Ich habe eine Affinität zu Feiertagen. Fröhliche Ostern und viel Spaß mit Kapitel 9, in dem gerade mal Neujahr ist -seufz-. Übrigens wird das mit den Zeichen hier auf immer schlimmer. Jetzt gehen auch schon so Kombinationen wie drei kleine o, ein großes O und dann wieder drei kleine nicht mehr. Ich pack's echt langsam nicht mehr.

Na ja, der Rest meiner weisen Worte findet sich wie immer "The Broken Smile", meinem LJ für Geschichten. Würde mich freuen, wenn das der eine oder andere liest.

Kapitel 9

Engel im Schnee

„Das war verdammt mutig, Harry. Ich gratuliere."

„Was meinst du?"

„Na, den Kuß. Ich hätte nicht gedacht, daß du es dich trauen würdest. Aber ich bin froh, daß du auf mich gehört hast. Er hätte den ersten Schritt nie gemacht."

„Ich bin mir nicht sicher, ob das so gut war."

„Warum das?"

„Wir haben seit heute morgen kein Wort mehr darüber verloren. Ich hab das Gefühl, er tut so als wäre nichts passiert."

„Aber er hat doch nicht abweisend reagiert."

„Vielleicht war er einfach nur überrascht."

„Ich glaube, daß du dir zu viele Gedanken machst. Wenn du jetzt den Mut verlierst, dann kannst du die Sache abhaken. Du weißt, wie merkwürdig er manchmal reagiert."

„Ich glaube, es zu wissen, aber ich bin mir nicht sicher. Warum bist du dir sicher?"

„Nur so ein Gefühl."

„Toll. Und so verläßlich."

„Was willst du, um es wirklich zu glauben?"

„Daß er es mir sagt. – Oder wenigstens zeigt. Ich möchte, daß man ihm anmerkt, daß er auch will, was ich heute gemacht habe."

„Du willst, daß er auf dich zukommt. Aber das wird nicht passieren, Harry."

„Warum nicht?"

„Severus Snape ist ein komplexer Mann."

„Oh ja, schon wieder eine grandiose Weisheit."

„Sei einfach geduldig. Ich schätze, wenn du ihm ein wenig Zeit läßt, wird er schon zu einem Schluß für sich kommen und danach handeln. – Setz ihn nur nicht unter Druck."

„Er schafft es, daß ich mich spüre. Weißt du, wie viel das für mich bedeutet?"

„Besser als du denkst."

oOoOoOo

Das erste, was Harry beim Aufwachen bemerkte, war Sonnenlicht, das durch ein Fenster in der Wand gegenüber des Bettes fiel. Diese Entdeckung verwirrte seinen vom Schlaf vernebelten Geist und er wußte im ersten Moment nicht, wo er war. Einen kurzen Augenblick lang fühlte er einen panischen Stich im Herzen, riß die Augen auf, um zu sehen, wo er war, wenn er es schon anhand von Gerüchen und Geräuschen nicht identifizieren konnte.

Seine Sicht war verschwommen, doch ein Blick an seine Seite, ein Blick auf Severus, der neben ihm lag und in einem Buch las, ließ die gesamte Panik sofort verebben. Severus blickte auf und runzelte die Stirn.

„Guten Morgen, Harry." Harry rieb sich über die Augen. Er konnte fühlen, wie ihm das Oberteil seines Schlafanzuges im Rücken klebte. Kalter Schweiß und das schon am frühen Morgen. Na wunderbar.

„Guten Morgen, Severus", murmelte Harry, noch immer ein wenig desorientiert, auch wenn er keine Angst mehr vor dem Ort hatte, an dem er aufgewacht war. Und dann kamen auch langsam die Erinnerungen wieder zurück. An die Briefe, die Weihnachtsgeschenke und die Abreise. Sie waren in Wales, in Severus' Haus. Alles in Ordnung, keine Gefahr.

„Geht es dir gut?" fragte Severus besorgt, während er das Buch zur Seite legte und sich aufsetzte. Einen Moment sah Harry etwas abwesend aus, als habe er die Frage gar nicht gehört, doch dann nickte er schließlich, schloß noch einmal kurz die Augen, griff dann nach seiner Brille auf dem Nachttisch.

„Ja, nur ein kleiner Alptraum. – Ich wußte nicht, wo ich war... ob du noch da bist." Vorsichtig legte Severus dem Jüngeren den Arm um die Schulter und zog ihn an sich. Harry legte seinen Kopf an Severus' Brust, konnte das Herz des anderen schlagen hören und das Geräusch beruhigte ihn sogar noch mehr. Fest und stetig schlug es, hielt seinen Takt, eine gemütliche Geschwindigkeit.

„Ich bin immer da, Harry." Severus' Stimme klang anders, wenn man sie direkt aus seinem Brustkorb hörte. Sie vibrierte und jagte Harry noch mehr Schauer über den Rücken als sonst. Harry wollte ihm Zeit lassen, wollte nichts überstürzen, aber in diesem Moment wünschte er sich nichts mehr, als Sicherheit über die Gefühle dieses unnahbaren Mannes. Er hatte sich in der letzten Zeit so viel bei Severus herausgenommen und dieser hatte es immer zugelassen. Aber durfte er es auch weiterhin? Wollte Severus diese Nähe? Vielleicht sah er sich ja doch nur als Vaterfigur, als Beschützer.

Jemandem wichtig zu sein, bedeutete ja nicht immer gleich, daß dieser einen auch auf dieser Ebene wollte.

„Wirklich immer?" fragte Harry unsicher und ängstlich.

„So lange es mir möglich ist." Einen Augenblick lang war Harry versucht, ihn zu fragen, was es ihm unmöglich machen könnte, doch er hielt sich zurück. Er wußte doch genau, daß er von Severus nichts erwarten konnte, was in die Richtung ‚so lange ich lebe' ging. Das war zu schwülstig. Aber es wäre trotzdem etwas gewesen, was Harry jetzt nur zu gerne gehört hätte.

„Möchtest du Frühstück?" Severus' Augen ruhten auf ihm. Harry wußte es, ohne aufzublicken. Er konnte es fühlen. Und er wußte auch, daß das tiefe Schwarz, das sonst so schien, als könnte es nur tiefes Nichts oder absolute Kälte vermitteln, jetzt ungewöhnlich warm war.

„Noch nicht. Ich möchte noch einen Moment lang so bleiben." Wenn etwas in Severus sich dagegen sträubte, dann konnte er es wirklich sehr gut verbergen, denn Harry konnte nichts spüren, was darauf hindeutete, und fühlte sofort, wie sein eigenes Herz ruhiger wurde.

„Du kannst auch noch ein bißchen länger schlafen, wenn du möchtest. Es ist noch recht früh."

„Laß mich einfach nur so liegen bleiben, wie jetzt. Das reicht mir absolut." Severus sagte es nicht, aber er war froh über diesen Wunsch.

oOoOoOo

Liebevoll und ein wenig ungläubig strich Harry über den glatt polierten Stiel seines Besens, bewunderte die Weichheit der Holzoberfläche, begutachtete jede Biegung, jedes Rundung, jedes noch so kleine Zweiglein Reisig, das noch immer so akkurat zusammen gebunden und gut gepflegt war wie das letzte Mal, als er den Besen in der Hand gehalten hatte.

