„Setz dich, wir können sofort anfangen."

Das Essen war wie immer kaum zu übertreffen. Die Hauselfen von Hogwarts servierten nie etwas schlechtes, aber an den Festtagen liefen sie sich dennoch jedesmal selbst wieder den Rang ab. In gewisser Weise waren sie faszinierende Kreaturen, auch wenn es eine Menge Zauberer gab, die sie mit wenig Respekt und sehr herablassend behandelten. Sie waren Geschöpfe, die sich vollkommen ihrer Aufgabe verschrieben, mit einer Hingabe arbeiteten, die der Severus' sehr nahe kam. – Und dafür ernteten sie Severus' Respekt, wenn er es auch nie zeigen würde.

Einen Moment stockte seine Gabel auf ihrem Weg von seinem Teller hin zu seinem Mund, als ihm klar wurde, daß er über Hauselfen philosophierte, statt das zu tun, was er sich vorgenommen hatte. Nicht nur Harry war gut darin, einfach davonzulaufen, wenn es ihm zu viel wurde. Schreckliche Angewohnheit.

Severus nutzte die Zeit, die er brauchte, seinen Bissen zu kauen und zu schlucken, um ein wenig Ruhe in sich zu bringen, bevor er sich zu Dumbledore auf dem Nachbarplatz wandte und sich ihm leicht entgegenbeugte.

„Ich würde gerne etwas mit dir besprechen", flüsterte er ihm zu. Dumbledore nickte lächelnd.

„Jetzt gleich oder hat das auch noch bis nach dem Essen Zeit?"

„Ich möchte Hogwarts über die Ferien verlassen", fiel Severus mit der Tür ins Haus, bevor er die Option ‚nach dem Essen' wählen konnte. Wie er sich kannte, hatte er bis dahin irgendeine Ausrede gefunden, irgendein belangloses Thema und würde dann doch nicht auf den Punkt kommen. – Severus haßte es, erklären zu müssen und er wußte, daß er erklären mußte, warum er zum ersten Mal seit er hier Lehrer war, das Schloß über den Jahreswechsel verlassen wollte.

„Ein kleiner Urlaub, Severus?" fragte Dumbledore mit einem Lächeln, das Severus merkwürdig zufrieden erschien. Konnte es sein? Keine Fragen, keine Erklärungen. Das war ja wohl zu schön um wahr zu sein.

„Ja, ich denke, es ist nötig. – Wenn nichts mehr dazwischen kommt." Wenn Harry nicht nein sagte. Dumbledore nickte.

„Ich nehme an, du brichst gleich morgen früh auf."

„Das hatte ich geplant."

„Gut," die blauen Augen leuchteten auf und Severus witterte mit einem Mal Gefahr. „Dann hast du ja noch genug Zeit, morgen früh zu mir zu kommen und dir dein Geschenk zu holen." Severus stöhnte leise auf.

„Albus, bitte keine Wollsocken, Schals, Handschuhe oder sonstige Strickware mehr. Ich hab mehr als genug von diesem unnützen Zeug herumliegen."

„Wenn du es benutzen würdest, wäre es nicht unnütz. Diese Dinge haben eine Funktion, weißt du." Dumbledore hatte sichtlich Spaß an dieser Diskussion und Severus wußte das. Aber nicht einmal ein Imperiuszauber konnte ihn dazu bringen, etwas von diesen Sachen anzuziehen.

„Ich würde darüber nachdenken, wenn du nicht immer diese irrwitzigen Farben wählen würdest."

:----:

Als Harry am Weihnachtsmorgen aufwachte, mußte er nicht einmal auf eine Uhr schauen, um zu wissen, daß es eigentlich noch mitten in der Nacht war. Irgend etwas hatte ihn geweckt. Eine innere Aufregung, die schon am vergangenen Abend angefangen hatte, und die sich nun von Stunde zu Stunde, vielleicht sogar auch von Minute zu Minute steigerte.

Weihnachten. Das erste Weihnachten mit Severus, der noch friedlich neben ihm schlief.

Er war Severus unendlich dankbar dafür gewesen, daß er sich am vergangenen Abend nichts hatte anmerken lassen, falls er befürchtet hatte, Weihnachten könnte auch dieses Jahr eine unangenehme Überraschung für ihn bereithalten. Und daß er jetzt so ruhig schlief, konnte doch nur heißen, daß er nicht mehr fürchtete, allein aufzuwachen. Vertraute Severus ihm? Fühlte es sich deshalb so gut an?