Nur hin und wieder hatte Harry einen Blick auf seine alten Sachen geworfen, die man trotz seines angeblichen Todes in Hogwarts aufbewahrt hatte, aber nie hatte er sich gefragt, was eigentlich aus seinem Besen geworden war. Irgendwann hatte er sich einfach gedacht, daß man ihn vermutlich in einem sentimentalen Anfall von Heldenverehrung neben die Plakette plaziert hatte, die sein Vater in seiner Jugend mit seiner Mannschaft gewonnen hatte. Und damit war es gut gewesen.

Um so erstaunter war er gewesen, als Severus ihm seinen Besen nach dem Frühstück in die Hand gedrückt hatte. Seitdem kribbelte es in ihm. Er wollte fliegen. Er wollte die Freiheit spüren, wenn der kalte Wind ihm um den Kopf wehte, wenn die Landschaft unter ihm dahinraste. Das Gefühl der Losgelöstheit, wenn die ganze Welt plötzlich kleiner und kleiner wurde, nur noch der Himmel und man selbst real, der Rest Spielzeug.

Und er wußte, daß er es hier konnte. Niemand würde ihn sehen. Das nächste Dorf war zu weit weg, als daß man ihn von dort aus beim Starten oder Landen beobachten konnte, das Cottage war das einzige Haus auf weiter Flur. Und Fliegen war keine Magie, die vom Ministerium registriert werden konnte.

Sein Herz schlug zum Zerspringen. Er konnte es. Er wollte es.

oOoOoOo

Severus beobachtete vom Küchenfenster aus, wie Harry lange Zeit über der Entscheidung brütete, ob er es wirklich wagen sollte. Er konnte sich vorstellen, wie sehr der junge Zauberer sich wünschte, wieder auf seinem Besen zu sitzen, wie er aber gleichzeitig seine innere Stimme hörte, die ihn davon abhalten wollte. Der Muggel in ihm, der in den letzten Jahren stark geworden war und sich nicht mit der anderen Seite in Harry arrangieren wollte.

Viele Duelle dieser Art hatte die Stimme in der letzten Zeit, in den letzten Jahren sogar, immer wieder gewonnen, ihre Macht über Harry, den man einst als den wahrscheinlich größten Zauberer aller Zeiten angepriesen hatte, war groß geworden. Um so erleichterter fühlte Severus sich, als Harry schließlich ein wenig entschlossener zupackte, erst den Besen, dann sich selbst in Position brachte, und schließlich abhob. – Gerade so, als wäre es nicht schon Jahre her, daß er es das letzte Mal gemacht hatte.

Er selbst war nie so verrückt nach Quidditch gewesen, aber es stimmte wohl, was die Spieler immer wieder sagten. Man verlernte es nicht. Wer einmal das Fliegen im Blut hatte, vergaß nie wieder, wie es funktionierte. Und er konnte auch niemals ganz davon loskommen. Es war eine eigene Art von Sucht. Fast hatte Severus ein schlechtes Gewissen, daß er dieses Mittel so bewußt gegen Harry einsetzte, aber er sah es als Chance, ihn ein Stück weiter zu bringen. Raus aus den Kerkern und wieder rein in das Licht und Leben des Tages. Früher oder später mußte Harry dorthin zurück. Er konnte nicht ewig bei ihm bleiben.

Warum soll er das nicht können? fragte seine eigene innere Stimme ihn, scheinbar überrascht über seine Gedanken, obwohl sie diese als Teil seines Geistes doch eigentlich kennen sollte. Severus lächelte, schüttelte den Kopf. Harry war Licht, er selbst war Dunkelheit. Im Moment wollte Harry nicht leuchten und darum ging es auch gut, daß er sich in der Dunkelheit versteckte. Aber was war, wenn diese Phase eines Tages vorbei war?

Aber es will es. Er will bei dir bleiben. Reicht dir nicht, was gestern morgen geschehen ist? Nicht schon wieder dieser Kuß! Ärgerlich wandte Severus sich vom Fenster ab.

Er tat es schon wieder. Warum schob er diesen Kuß immer als unmöglich von sich, wo er doch für sich selbst schon längst beschlossen hatte, daß er es wollte? War er sich nicht vor ein paar Stunden noch sicher gewesen, daß er es nicht mehr in Frage stellen würde? Als er die Eule zu Lupin geschickt hatte, da war er es doch gewesen. Wo war diese Sicherheit schon wieder hin? Es war zum Schreien.

Er wollte es akzeptieren, er würde es akzeptieren. Daß er es nicht verstehen konnte, war doch ein ganz anderes Thema. Harry war bei Sinnen, wußte, was er tat, und wenn er einen alten Mann küßte, dann wollte er das. Das hatte rein gar nichts mit falscher Dankbarkeit zu tun.

Kreisende Gedanken waren etwas Furchtbares. Severus haßte es, wenn er grübelte und grübelte, aber nie zu einem Ergebnis kam.

Ganz langsam drehte er sein Gesicht wieder dem Fenster zu und suche nach dem kleinen Punkt in der Ferne. Als er Harry ausgemacht hatte, lächelte er ein wenig. Er war nicht nur dankbar. Bestimmt steckte mehr dahinter, auch wenn es sich immer noch dumm und vermessen anfühlte, so etwas zu hoffen. Severus wollte nicht glauben, daß Harry so etwas Verletzendes tun würde. Und er würde schon dafür sorgen, daß Harrys Absichten immer dem entsprachen, was er auch wirklich wollte. Er hatte nicht umsonst Jahre an seiner Selbstbeherrschung gefeilt. Er würde das schon unter Kontrolle halten.

Severus fragte sich, ob er sich überschätzte, aber eigentlich wollte er die Antwort nicht wissen.

Ein Tee, das war es, was er jetzt wollte. Und vielleicht auch noch ein gutes Buch. – Obwohl er immer noch keines im Haus hatte, das er noch nicht kannte.

Als er mit einer dampfenden Tasse Tee in das kleine Wohnzimmer ging, wo das Feuer im Kamin schon brannte und eine behagliche Wärme verbreitete, fiel sein Blick auf das Buch von Hermine und seine Miene verfinsterte sich. Wunsch hin oder her, er konnte sich bisher keinen Beruf aus diesem Buch für Harry vorstellen. Das schien alles so weit weg, so überhaupt nicht Harry. – Aber vermutlich mußte er sich darüber auch gar keine Gedanken machen. Am Ende würde Harry sich sowieso ganz anders entscheiden, da war er sich sicher. Schließlich wollte er nicht als Zauberer unter Muggeln leben, sondern selbst einer sein.

Severus empfand das noch immer als eine unverzeihliche Verschwendung von Talent, wenn er auch wußte, daß er nichts dagegen tun konnte.

oOoOoOo

Er hatte es vergessen. Harry wußte nicht wie, aber er hatte dieses großartige Gefühl einfach vergessen. Er hatte immer gedacht, daß er sich noch gut daran erinnern konnte, wie sich Fliegen anfühlte, aber jetzt, wo er endlich wieder auf einem Besen saß, wurde ihm klar, wie blaß seine angebliche Erinnerung doch war. Himmelweit weg von der Realität.

Und er wollte nie wieder landen. Es war wie mit den Drogen. Sie waren auch eine Art Flug gewesen und wenn man landete, dann war der ganze Schmerz wieder da. Darum durfte man nie landen. An einen Rausch mußte direkt der nächste folgen. Und die Flüge wurden kürzer. Es dauerte nicht lange, bis das zu einer Gewißheit wurde.

Harry wußte, daß dieser Flug nicht wirklich vergleichbar war mit dem der Drogen, aber eine gewisse Ähnlichkeit war eben doch da. Die Angst vor dem Landen war plötzlich groß. Hier oben war mit einem Mal alles so leicht, was unten auf der Erde viel zu schwer erschien. Einzig der Gedanke daran, daß dort unten Severus war und auf seine Landung wartete, ließ ihn den Gedanken überhaupt in Erwägung ziehen.

Harry lächelte. So wie es aussah, hatte er endlich einen Anker gefunden, der ihn festhielt und unter Umständen auch mal auf den Boden der Realität zurückholte.

Die düsteren Gedanken, die sich plötzlich und schwer wie Gewitterwolken über ihm zusammen gebraut hatten, stoben auseinander und Harry beschleunigte seinen Flug noch einmal ein wenig. Mit einem lauten Jubelschrei schloß er die Augen und setzte zu einem atemberaubenden Sturzflug an.

Frei. Nie wieder wollte er von hier fort. Diese Freiheit, das Haus, Severus. Mehr wollte er nicht. Das war ihm für den Rest seines Lebens genug.

Der weiß gepuderte Erdboden kam immer näher. Rasend schnell wurde die Welt größer, bekamen verschwommene Punkte eine Form. Es war nicht mehr als ein halber Meter zwischen ihm und dem Erdboden, als er den Besen herumriß und zurück in eine steigende Position brachte. Keine Erinnerung konnte mit der Realität mithalten.

Es war gut, noch am Leben zu sein. Der Gedanke überraschte Harry und überraschte ihn doch auch wieder nicht. Hatte er es nicht immer gewußt? Die Verzweiflung war kurzzeitig größer geworden, aber das hieß ja nichts. Das Leben war im Prinzip gut. Man mußte nur lernen, damit umzugehen und zu akzeptieren, daß das Gute nicht immer Spaß machte. Das war die einzige Schwierigkeit.

oOoOoOo

Es dämmerte bereits, als Harry am Nachmittag zum Haus zurückkehrte. Er konnte seinen Körper vor Kälte kaum noch spüren und er fühlte auch schon, wie die Nässe durch seinen Umhang sickerte, seine Kleidung darunter feucht wurde. Aber nichts änderte etwas daran, daß er sich einfach nur gut fühlte. Ruhig und ausgeglichen und bereit dafür, sich endlich Klarheit zu verschaffen, was Severus' Gefühle für ihn anging.

Er wußte zwar noch nicht wie, er wußte nicht wann, aber er würde den passenden Zeitpunkt schon noch finden. So viel Zuversicht fühlte sich richtig ungewohnt an. Aber auch gut. Richtig gut.

„Du siehst aus, als könntest du ein paar trockene Kleider vertragen", bemerkte Severus mit einer erhobenen Augenbraue und einem deutlich tadelnden Blick. Harry strahlte ihn zur Antwort einfach nur an, bevor er sich an ihm vorbei schob und im Schlafzimmer verschwand.

Severus blieb verwirrt zurück. Zumindest für einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf und tat den Gedanken, daß daran etwas seltsam war, mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Harry war einfach nur glücklich. Was hatte er erwartet, nach einem ganzen Tag auf diesem Besen? Ein Lächeln stahl sich auf das immer viel zu ernste Gesicht des Zaubertrankmeisters.

Harry zitterte noch immer wie Espenlaub, als er ins warme Wohnzimmer zurück kam. Die trockenen Sachen halfen zwar schon sehr, aber er war einfach viel zu durchgefroren, um die Kälte so einfach wieder loszuwerden. Eigentlich konnte er sich gar nicht erklären, wie er sich noch immer so gut fühlen konnte, wo er doch seinen halben Körper kaum spürte, während andere Teile, wie seine Finger etwa, vor Kälte schmerzten.

Zielstrebig ging er an der Couch vorbei und setzte sich vor den Kamin, so nah, wie er sich an die Flammen heranwagen konnte. Die Wärme des Feuers prickelte auf der Haut seines Gesichts, die jetzt auch schlagartig begann, sehr warm zu werden. Es war immer das gleiche Phänomen. Erst die beißende Kälte, dann sengende Hitze.

„Warum bist du nicht früher reingekommen? Du hättest doch morgen wieder fliegen können. Kein Grund, sich wegen so etwas eine Lungenentzündung zu holen", schimpfte Severus wenig ernst gemeint, während er sich mit einer Decke hinter Harry setzte und sie um sie beide wickelte. Harry war überrascht, aber versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, sondern ließ sich wie selbstverständlich ein wenig zurücksinken, bis sein Rücken sich an Severus' Brust preßte.

„Ich konnte einfach nicht aufhören. Erst wollte ich gar nicht aufsteigen, aber wenn man dann erst mal in der Luft ist, dann möchte man nie wieder landen. Man merkt gar nicht, daß einem kalt ist, oder wie schnell die Zeit in den Wolken vergeht. Fliegen ist wie gelebter Kitsch und mit einem Mal wird der schön, weil er gar nicht mehr so furchtbar kitschig erscheint.

Warum hast du mich nicht reingerufen?" Harry wandte leicht den Kopf, um Severus ansehen zu können. Der Ältere betrachtete ihn nachdenklich, das Gesicht wie fast immer nahezu ausdruckslos.

„Weil ich mir dachte, daß du vermutlich glücklich bist", antwortete er schließlich schlicht. Harry lächelte, wandte dem Blick wieder dem Feuer zu und genoß die Stille, die Wärme und die Nähe, die Severus ihm schenkte.

Vielleicht war es blauäugig und widerlich romantisch, aber es paßte zu seinen Gedanken früher an diesem Tag. Dieses Haus und Severus und er konnte glücklich sein. In diesem Moment kümmerte ihn nicht, was sonst noch geschah. Er hatte sogar noch nicht einmal mehr Angst davor, was sein würde, wenn sie nach Hogwarts zurück gingen. Remus und Sirius, Ron und Hermine, das alles war so weit weg und nicht wirklich.

Severus fühlte, wie das Zittern langsam von Harry abließ und der Körper des jungen Mannes in seinen Armen noch ein wenig nachgiebiger wurde, sich noch enger an ihn schmiegte. Und egal wie sehr sich verschiedene innere Stimmen in ihm darüber stritten, er fühlte sich im Moment so wohl wie selten. Dieser Moment war einfach nur perfekt. Wenn es nach ihm ging, konnte er ewig dauern.

Wieder stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Jetzt war er schon so weit, daß er sich aufführte wie ein verliebter Teenager, der nur zuckersüße Romantik im Kopf hatte. Das konnte ja nur böse enden. Schließlich war er doch eher die böse Hexe im Märchen. Das Lächeln wurde ein wenig breiter.

„Was hältst du davon, wenn ich dir morgen das Dorf zeige? Ich möchte gerne nach Porthmadog und vom Dorf aus fährt ein Bus dorthin." Severus konnte fühlen, wie Harry sich vor Überraschung ein wenig versteifte und im nächsten Moment blickte er in absolut grüne und absolut verblüffte Augen.

„Bus? Du willst Bus fahren?" Severus verzog das Gesicht bei dem Gedanken.