Harry hätte noch stundenlang neben Severus liegenbleiben können, um ihn einfach nur anzusehen, und sich dabei solche und ähnliche Fragen zu stellen, aber er hatte noch etwas zu erledigen. Und vielleicht blieb ihm noch genug Zeit, es zu schaffen, bevor Severus aufwachte.

:----:

Als Severus erwachte, war er allein in seinem Bett. Im ersten Moment war diese Erkenntnis wie eine große Faust, die ihm in den Magen schlug. Doch schon im nächsten Moment hörte er Harrys Stimme aus dem Nebenzimmer und augenblicklich wurde alles in ihm ruhig.

Durch das Adrenalin, das bei diesem Schreck in großen Mengen in sein Blut gepumpt worden war, war er schlagartig hellwach gewesen. Daran, sich einfach noch einmal umzudrehen und ein wenig weiter zu dösen, wie er es eigentlich für diesen Morgen geplant hatte, war nun nicht mehr zu denken. Ein wenig enttäuscht war er schon, wenn er auch nicht wußte, woher seine Vorstellung von einem langen Morgen im Bett zusammen mit Harry gekommen war.

Ein langer Morgen, an dem sie sich entweder unterhielten oder auch einmal eine Weile gar nichts sagten, einfach schwiegen. Mit Harry konnte man auch mal schweigen, ohne sich dabei irgendwie merkwürdig vorzukommen oder unruhig zu werden. Severus wußte, wie selten dieses Geschenk war.

Aber gut, es war Weihnachten, vielleicht nicht wirklich der richtige Tag, um etwas entspannt anzugehen. Auch wenn das Bild von einem furchtbar aufgeregten Harry Potter, der voll freudiger Erwartung seine Geschenke erwartete für ihn eine wahre Horrorvorstellung war.

Mit einem leisen Seufzen stand Severus auf und warf sich seinen Morgenmantel über. An Weihnachten machte man sich nicht erst großartig Mühe mit Anziehen, wenn er sich recht erinnerte.

Im Gegensatz zu seinem Horrorszenario wenige Augenblicke zuvor, saß Harry vollkommen ruhig auf der Couch, ein Buch in der Hand und Hedwig an seiner Seite, mit der er auch so angeregt plauderte. Die Eule wiederum erweckte den Eindruck, als würde sie jedes Wort, das ihr Herr sprach, mit absoluter Aufmerksamkeit aufnehmen und seine Aussagen für sich erörtern.

Severus lächelte kurz.

„Guten Morgen, Harry", begrüßte er den Jüngeren und täuschte ein erstaunlich echtes Gähnen vor, um Harry nicht einmal ahnen zu lassen, was für einen Blitzstart er schon hinter sich hatte. Harry blickte auf und seine grünen Augen leuchteten als wollten sie mit der verfluchten Weihnachtsdekoration, die diese furchtbaren Hauselfen über Nacht aufgebaut hatten, konkurrieren.

„Guten Morgen! Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt. Hedwig war ein wenig unruhig, sonst hätte ich nicht so einen Lärm gemacht. – Dobby hat vorhin Frühstück gebracht. Schön, daß wir zusammen frühstücken können, ich hatte befürchtet, du müßtest wieder in die Halle." Severus konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht war es nicht das absolute Horrorszenario, das er von Harry gehabt hatte, aber so normal wie er eben noch erschienen war, war dann doch nicht. Jedenfalls neigte er sonst nicht zum Plappern.

Ganz automatisch wanderte Severus' Blick wieder in die Ecke am Kamin. Und richtig, da waren sie wieder. Die gleichen Geschenke wie in den letzten vier Jahren, fein säuberlich aufgestapelt. Dieses Jahr würde sie endlich jemand öffnen.

Severus deutete vage mit dem Kopf in Richtung des Stapels.

„Du hättest sie ruhig schon aufmachen können, Harry." Ein wenig verwirrt folgte Harry dem Blick zu dem Geschenkstapel und seine Augen wurden groß.

„Ich dachte, das wären deine", flüsterte er erstaunt. Das gab Severus den Rest. Er lachte. Harry guckte ihn mehr als verdattert an, doch das Lachen gefiel ihm ausgesprochen gut. Dunkel und weich war es und fühlte sich an wie ein weiteres Weihnachtsgeschenk, ein sehr seltenes noch dazu.