„Nein, ich will nicht. Aber das ist dein Urlaub und darum dachte ich, wir machen alles so, wie du es am liebsten haben möchtest, auf Muggelart." Die Überraschung in Harrys Augen verwandelte sich in ein amüsiertes Glitzern, während ein breites Lächeln das ganze, immer noch viel zu dünne, Gesicht aufhellte.

„Du bist einfach unglaublich!" Severus konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Harry sich umgedreht hatte und ihm um den Hals gefallen war. Fast war es wie ein Déjà Vu, als Severus das Gleichgewicht verlor und nach hinten umkippte. Aber kein unangenehmes, immerhin.

„Ich habe die Befürchtung, daß ‚unglaublich dumm' die korrekte Bezeichnung dafür ist. Wahrscheinlich werde ich mich keine fünf Minuten nach dem Einsteigen fragen, welcher Teufel mich geritten hat, mich in ein Beförderungsmittel der Muggel zu setzen. Auch wenn es nur ein paar Meilen bis Porthmadog sind. Immerhin das." Harry lachte, sich offensichtlich gar nicht bewußt, welche Spannung auf einmal in der Luft lag. Er fühlte sich offensichtlich absolut wohl, wie er so auf Severus' Hüften saß und der Ältere unter ihm lag.

„Was gibt es in Porthmadog?", fragte Harry schließlich, während er sich auf Severus' Brust sinken ließ, seinen Kopf wieder ungefähr über dessen Herzen ablegte. Severus schloß die Arme um Harrys Rücken und blickte an die grob verputzte Decke des Cottages, während er einen Moment überlegte.

„Es ist lange her, daß ich dort war. Porthmadog ist eine Hafenstadt und ebenfalls eine beliebte Touristenstadt. Nicht im Winter, wie der Rest von Snowdonia, aber im Sommer kann man es da kaum aushalten. Ganz in der Nähe, auch direkt am Meer, steht Criccieth Castle. Die Burgen stehen hier allerdings an jeder Ecke, wirklich besonders ist das also nicht. Criccieth soll eine der schöneren Burgen sein." Harry lächelte und schloß die Augen. Er wollte sich am liebsten von Severus' Stimme forttragen lassen.

„Das Städtchen hat einen ganz hübschen Markt, aber leider nicht im Winter. Ansonsten ist es ein ganz gewöhnliches kleines Nest am Meer. – Allerdings gibt es dort Buchläden, das hat die Stadt den noch kleineren Käffern hier voraus." Harry lachte leise und boxte Severus leicht in die Seite.

„Immer wenn man gerade den Eindruck hat, daß du ausnahmsweise etwas erstaunlich Nettes gesagt hast, bist du so uncharmant. Es wird bestimmt wunderschön." Severus verkniff sich die Antwort, die ihm sofort auf der Zunge lag. Unmöglich konnte er jetzt auch noch zugeben, daß es ihm ziemlich egal war, an welchem Ort er sich befand, so lange er mit Harry dort war.

„Wir kommen wieder her, im Sommer, kurz bevor die Touristen kommen. Und dann zeige ich dir alles Sehenswerte hier", sagte er statt dessen und wußte schon in dem Moment, daß das nicht nur ein Versprechen an Harry, sondern auch sich selbst war. Bis zum Sommer konnte noch so wahnsinnig viel passieren, aber er war sich sicher, daß er das Versprechen halten würde. Er wollte und eigentlich mußte er es auch.

„Das wäre wunderbar", brachte Harry mehr als mühsam hervor. Es war nicht das erste Mal, daß Severus ihn an diesem Abend überraschte, aber dieses Versprechen schnürte ihm irgendwie die Luft ab und ließ sein Herz ein paarmal springen. Es zeigte, daß Severus plante. Und nicht nur bis zur kommenden Woche oder einen Monat weit. Harry kam in seinen Zukunftsplänen vor. Das war irgendwie... Harry fand es unglaublich.

Langsam richtete er sich wieder auf und blickte Severus lange in die Augen, während dieser den Blick ruhig ertrug. Es war fast wie eine Kraft, die an ihm zog, als er sich schließlich wieder leicht nach vorne beugte und einen zarten, kaum spürbaren Kuß auf Severus' Lippen drückte.

„Wenn das für dich nicht okay ist, dann sag es mir jetzt", flüsterte er, während er mit einer Hand durch das schwarze Haar kämmte, das sich fast wie ein Fächer um Severus' Kopf ausgebreitet hatte. Doch während er das sagte, wich er den schwarzen Augen aus. Alles sprach dafür, daß er nicht auf Ablehnung traf, das wußte er, aber wenn sie doch kommen sollte – denn bei Severus Snape konnte man im Prinzip doch nie klar voraussehen, wie er reagieren würde – dann wollte er sie nicht in ihnen sehen.

Die Sekunden, die Harry auf Severus' Antwort wartete, erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Warum sagte er denn nichts?

„Ich weiß nicht, ob es okay ist, Harry. Aber es macht mich sehr, sehr glücklich." Erleichterung konnte ein schmerzhaftes Gefühl sein. Wenn die Angst sich so fest um ein Herz geklammerte hatte, wie es gerade bei Harry der Fall gewesen war, dann war die Erleichterung, die ihn jetzt durchflutete, einfach zu viel und tat weh. Aber es war trotz allem Erleichterung.

Severus konnte sehen, wie Harry ein Stein vom Herzen fiel. Es war wieder ein kleiner Kampf gewesen. Er wußte, was er hatte sagen wollen, hätte es wie aus der Pistole geschossen antworten können, aber es auch wirklich auszusprechen, war das eigentliche Problem.

Es getan zu haben, bedeutete aber endlich eines. Kein Zurück mehr. Und auch wenn er sich nicht sicher war, was die Zukunft für sie beide bringen würde, diese Entscheidung endlich getroffen zu haben, war ein extrem gutes Gefühl.

„Merlin sei Dank", hauchte Harry erleichtert, während die Spannung seinen Körper verließ und er wieder auf Severus hinab sank. Severus lächelte, aber ein Gedanke nagte noch immer an ihm. Harry hatte etwas klären wollen und seine Antwort erhalten. Vielleicht war es ein guter Zeitpunkt, noch mehr zu klären.

„Aber warum ich, Harry? Ich bin alt genug, um dein Vater zu sein. Genau genommen bin ich genau so alt wie dein Vater jetzt wäre. Und deine Freunde hassen mich. Es wird nicht leicht sein. – Ganz davon abgesehen, daß ich nicht verstehen kann, aus welchen Gründen du ausgerechnet mit mir zusammen sein willst." Severus konnte nicht sehen, wie Harrys Augen sich ein wenig verengten, aber er fühlte die Hände, die sich an ihn klammerten, als wollten sie ihn nie wieder loslassen.

„Was macht das alles schon? In ein paar Jahren kümmert niemand mehr, daß du älter bist. Jetzt fällt es auf, weil ich noch sehr jung bin, aber irgendwann verschwimmt die Grenze. Mir ist egal, was die Leute denken oder was sie reden. Sie zerfetzen sich ohnehin nur die Mäuler, egal was ich tue.

Und meine Freunde... wenn sie mich wirklich lieben, wie sie immer behauptet haben, dann werden sie das verstehen. Dann müssen sie es doch einfach verstehen. Sie können nicht gegen mein Glück sein." Die Verzweiflung, die in diesen Worten mitschwang, ließ Severus bedauern, daß er es angesprochen hatte. Aber im Grunde hätte er es früher oder später sowieso machen müssen. Er unterdrückte das bittere Lachen, das ihm bei Harrys Worten sofort entgleiten wollte und zwang seine Hand statt dessen dazu, sich auf Harrys Rücken zu legen und sacht darüber zu streicheln.

„Sie werden es bestimmt trotzdem nicht einfach so hinnehmen. Aber ich glaube, das weißt du." Die Hände verstärkten ihren Griff noch. Severus hatte fast Angst, daß Harry sich nur wieder weh tat.

„Ja", preßte Harry schließlich mühsam hervor und holte ein paarmal tief Luft. Severus konnte sich vorstellen, daß er sich erst beruhigen mußte. Schließlich traf Harry gerade schon wieder eine einschneidende Entscheidung.

„Aber das ist mir egal!" kam auch schließlich die erstaunlich heftige Entscheidung, als Harry mit diesen Worten auch wieder in eine sitzende Position hochfuhr. Severus sah das Blitzen und die Entschlossenheit in den Augen des Jüngeren und war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Einerseits freute es ihn, daß Harry wieder bereit war, für etwas zu kämpfen, aber auf der anderen Seite machte es ihn nicht sonderlich glücklich, daß Harry sich ausgerechnet entschlossen hatte, für ihn gegen seine Freunde zu kämpfen.

Er war töricht, das wußte er. Statt so einen Unsinn zu denken, sollte er sich lieber freuen. Aber so widerlich und gefühllos er auch immer wirkte, war er trotzdem niemand, der Gefühle und Beziehungen nicht verstand. Er wußte, was das für Harry bedeutete.

„Warum ich, Harry?", bohrte er sanft nach. Er spürte die Spannung im Raum, die Spannung in Harry. Er konnte zu deutlich fühlen, wie sich Harrys Körper beinahe sprungbereit machte. Ohne wirklich zu bemerken, was er tat, legte er ihm die Hände auf die Hüften. Eine Geste, die beruhigen sollte, die Harry zeigen sollte, daß er da war, daß er ihn stützte. Seine Hände entwickelten jetzt also schon ein Eigenleben.

„Weil ich so fühle. Ist das denn nicht genug?" Severus lächelte.

„Mir schon. Aber ich möchte dich nicht einfach so losrennen lassen. Du könntest die Entscheidung später sehr bereuen, wenn du jetzt nicht genau weißt, was die eventuellen Konsequenzen sein könnten. – Und wenn du nicht weißt, warum du das ausgerechnet für mich getan hast.

Ich weiß nicht, wie es mit den anderen aussieht, aber eines weiß ich ganz sicher. Wenn Sirius auch nur von einem einzigen Kuß erfährt, wird er aus der Haut fahren." Harry schnaubte verächtlich, aber er wandte den Blick ab. Severus wußte, daß er einen Treffer gelandet hatte. Harry atmete ein wenig schneller, während er fieberhaft nachdachte, was er als nächstes sagen sollte.

„Was soll ich tun? Ich kann nur für Sirius oder wen auch immer nicht einfach meine Gefühle abstellen. Warum sollte ich?" Harrys Stimme wurde ein wenig lauter und auch wütender. „Soll ich ganz ehrlich sein? Ich kann auf sie verzichten, wenn ich muß. Und wenn sie gegen das sind, was ich tue, dann muß ich auf sie verzichten."

„Ich glaube nicht, daß du das wirklich meinst", bemerkte Severus einlenkend. Harry funkelte ihn wütend an.

„Und wie ernst ich das meine! Ich... ich..." Harry biß sich auf die Lippen.

„Nicht runterschlucken, Harry. Ich will nicht, daß du in dich reinfrißt, was du sagen willst. Raus damit!" Harry schüttelte den Kopf, doch im Prinzip hatte Severus doch schon gewonnen. Er konnte es gar nicht zurückhalten, obwohl er es wollte, weil er sich trotz allem ein wenig dafür schämte. Es sollte nicht wahr sein, aber es war so. Als sich ihre Blicke diesmal trafen, hatte Harry Tränen in den Augen.

„Ich meine es vollkommen ernst, Severus. Ich habe sie in den letzten Jahren nicht einen Tag wirklich vermißt. Ich bin froh, wenn sie wieder da sind, weil sie mir noch immer wichtig sind. Aber vermißt habe ich nur dich." Jetzt war es raus. Es war eine ziemlich schändliche Wahrheit über ihn, und außerdem klang es ganz furchtbar schwülstig. Undankbarer kleiner Harry Potter. Beschämt und auch immer noch ein wenig wütend blickte er über Severus hinweg.

„Schau mich an, Harry", befahl der ihm sanft und als er ihm nicht folgte, griff eine der schlanken, langfingrigen Hände nach seinem Kinn und drehte ihm sein Gesicht zu.

„Das sagt rein gar nichts darüber aus, wie wichtig sie dir sind, Harry. Du brauchst dich dafür auch nicht schämen. – Aber schreib sie nicht ab. Du hast dich von ihnen verlassen gefühlt, als du damals fort gingst. Du hast die Kontrolle verloren. Und so wie ich das sehe, hast du dich ganz schön in einige Dinge verrannt.

Aber trotzdem bedeutet das nicht, daß sie dir wirklich egal sind. Und du solltest das nicht glauben. Warte ab, bis du sie wiedergesehen hast." Harry preßte die Lippen zusammen und kämpfte sichtlich dagegen an, endgültig die Fassung zu verlieren. Doch er konnte nicht verhindern, daß die Tränen, die er so unbedingt zurückhalten wollte, über seine Wangen liefen, sich an seinem Kinn sammelten und auf Severus' Pullover tropften.

„Wenn sie mich von dir fernhalten wollen, garantiere ich für nichts", flüsterte er starrköpfig. Severus zwang sich zu einem Lächeln

„Sei dir ganz sicher, Harry. Das ist das einzige, was ich möchte. Ich bin an deiner Seite, wenn du dich dafür entscheidest, daß du wirklich mit mir zusammen sein willst. Aber sei dir sicher. Ich möchte... ich..." Severus stockte.

„Jetzt bist du derjenige, der etwas in sich reinfrißt." Severus schloß einen Moment die Augen. Konnte er das aussprechen? Er war sich nicht sicher. Er wußte, was er sagen wollte, aber die Worte auch über die Lippen zu bringen, war etwas ganz anderes.

„Ich... Es ist vollkommen selbstsüchtig von mir, Harry. Aber ich habe dir einmal etwas erzählt, ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst. Und ich möchte nicht wieder hoffen, wenn es keine Hoffnung gibt. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal damit umgehen kann, eines Tages wieder alleine dazustehen." Es fühlte sich nicht besser an, obwohl es doch immer hieß, daß es so war, wenn man sich etwas von der Seele geredet hatte. Vielmehr hatte er jetzt den Eindruck, Harry damit eine Art Fessel angelegt zu haben. Oder besser kurz davor zu sein, das zu tun.

„Ich bin nicht er, Severus", sagte Harry fast schon wieder sanft. Es war das zweite Mal seit sie sich kannten, daß er Severus verletzlich sah, und das war etwas, was er komischer Weise nicht ertragen konnte. Er wollte ihn so nicht sehen. Er wußte, daß auch jemand wie Severus Ängste haben mußte, die ihn angreifbar machten, das war es nicht. Aber Harry wollte nicht zulassen, daß diese Ängste von ihm Besitz ergriffen. Schon gar nicht, wenn es um eine Sache zwischen ihnen beiden ging.