„Ich bekomme keine Geschenke zu Weihnachten, Harry. Diese dort sind alle für dich. Allerdings liegen sie jetzt auch schon das fünfte Jahr in dieser Ecke, ganz frisch sind sie also nicht mehr." Und da begriff Harry endlich. Seine Geschenke, die von damals, die er nie bekommen hatte, weil er nicht zurück gekehrt war. Er hatte nicht wirklich erwartet, daß er sie noch bekommen würde. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Das Gefühl war so seltsam. So unwirklich. Langsam ging er auf den Stapel zu, stockte, schüttelte den Kopf und drehte sich wieder um.

„Nein, erst frühstücken", entschied er mit zitternder Stimme. Severus quittierte die Entscheidung mit einem Nicken und folgte Harry, der resolut in Richtung Tisch ging. Er konnte sich sogar ein wenig vorstellen, was in Harry vorging und warum er erst ein wenig Zeit wollte, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, gleich eine ganze Menge Vergangenheit in den Händen zu halten.

Die ersten Minuten dieses Weihnachtsfrühstücks verliefen schweigend. Harry bemühte sich, ein wenig mehr zu essen als am Tag zuvor. Ein Prozedere, das er in den letzten Tagen immer aufrecht erhalten hatte, seit sein Magen nicht mehr bei jedem Bissen fester Nahrung rebellierte, und das Severus mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen hatte. Es wurde Zeit, daß Harrys Magen sich wieder daran gewöhnte, auch in Streßsituationen nicht sofort den Dienst zu quittieren.

„Was ist für heute noch geplant?" fragte Harry plötzlich und riß Severus aus seinem Zustand des fast nicht Denkens, in den er gerade fast gemütlich abgeglitten war.

„Die üblichen Feierlichkeiten. Mittagessen, Teestunde, du kennst das ja alles noch." Harry nickte, sein Blick war bei dieser Aussicht ein ganzes Stück trauriger geworden.

„Aber wenn du einverstanden bist, werden wir noch vor dem Mittagessen in unsere Ferien aufbrechen." Überrascht blickte Harry auf, verstand nicht so recht, was Severus ihm damit sagen wollte.

„Wie meinst du das?"

„Ich habe Dumbledore gebeten, über die Ferien das Schloß verlassen zu dürfen. Wenn du also möchtest, können wir die nächste Zeit in meinem Haus in Wales verbringen. Es sind keine Slytherins hier, Poppy braucht nichts für die Krankenstation und ich dachte mir, du würdest vielleicht gerne mal wieder ein wenig frische Luft schnappen." Harry schnappte nach Luft, und wie. Er hatte mit vielem gerechnet, aber das hier... Das war so unbeschreiblich aufmerksam, so... Harry scheute sich, im Zusammenhang mit Severus Snape das Wort lieb zu benutzen, aber ein besseres fiel ihm auch nicht ein.

„Wow..." war alles, was er schließlich rausbrachte. Seine Sprachlosigkeit tat ihm leid, gerne hätte er Severus etwas anderes geantwortet, aber er war noch zu überwältigt dafür.

„Wow, ja oder wow, nein?" fragte Severus deshalb sofort nach, die Unsicherheit über Harrys Antwort war ihm anzusehen. Zwar glaubte er, daß es Freude war, was da unter all der Überraschung und Fassungslosigkeit hervorblitzte, aber sicher war er sich bei weitem nicht.

Harry räusperte sich, fühlte sich ein wenig verzweifelt, weil ihm noch immer die Stimme wegblieb und nickte schließlich einfach. Severus atmete erleichtert auf. Wieder vergingen einige Minuten schweigend, bis Harry schließlich seine Stimme wiederfand.

„Ist das der alte Familiensitz, von dem du mir einmal erzählt hast?" Severus warf ihm über den Rand der Kaffeetasse hinweg einen kurzen Blick zu, trank einen Schluck, schüttelte den Kopf.