„Nein. Nein, du bist ganz und gar nicht er. Aber heißt das denn auch, daß damit alles gut wird?"

„Weißt du, wie die Muggel das hier nennen würden?" Severus schüttelte den Kopf. Plötzlich kam er sich lächerlich vor, wie er hier unter Harry auf dem Boden lag und sie ein Drama inszenierten, das praktisch schon bühnenreif war.

„Seifenoper. Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich will mit dir zusammen sein. Frag nicht warum und komm mir nicht mit deinem Alter oder damit, daß meine Freunde es nicht akzeptieren würden. Das ist mir scheißegal." Der letzte Satz klang wie ein wütendes Knurren und Severus war überrascht, wie schnell Harrys Gesichtsausdruck sich von verzweifelt zu absolut bestimmt ändern konnte. Die Linien um seinen Mund wurden hart, sein Kinn schob sich leicht nach vorne und die sonst so groß wirkenden Augen wurden mit einem Mal schmal, der Blick scharf.

Bevor Severus wußte, was er tat, schlangen sich seine Arme um Harrys Oberkörper und zogen den Jüngeren wieder zu sich herunter. Das lief alles so gar nicht, wie er es haben wollte, aber dennoch fühlte es sich nicht schlecht an. Verwirrend und verrückt.

„Es tut mir leid, daß ich es nicht einfach verstehen oder wenigstens hinnehmen kann, wie es kommt. Ich kann auch nicht aus meiner Haut. So ist das wohl mit uns allen." Er konnte fühlen, wie Harrys Mundwinkel sich nach oben bogen.

„Ich bin nicht er und ich meine es ernst. Ich habe wenig Klarheit über mich und meine Gefühle, aber ich weiß ganz sicher, daß ich dich mag. Daß ich dich sogar..."

„Nicht Harry. Sprich das so früh noch nicht aus."

„Es ändert nichts daran, daß es wahr ist."

„Ich kann damit trotzdem nicht umgehen."

„Okay. Aber du solltest dich an den Gedanken gewöhnen. Irgendwann werde ich es sagen." Severus sagte nichts. Das würde sich noch zeigen. Noch glaubte er nicht daran. Es war nicht so, daß er es nicht wollte, aber es war so eine Sache mit der Hoffnung. Harry weckte sie und Severus wußte doch eines ganz sicher. Er konnte nicht noch einmal damit umgehen, wenn sie umsonst war. Auch wenn Harry es vielleicht wirklich ganz ernst meinte.

Severus lächelte bitter. Der Blinde führt den Blinden. Lange nicht mehr das erste Mal, daß er dieses Bild bei ihnen beiden vor Augen hatte und er war sich sicher, daß es nicht das letzte Mal war.

oOoOoOo

Harry konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen, als sie am nächsten Tag das Dorf am Waldstück erreichten. Es war wirklich nur sehr klein. Vielleicht hundert Häuser, wenn es hoch kam, eine Kirche und ein Marktplatz, auf dem bei dieser Kälte und zu dieser Uhrzeit allerdings noch nicht sonderlich viel los war. Doch die wenigen Menschen, die schon unterwegs waren, musterten die beiden Fremden mit Neugier, aber auch einer ganz gewaltigen Portion Skepsis. Vor allem was Severus anging, der mit einem düsteren Gesichtsausdruck neben ihm herlief.

„Sie mögen dich wohl nicht sonderlich?" fragte Harry mit einem kaum unterdrückten Lachen in der Stimme.

„Sie finden mich merkwürdig und unheimlich. Wenn ich hier bin, wissen sie nicht, wann und wie ich hier aufgekreuzt bin, denn ich komme nie mit dem Bus oder dem Auto hier an. Ich habe so gut wie noch nie hier im Dorf eingekauft, obwohl es im näheren Umkreis die einzige Möglichkeit ist, an Lebensmittel zu kommen. Oh ja, und ich habe keinen von ihnen in meine Dienste genommen, der sich um mein Haus kümmert, wenn ich nicht da bin, was ja fast das ganze Jahr über der Fall ist.

Dörfler sind die mißtrauischsten und verschworensten Menschen, die es gibt, Harry." Jetzt konnte Harry das Lachen nicht mehr zurückhalten, auch wenn es leise war und er es hinter seiner Hand verbarg. Severus hob eine Augenbraue an, doch eigentlich genoß er das vergnügte Funkeln in Harrys Augen und das Leuchten, das sein ganzes Gesicht erhellte, wenn er lachte.

„Dann müssen wir wohl froh sein, wenn sie keinen Scheiterhaufen aufbauen und uns ‚Hexe! Hexe!' hinterher rufen." Severus' rechter Mundwinkel bog sich nach oben.

„Die Waliser wären die letzten, die eine Hexe verbrennen würden. Hier liegen viele unserer Ursprünge und im Gegensatz zu anderen Völkern haben die Waliser ihre Wurzeln noch nicht vergessen.

Was natürlich nichts daran ändert, daß sie vermutlich vor Angst umfallen würden, wenn sie wüßten, daß wir echte Zauberer sind", schloß Severus seine Lobpreisung in einem trockenen, aber warmen Ton. Das war noch einer der Gründe, warum er sich ausgerechnet Wales ausgesucht hatte, ausgerechnet diese Gegend. Alles strotzte vor Magie, man mußte sie nur fühlen können. Selbst viele Zauberer und Hexen hatten inzwischen vergessen, wie es sich anfühlte, auf den Spuren der Druiden zu wandern.

„Ich wußte doch schon immer, daß irgendwo in dir ein Romantiker versteckt ist", neckte Harry ihn sanft.

„Kein Grund, beleidigend zu werden, Mister Potter. Man sollte auch als moderner Zauberer immer wissen, daß dieses alberne Zauberstabgefuchtel durchaus weniger alberne Ursprünge hat. Das hat wenig mit Romantik oder sonstiger Gefühlsduselei zu tun", knurrte Severus gespielt, fühlte sich dennoch ein wenig ertappt. Harry konnte nicht wissen, wie weit ihn seine Gedanken gerade getragen hatten, auch wenn die Bezeichnung ‚hoffnungsloser Romantiker' ihm dazu sofort in den Sinn kam.

Harrys fröhliches Lachen beruhigte ihn aber rasch wieder. Scheinbar hatte er sich doch nicht so sehr verraten, wie er im ersten Moment befürchtet hatte und Harry hatte es doch nur spaßig gemeint.

„Wie lange werden wir mit dem Bus brauchen?" fragte Harry, als sie schließlich die Bushaltestelle am Markplatz erreichten. Severus blickte noch immer extrem mürrisch drein, wenn er auch nur an die bevorstehende Busfahrt dachte. Er hatte es in London einmal gewagt, einen Bus zu benutzen und das war keine gute Erinnerung.

„Es sind vielleicht zehn Meilen bis Porthmadog, ich hoffe also, daß es nicht allzu lange dauern wird. Bei dem Wetter wird der Bus allerdings nicht allzu schnell vorankommen, fürchte ich." Harry schüttelte leicht den Kopf über den düsteren Unterton in Severus' Stimme, sparte sich aber jeden Kommentar dazu. Es war schon unglaublich genug, daß der Ältere sich nicht nur darauf einließ, sondern es sogar vorgeschlagen hatte. Da mußte er ihn nicht auch noch dafür aufziehen, daß er sich benahm, als habe er sein Todesurteil damit unterzeichnet.