„Nein. Dort bin ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gewesen. Es ist nur ein sehr kleines Haus in Wales, ich habe es gekauft, kurz nachdem ich hier als Lehrer anfing. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, ich hab bisher nur sehr wenig Zeit dort verbracht, selbst in den Sommerferien bin ich nicht selten hier geblieben... Es war wohl eine Art Hoffnung, die ich mir selbst geben wollte. Eines Tages würde das alles vorbei sein, ich würde Hogwarts verlassen und dann würde da etwas sein, das mir gehörte, etwas, zu dem ich zurückkehren konnte.

Obwohl ich nie damit gerechnet habe, daß es für mich eine Zeit nach Hogwarts geben würde. Manchmal glaube ich es heute noch nicht, obwohl ich inzwischen jeden Tag einfach gehen könnte. – Aber im Gegensatz zu unserem Familienbesitz ist dieses Haus garantiert in einem guten Zustand." Harry lächelte über die Spur von Stolz, die er in der Stimme des anderen hören konnte. Es erschien ihm nur logisch, daß es nicht das besagte Anwesen war, wenn er sich daran erinnerte, was Severus ihm erzählt hatte. Und auch den Stolz konnte er gut verstehen.

Vielleicht würde er ja eines Tages auch so weit sein, daß er sich was erarbeitet hatte und stolz darauf war.

Schweigend beendeten sie das Frühstück, ein beiderseitiges Eingeständnis, die Stille zu genießen. Severus war schließlich derjenige, der seinen Teller von sich schob und von seinem Stuhl aufstand.

„Komm Harry, du solltest diese Geschenke jetzt endlich auspacken. Sie warten schon so lange auf dich." Harry lächelte leicht gequält, noch immer nicht sicher, ob er das wirklich tun sollte, geschweige den wollte. Aber andererseits paßte es zum heutigen Tag. Die Vergangenheit griff nach ihm und er griff nach ihr. Warum nicht?

Er holte tief Luft und stand dann schließlich auf. Seine Beine fühlten sich merkwürdig weich an und sein Herz schlug schon wieder schneller. Waren es früher wirklich immer so viele Geschenke gewesen? Jedes Jahr? Wie schnell man das doch alles wieder vergessen konnte.

Severus hatte sich bereits auf den Teppich neben die Geschenke gesetzt und blickte Harry auffordernd an, bis er sich schließlich neben ihn setzte und zögerlich nach dem ersten Päckchen griff.

Es war groß und weich und er ahnte, welches Päckchen es war. Mit zitternden Finger öffnete er das bunte Papier und hielt wenig später einen der berühmten Weasleypullover in der Hand. Du Luft wurde ihm knapp, als sich sein Hals zusammenzog. Der leuchtendrote Pullover mit dem goldenen H – ganz ähnlich dem, den er in der ersten Klasse bekommen hatte – wog bleischwer in seiner Hand. In ihn eingewickelt fand Harry eine Tüte mit selbstgebackenen Plätzchen von Molly. Obwohl jetzt schon vier Jahre alt, stellte er fest, daß sie noch immer genießbar waren. Molly war umsichtig genug gewesen, sie mit einem Frischhaltezauber zu belegen.

Harrys Augen begannen zu brennen, aber er hielt die Tränen zurück.

Das nächste Geschenk war recht schwer und in einem Karton verpackt. Harry konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie sich Severus' Augenbrauen ein wenig mürrisch zusammen zogen, als Harry die Schachtel öffnete und ein ganzes Sortiment an Scherzartikeln aus Fred und Georges Laden zum Vorschein kam. Vor vier Jahren gerade der letzte Schrei, die neuesten Erfindungen. Harry lachte.

„Du erkennst da wohl einiges wieder", neckte er Severus, der noch immer finster auf den Inhalt des Kartons starrte.

„Allerdings. Die Weasleys sorgen sogar noch Jahre nach ihrem legendären Abgang immer wieder für Chaos und Zerstörung in diesem Schloß."

„Keine Sorge, ich werde sie nicht benutzen." Severus lächelte, erleichtert, daß Harry es scheinbar leichter nahm, als er nach seinem Blick auf den furchtbaren, roten Pullover gedacht hatte. Er hatte ausgesehen, als würde er im nächsten Moment zu weinen anfangen.

Sorgfältig schloß Harry den Karton und stellte ihn neben dem Pullover ab.

Beim nächsten Geschenk wußte er wieder sofort, was er in der Hand hielt und von wem es war. Nur Hermine schenkte ihm Bücher. Der Schmerz, der sich in seinem Magen ausbreitete, während er das Papier um das Buch entfernte, war heiß, verbrannte ihn beinahe. Er biß sich auf die Lippen, als er es schließlich in der Hand hielt und den Titel las.

„Sie wußte es", flüsterte er atemlos. Ohne auf eine Antwort zu warten, reichte er das Buch an Severus weiter. Arbeiten und Leben unter Muggeln. Severus widerstand dem Drang, das Buch einfach in das nahe gelegene Kaminfeuer zu werfen, sondern legte es einfach zu den andren ausgepackten Geschenken. Er hatte nicht gewußt, daß Harry schon vor seinem Verschwinden so fest damit gerechnet hatte, nicht als Zauberer zu leben, daß selbst Hermine Granger es bemerkt hatte, wo sie doch laut Harrys Aussage zu jener Zeit alles andere als gut beisammen gewesen war. – Und er wußte von Dumbledore, daß es eigentlich auch heute noch der Fall war, wie recht Harry damit hatte, wenn er sagte, daß es die alte Hermine nicht mehr gab.

„Er ist verrückt!" rief Harry aus und riß Severus damit aus seinen Gedanken zurück. Das nächste Geschenk – offensichtlich von Ron Weasley – war ein Gutschein über den Besuch eines Spiel der Canons, einer Quidditchmannschaft, deren Fan der junge Weasley schon seit langer Zeit war, wie fast jeder in Hogwarts wußte, durch seine vehementen Plädoyers in der Großen Halle während der Mahlzeiten.

„Was ist daran verrückt?" fragte Severus ein wenig verwundert. Es war doch nichts weiter als der Besuch eines Quidditchspiels. Nichts womit er seine Zeit verbringen würde, aber wenn Ron und Harry sich für so etwas begeistern konnten, sah er da nichts Verrücktes dran.

„Ich weiß nicht, wie er das bezahlen wollte. Zwei Karten, das hätte mehr gekostet, als er im ganzen Jahr an Taschengeld bekommen hat. – Ich war so undankbar. Ich habe gedacht, die beiden hätten sich nicht mehr für mich interessiert, dabei hat Hermine doch noch immer alles mitbekommen und Ron war sogar bereit, mir ein für ihn so wertvolles Geschenk zu machen, obwohl ich dachte, er sei wütend auf mich.

Oh mein Gott, Severus, was bin ich für ein undankbarer Arsch."

„Harry. Du konntest das nicht wissen." Harry schüttelte den Kopf.

„Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte nicht an ihnen zweifeln dürfen. Sie waren doch immer da, haben sich immer um mich gesorgt. Wir haben die unmöglichsten Sachen zusammen gemacht. Hermine war sogar bereit, ihre geliebten Regeln über Bord zu werfen, wenn wir sie darum gebeten haben.

Wie konnte ich nur glauben, daß so eine Sache das alles auslöschen kann?! Ich bin so ein Idiot." Harry ließ die Karten fallen und sprang im nächsten Moment vollkommen unvermittelt auf die Füße. Noch bevor Severus reagieren konnte, war er an ihm vorbei gelaufen, raufte sich verzweifelt die Haare.

Erschrocken, aber auch ein wenig fasziniert beobachtete Severus ihn. Er wußte nicht, was als nächstes passierte, nur daß etwas passieren würde und daß er sich der Faszination nicht entziehen konnte.

Und dann passierte etwas. Im vollen Lauf schnellte Harrys linke Faust nach vorne und donnerte mit voller Wucht gegen die Kerkerwand, auf die er zugesteuert hatte.

„Harry!" Severus reagierte blitzschnell, verfluchte sich dafür, daß er nicht gleich aufgesprungen war, statt Harry zu beobachten wie einen Versuchshamster im Futterlabyrinth. Bevor Harry zu einem erneuten Schlag ansetzen konnte, war Severus an seiner Seite, packte seine Arme und schüttelte ihn.

„Harry, hör sofort auf!" Harry sträubte sich, kämpfte gegen seinen Griff an. Severus' Hände schlossen sich fester.

„Verdammt! Ich hab gesagt, du hörst sofort damit auf!" Es war, als würde Harry in diesem Moment schlagartig wieder klar werden. Er schüttelte leicht den Kopf, blickte auf, sah in Severus' Augen, die so wütend und kalt waren. Und er spürte den Schmerz in seiner Hand, der sich langsam auf seinen ganzen Arm ausbreitete. Fassungslos starrte er auf die Fingerknöchel, die Haut darüber aufgerissen und ein wenig blutig. – Es fing schon wieder an. Das konnte doch nicht sein.