Severus Snape war eben doch manchmal ein waschechter Dramatiker.

„Da hinten gibt es ein paar kleine Läden", Harry folgte dem unauffälligen Fingerzeig Severus' zum anderen Ende des Markplatzes, wo ein paar Bewohner des Dorfes gerade damit beschäftigt waren, Läden zu öffnen und Auslagen nach draußen zu räumen oder Hinweisschilder vor den Eingang zu stellen. Ein Bäcker, ein Metzger, ein Gemischtwarenladen, ein Kurzwarengeschäft. Harry konnte nichts Spektakuläres darunter erkennen, aber dennoch hatte das Dörfchen eine ungemeine Faszination. Gerade das kleine, verschlafene Bild, das es vermittelte, zog Harry immer mehr an und stärkte seine Zukunftsvisionen von einem Leben mit Severus in dieser Abgeschiedenheit.

Auch wenn ihm nur allzu deutlich bewußt war, daß ein Leben mit Severus wohl auch weiterhin eher in Hogwarts als an diesem Ort stattfinden würde, wenn er auch nicht nachvollziehen konnte, was den anderen noch immer dort hielt. Die plötzliche Liebe zum Unterrichten konnte es nicht sein, die Gefahr durch die letzten verbliebenen Todesser war eher gering.

Hatte Severus einfach nur Angst, Hogwarts zu verlassen? Immerhin hatte er schon weit mehr als die Hälfte seines Lebens dort verbracht und zumindest diese Angst konnte Harry ein klein wenig nachvollziehen, wenn er sich die Mühe machte und sich an früher erinnerte. An die Zeit, als er selbst noch alles dafür gegeben hätte, nicht von Hogwarts fort zu müssen.

Harry musterte Severus vorsichtig von der Seite, aber wie immer war im Gesicht des Älteren wenig, was einen Aufschluß darüber gab, was er gerade fühlte. Es gab noch so viel, was er über diesen Mann lernen wollte. Er wollte nicht nur einfach bei ihm sein, seine Zeit mit ihm verbringen und eine Beziehung mit ihm führen. Er wollte auch die Mammutaufgabe bewältigen, Severus wirklich kennen zu lernen.

Im Moment schien ihm dieses Vorhaben noch wie ein unüberwindbar hoher Berg, von dem er nicht wußte, wie er ihn erklimmen sollte. Aber dennoch war er merkwürdig zuversichtlich, daß er einen Weg finden würde.

„Da kommt dieser vermaledeite Bus ja endlich", grummelte Severus, als er das Gefährt um die Ecke biegen sah. Und ein bißchen konnte Harry ja auch verstehen, warum dem Älteren nicht geheuer dabei war, wenn er in diesen Bus steigen sollte. Er war nicht mehr der Jüngste und hätte Harry in den letzten Jahren nicht schon reichlich Erfahrung mit diesen Bussen – auch in dieser Altersklasse – gemacht, wäre es ihm vermutlich ähnlich gegangen.

So aber wußte er es besser und lächelte still vor sich hin, als er hinter dem immer noch grummelnden Severus in den Bus einstieg.

oOoOoOo

Als sie in Porthmadog ankamen, erwachte die Stadt gerade erst richtig zum Leben. Harry, der an das immer wuselnde London schon zu sehr gewöhnt war, war überrascht, daß die Leute hier ihre Geschäfte scheinbar vor zehn Uhr morgens nicht öffneten und selbst dann das eine oder andere Geschäft noch weiter geschlossen blieb. Allerdings konnte das natürlich auch daran liegen, daß gerade keine Touristensaison war. Zumindest blieben aus diesem Grund garantiert die Souvenirläden geschlossen.

„Wie geht es dir, Harry?" fragte Severus besorgt. Harry hatte gar nicht bemerkt, wie Severus jede seiner Bewegungen mit allergrößter Aufmerksamkeit verfolgt hatte und im ersten Moment kam ihm die Frage auch sehr merkwürdig vor.

„Gut, warum?" fragte er stirnrunzelnd zurück. Severus hob knapp die Schultern.

„Ich hatte befürchtet, daß es dir nach über zweieinhalb Monaten allein mit mir vielleicht zu viel werden könnte." Harry lächelte und hakte sich bei Severus ein, der das mit einem winzigen Versteifen seines Rückens quittierte, es ihm sonst aber nicht verwehrte, was Harry ein Gefühl der Zufriedenheit gab.

„Keine Sorge, die Menschenmassen hier werden mich schon nicht umhauen", zwinkerte er Severus zu und wandte im nächsten Moment seine Aufmerksamkeit wieder auf die vielen kleinen Läden, an denen sie vorbei gingen. Ein paar sahen ganz interessant aus, andere dagegen waren wie die vielen Touristenfallen in London. Man konnte sie getrost umgehen.

Severus beobachtete Harry noch ein Weilchen sehr aufmerksam, wenn auch versteckt aus den Augenwinkeln. Er war sich noch nicht ganz schlüssig, ob ihm die Fröhlichkeit des jungen Mannes komisch vorkommen sollte oder nicht, aber er war zumindest mehr als geneigt, sie ihm abzunehmen.

Der heutige Tag war nicht nur dazu da, ein paar Bücher zu kaufen und dafür zu sorgen, daß Harry zur Abwechslung mal wieder ein wenig von der Welt um ihn herum sah. Es sollte gleichzeitig auch ein erster Test sein, wie gut Harry schon wieder damit zurecht kam. Severus hatte nicht erwartet, daß er Angst davor haben würde, erkannt zu werden oder sich unter Muggeln aufzuhalten, aber nach einer so langen Zeit der vollkommenen Isolation wäre es auch nicht verwunderlich gewesen, wenn Harry sich unsicherer gezeigt hätte, als er jetzt war.

Harry schloß die Augen und atmete die kalte, salzige Luft ein, als der Wind ein wenig anhob und den Geruch des Meeres vom Hafen herübertrieb. Durch die höhere Luftfeuchtigkeit erschien er noch kälter und schneidender, aber Severus hatte an diesem Morgen mit Argusaugen darüber gewacht, daß er sich so dick einpackte, daß er sich schon fast wie eine wandelnde Boje vorkam. Da er die Kälte aber noch immer ganz leicht durch seine vielen Pullover, die zwei Hosen und den Wintermantel spüren konnte, mußte er ihm dafür wohl dankbar sein.

„Es ist wunderschön hier. Ich kann mir sogar fast vorstellen, wie es hier aussieht, wenn Sommer ist. Wahrscheinlich stehen dann überall Kästen mit Blumen rum und alles wirkt so malerisch und aufpoliert wie eine lebendig gewordene Postkarte." Severus lächelte schief.

„Das ist die blumige Umschreibung dafür, schätze ich. Aber du hast recht, es hat auch im Sommer einen gewissen Charme, wenn auch vieles nur gemacht wird, weil die Urlauber es so sehen wollen. Bei Gelegenheit werde ich dir Beddgelert zeigen, das Städtchen, das direkt am Fuß des Snowdown liegt. Es ist angeblich die schönste Stadt in ganz Snowdownia."

„Angeblich?" fragte Harry und zog gespielt skeptisch die Augenbraue hoch, eine perfekte Imitation des Originals, das neben ihm herlief.