Kraftlos sackte er in Severus Händen zusammen, der daraufhin erleichtert aufatmete, auch wenn er nicht wußte, was ihm Grund zur Erleichterung gab.

„Hör auf, dir deswegen Vorwürfe zu machen, hörst du? Ihr hattet Probleme zu der Zeit. Es war ganz normal, daß du an den beiden gezweifelt hast. In schwierigen Zeiten passiert das schon mal. Es war ein Fehler, aber es macht keinen Sinn, daß du deswegen jetzt durchdrehst." Harry ließ den Kopf hängen, sagte aber nichts. Nichts was er jetzt hätte sagen können, wäre auch nur im geringsten positiv gewesen.

„Und jetzt setz dich wieder hin. Ich gucke mir deine Hand an und dann machst du die letzten beiden Geschenke auf. Einverstanden?" Harry nickte. Er fühlte sich taub bis auf das Brennen und Pochen in seiner Hand. Versagt. Schon wieder.

Harry hatte ihn schon wieder überrascht und geschockt. Das durfte einfach nicht sein und trotzdem passierte es immer wieder. Er gab einen erbärmlichen Seelenretter ab, so viel stand fest. Willenlos ließ Harry sich von ihm zu den Geschenken zurück bugsieren, setzte sich wieder auf den Teppich. Der Hand sah schlimm aus. Blutig und schon leicht geschwollen, aber es war nichts, was Severus nicht auch ohne Poppy in den Griff bekommen würde, da war er sich sicher.

Der heilende Zauber war nicht mehr als ein Kribbeln unter seiner Haut. Harry hatte längst vergessen, wie schnell Magie wunden heilen und Schmerz vergessen lassen konnte. Sie machte es viel zu einfach, mal eben so durchzudrehen. Innerhalb von Augenblicken war alles wieder in Lot gebracht. Muggel hatten es da nicht so einfach. – Was aber nicht hieß, daß sie seltener durchdrehten.

Ganz mechanisch griff er nach dem nächsten Geschenk, die Angst in ihm wuchs. Es fühlte sich alles an wie eine viel zu große Hürde, die er jetzt mit Gewalt nehmen wollte, obwohl diese ersten Versuche schon gezeigt hatten, daß er mehr Training brauchte.

Das bunte, unbeholfen eingepackte Paket lag schwer in seiner Hand. Es konnte nur von Hagrid sein. So sahen Pakete aus, die von viel zu großen Händen eingepackt worden waren. Von Händen, die sich dennoch alle Mühe gegeben hatten. Das ließ Harry ein wenig lächeln. Unter dem Geschenkpapier kam eine ganze Schachtel voll von Hagrids Felsenkeksen zum Vorschein. Anders als auf Molly Weasleys Keksen lag kein Frischezauber darauf, aber Harry war sich fast sicher, daß diese Kekse auch vor vier Jahren schon hart wie echter Fels gewesen waren. Darin war Hagrid schließlich Spezialist.

„Diese Dinger sehen beängstigend aus", bemerkte Severus skeptisch.

„Es sind prima Waffen, aber essen kann man sie nicht. Hagrid ist ein miserabler Koch, aber er gibt sich immer unheimlich viel Mühe. Bei ihm weiß man immer genau, ob man ihm etwas bedeutet. – Ich weiß gar nicht, ob es in ganz Hogwarts überhaupt irgendwen gibt, der ihm nichts bedeutet." Severus erwiderte das Lächeln, fragte sich aber, ob der Sturm wirklich so plötzlich vergangen war, wie er gekommen war. Konnte das sein? Oder brodelte es noch und Harry versuchte nur, es zu überspielen?

Beim letzten Geschenk schließlich, zögerte Harry schon, bevor er es in der Hand hielt. Es war sehr klein und es konnte eigentlich nur noch von Sirius sein. Er wußte nicht, ob er das wirklich aufmachen wollte.

Severus bemerkte das Zögern, doch diesmal schwieg er. Auch er konnte sich nur zu gut denken, von wem das letzte Päckchen war und was Harrys Zögern bedeutete. Hier durfte er nicht drängeln, das mußte der junge Mann selbst entscheiden.

Harry schloß die Augen, atmete tief durch und versuchte, sich selbst wieder ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen. Der Sturm – wenn auch abgeschwächt – wütete noch in ihm, er wußte, daß er vorsichtig sein mußte, daß es jederzeit zu einem neuen Ausbruch kommen konnte. Es war so furchtbar, wenn der eigene Wahnsinn so klar, aber nicht wirklich vorhersehbar war.

Es kam ihm vor als sei eine Ewigkeit vergangen, bevor er endlich nach dem kleinen Päckchen griff und das Papier ganz langsam ablöste. Als er die nur etwa handgroße Schachtel öffnete, kam nichts weiter zum Vorschein als ein Schlüssel und ein gefalteter Zettel, den Harry mit zitternden Fingern nahm und entfaltete.

Eine Adresse in Schottland. Die Puzzleteilchen klickten zusammen, wurden zu einem Bild. Schottland. Er konnte sich daran erinnern, daß Sirius ihm von einem Cottage erzählt hatte, daß er gemeinsam mit Remus gekauft hatte. Das war der Schlüssel dazu.

Die Dämme brachen so plötzlich und mit solcher Vehemenz, daß Harry keine Zeit hatte, sich auch nur ein wenig darauf vorzubereiten. Als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht, liefen die Tränen ihm in Strömen über das Gesicht, die Schluchzer blieben ihm im Hals stecken, kämpften sich ihren Weg frei, nahmen ihm die Luft zum Atmen.

Warum hatte er das damals nur getan? Warum war er nicht zurückgekommen? Das kam ihm mit einem Mal so blöd vor. So unendlich blöd. Wie war er nur auf die Idee gekommen, daß hier nichts mehr war, das er noch haben wollte. Alles war hier gewesen, absolut alles. Und er hatte es mit Füßen getreten.

Severus fing ihn auf, als er einfach in sich zusammensackte. Innerlicht hatte er eher mit dieser Reaktion gerechnet, als mit dem plötzlichen Ausbruch von Autoaggressivität, den er eben erlebt hatte. Mit den Tränen konnte er umgehen, auf die war er vorbereitet gewesen.

Harry klammerte sich mit aller Macht an Severus fest, während die Tränen ihn durchschüttelten, als wollten sie ihn nie wieder aus ihren Klauen lassen. All seine Verzweiflung brach in diesem Moment über ihm zusammen. Sogar Sachen, die schon Jahre in der Vergangenheit lagen, die er schon lange vergessen geglaubt hatte, kamen ihm jetzt wieder ins Gedächtnis zurück und trieben ihm immer neue Tränen aus den Augen.

Aber Severus war da. Er hielt ihn, hielt ihn ganz fest. Und er könnte seine Stimme hören, auch wenn er die Worte nicht verstand, weil alles in ihm viel zu laut war, um so etwas noch wahrnehmen zu können. Severus war da. Harrys Hände verkrallten sich noch ein wenig mehr.

Ob es nur Minuten oder sogar Stunden gewesen waren, konnte keiner der beiden mehr sagen, aber es erschien ihnen beiden, als sei eine Ewigkeit vergangen, als Harry endlich fühlte, wie die Tränen versiegten. Er bezweifelte, daß auch nur noch ein Tropfen Wasser in seinem Körper war. Er fühlte sich erschöpft, so unendlich müde. Aber da war noch immer dieser Wärme, die ihm half, sich geborgen und jetzt auch endlich wieder ruhig zu fühlen. Dankbar blickte er Severus an.

Harry Augen waren verquollen und stark gerötet, sein Gesicht naß von den Sturzbächen an Tränen, die geflossen waren. Nur ganz vorsichtig löste Severus eine Hand von dem jungen Mann und strich ihm zärtlich über die Wangen, um wenigstens ein paar der Tränen fortzuwischen.

Harry schloß die Augen und schmiegte sich an die warme Hand. Sein letztes ‚Traumgespräch' kam ihm wieder in Erinnerung und er fragte sich, ob es wohl stimmte, ob Severus wirklich wollte, aber den ersten Schritt von sich aus niemals machen würde. Und dann war Harry klar, daß es Unsinn war, sich diese Frage zu stellen, denn sollten konnte man eine Frage so klar mit ja beantworten wie diese.

Ganz langsam ließ er den Morgenmantel los, streckte seine verkrampften Finger, die jetzt schon wieder schmerzten und legte die linke auf Severus' Wange, die rechte in seinen Nacken. Er sah die Überraschung und den kurzen Hauch von Zweifel in den schwarzen Augen aufblitzen. Er hörte, wie seine eigenen Gedanken in ihm aufgeregt umherstoben und ihm viel verwirrendes Zeug zuriefen. Von einer Sekunde auf die andere wurde Harry klar, daß das aufhören mußte und dann waren die Gedanken still, sein Blick wandelnde sich von unsicher zu entschlossen.

Severus gab dem leichten Druck von Harrys Hand in seinem Nacken nach. Wo Harry ihn berührte, prickelte seine Haut. Es hatte in der letzten Zeit viele Berührungen gegeben, aber man mußte kein besonders schlauer Zaubertrankmeister sein, um zu wissen, daß das hier eine ganz andere Berührung war. Eine niemals für möglich gehaltene.

Severus' Welt stand mit einem Schlag still, als ihre Lippen schließlich aufeinander trafen. Nicht zaghaft, wie er erwartet hatte, sondern fordernd und verzweifelt. Harry sagte mit diesem Kuß, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte und im ersten Moment lauschte Severus gespannt, zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Bis sich auch bei ihm endlich der Schalter umlegte. Seine Arme schlangen sich um Harrys Schultern, zogen den Jüngeren halb auf ihn, während er sich auf den Teppich zurücksinken ließ. Zum ersten Mal fühlte er sich in der Lage, sich einem anderen Menschen ganz und gar zu öffnen und er tat es.

Severus Snape ließ seinen Emotionen freien Lauf, hielt nichts zurück und Harry Potter war davon vollkommen überwältigt.

Der Kuß schien eine Ewigkeit zu dauern und doch war er viel zu schnell wieder vorbei. Eine ganze Weile sahen sie sich einfach nur in die Augen, kommunizierten stumm, aber sagten so viel mehr als sie in einer ganzen Stunde hätten sprechen können.

„Ein anderes Geschenk hab ich leider nicht", murmelte Harry, während er seine Lippen für eine kürzere Version des Kusses auf Severus' zurücksinken ließ.

„Aber dafür gebe ich es dir um so lieber." In diesem Moment war so viel in Severus, was er darauf antworten wollte. Daß Harrys bloße Anwesenheit das größte Geschenk war, daß er sich vorstellen konnte, nichts anderes ihn jemals so glücklich machen konnte. Doch das blieb ungesagt. Es war nicht notwendig, denn Harry wußte es, wenn auch vielleicht nur unterbewußt.

Eine ganze Weile blieben sie so vor dem Kamin liegen, Harrys Kopf auf Severus' Brust, während dieser ihm mit der Hand sachte durch die Haare fuhr. Harry lauschte dem regelmäßigen, kräftigen Schlagen des Herzens unter seinem Ohr und fühlte sich glücklich. Severus fühlte die konstante Wärme, die von Harry ausging und fand einfach keine Antwort auf die Frage, warum das passierte, obwohl er es doch gar nicht verdiente, und warum er so verdammt glücklich darüber war.

Harry hätte noch ewig so verharren können, aber plötzlich erinnerte er sich daran, daß es da ja noch etwas gab, was erledigt werden mußte, bevor sie Hogwarts verließen. Nur widerwillig machte er sich von Severus los.

„Ich habe eine Bitte an dich." Severus blickte ihn fragend an, wollte ihn am liebsten zurück in seine Arme ziehen.

„Ich... ich habe die Briefe geschrieben. Heute morgen. Kannst du zwei davon für mich zur Eulerei bringen? Ich schicke Hedwig mit dem dritten los." Severus fühlte den Stolz, den diese Bitte in ihm auslöste und gab nun endlich dem Impuls nach, Harry wieder an sich zu ziehen.

„Natürlich, sehr gerne sogar." Harry seufzte glücklich. Er hatte noch immer Angst davor, die Briefe wirklich abzuschicken, aber was gerade geschehen war, gab ihm so viel Sicherheit, daß die Angst dagegen klein und nichtig erschien. Severus war da und würde ihm helfen. Er war an seiner Seite und würde auch nicht weggehen. Er brauchte keine Angst zu haben. Irgendwie würde sich schon alles einrenken. Irgendwie.

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