„Schönheit ist relativ." Harry konnte darüber nur lachen. Ob er den Tag noch einmal erleben würde, an dem Severus an irgend etwas einfach nur ein gutes Haar ließ ohne bösartigen Nachsatz, um sein Image zu bewahren?

oOoOoOo

Der Buchladen, in den Severus ihn führte, war viel größer als Harry erwartet hatte. Das Sortiment konnte durchaus mit denen in London mithalten. So war es auch nicht weiter überraschend, daß er sich ohne Probleme fast zwei Stunden darin aufhalten konnte. Was Harry allerdings verwunderte war die Tatsache, daß es Severus scheinbar ebenso ging, obwohl der Laden nicht ein einziges Buch führte, das nicht von Muggeln für Muggel geschrieben war.

Ob der Zaubertrankmeister wohl doch mehr für sie übrig hatte, als er zugeben wollte? Der Menge an Büchern nach, die sie beide gemeinsam schließlich an der Kasse anhäuften, konnte man den Eindruck leicht bekommen.

„Es ist später geworden, als ich dachte. Wir sollten etwas essen gehen", schlug Severus vor, als sie den Buchladen verließen. Harry nickte, aber er spürte, wie er sich von Minute zu Minute immer bedrückter fühlte. Alles war so schön, so einfach, ja fast langweilig, aber je weiter der Tag fortschritt, desto weniger fühlte es sich real an. Wahrscheinlich grübelte er nur wieder zu viel, aber er wurde das Gefühl einfach nicht mehr los.

Schweigend und bei weitem nicht mehr so fröhlich wie noch einige Stunden zuvor ging er neben Severus her, der auch diesmal scheinbar genau wußte, wo er hinwollte. Harry ließ sich einfach führen und versuchte derweil, seine Gedanken so weit in Ordnung zu bringen, daß er herausfinden konnte, was den Stimmungsumschwung mit sich gebracht hatte.

Die ganze Sache hier war genauso unspektakulär wie er sich sein Leben wünschte, aber etwas störte dennoch ganz gewaltig an dem Bild. Severus paßte einfach nicht in die Rolle, die er hier zu spielen versuchte. Denn so kam es ihm von Minute zu Minute immer mehr vor. Sie hatten kaum ein Wort gewechselt, seit sie in Porthmadog angekommen waren und wenn Harry versuchte, ein ganz normales Gespräch zu beginnen, hatte er den Eindruck, daß Severus – und das klang absolut unglaublich – immer erst überlegte, war Harry hören wollte, bevor er etwas sagte.

Auch das Restaurant, das Severus schließlich aussuchte, paßte hervorragend in das perfekte Weltbild, das in Harrys Kopf herumspukte. Klein, heimelig, irgendwie romantisch. Das legte den Schalter in seinem Kopf um und er wollte dem ganzen Spiel nur noch ein Ende machen.

Gleich nachdem der Kellner die Karten gebracht und die Getränkebestellung entgegen genommen hatte, brach es auch schon aus Harry heraus. Severus hatte schließlich gestern noch gesagt, daß er nichts zurückhalten sollte oder? Irgendwie kam diese Tatsache als Ausrede mehr als gelegen, wenn man nur verschleiern wollte, daß man eigentlich nicht mehr in der Lage war, etwas länger für sich zu behalten, auch wenn es erst kurz in einem vor sich hingebrodelt hatte.

„Was genau machst du hier eigentlich, Severus?" fragte er deshalb ein wenig schroff, wenn auch in einem sehr leisen Ton. Sichtlich überrascht von dieser Frage blickte Severus von der Karte auf.

„Was meinst du?" Harry machte eine ausladende Handbewegung.

„Das alles hier. Es hat ja ganz lustig angefangen, gebe ich zu, aber ich habe das Gefühl, daß du dich gerade ganz gewaltig wegen irgend etwas verbiegst. Was ist los? Warum machst du das?" Severus blickte Harry einen Moment lang ausdruckslos an. Dann klappte er die Speisekarte zu und legte seine Hände darauf, sehr langsam und mit Bedacht, als wolle er dadurch Zeit gewinnen, während die schwarzen Augen Harrys Blick die ganze Zeit über festhielten.

„Du mußt schon etwas präziser werden, wenn ich dich verstehen soll, Harry", entgegnete er mit ein wenig Schärfe in der Stimme. Harry sah das einfach mal als Anzeichen an, daß er Severus ertappt hatte. Er atmete tief durch und wünschte sich mit einem Mal, daß er gar nicht bemerkt hätte, wie falsch sich das alles anfühlte, denn es tat ihm fast leid, diesen Tag, der wohl einmalig hatte werden sollen, so zu torpedieren.

„Du weißt, was ich meine. Du fährst mit dem Bus, du erzählst mir Geschichten zu den Orten in dieser Gegend, als würde es dich wirklich interessieren, mit mir wie ein Tourist durch die Gegend zu fahren und dir alles anzusehen. Du verbringst Stunden im Buchladen und kaufst sogar eine Menge Bücher, obwohl ich bei dir so gut wie keine Muggelbücher gesehen habe, mal abgesehen von denen im hinteren Regal deiner Sammlung. Die werden ihren Platz nicht umsonst haben.

Du bummelst mit mir durch diese Stadt, als wären wir nichts weiter als ein Paar auf einer Shoppingtour. Du suchst ein Restaurant aus, von dem ich mir ziemlich sicher bin, daß es ganz und gar nicht nach deinem Geschmack ist. Und zu allem Überfluß soll ich zu alledem noch denken, es sei vollkommen normal." Severus hatte sich diese Rede ruhig, aber ganz und gar nicht gelassen angehört. Harry wußte nicht, ob er ihm damit vielleicht auf die Füße getreten war, aber mit einem Mal war ihm diese Scharade furchtbar auf die Nerven gegangen.

Seine eigene Sprunghaftigkeit machte ihm irgendwie schon selbst Angst.

„Tut mir leid, daß es dir offensichtlich nicht gefallen hat", entgegnete Severus nach einer Pause, die Harry unendlich vorgekommen war, bitter und wandte sich dann wieder der Speisekarte zu.

„Ist das alles?" fragte Harry verblüfft und gleichzeitig verärgert. Gut, es war vielleicht ein wenig plötzlich gekommen, aber ein wenig mehr hatte er sich dann schon als Antwort erwartet.

„Was möchtest du hören?"

„Genau das nicht. Ich habe schon den ganzen Tag das Gefühl, daß das die einzige Frage ist, die du dir stellst. Was möchte ich hören, wie möchte ich dich haben, was möchte ich, daß du tust." Severus blickte kurz auf, nur für einen Moment, las dann weiter.

„Ich weiß nicht, worüber du dich aufregst."

„Du verstellst dich. Du spielst mir was vor. Ich möchte dich nicht ändern, Severus! Also hör auf, dich auf etwas einzustellen, von dem du glaubst, daß ich es so haben will", Harry wußte, wie verzweifelt seine Stimme mit einem Mal klang, wenn er auch nicht wußte, warum er verzweifelt war. Eine Frau, die unter Hormonschüben litt, konnte sich nicht schlimmer aufführen, als er es im Moment tat, da war er sich ziemlich sicher.

„Und wie, wenn ich fragen darf, soll ich mit dir mithalten und Teil deines Lebens werden, wenn alles so bleibt, wie es ist?" fragte Severus in einem fast schon gefährlich leisen Ton. Harry ließ den Kopf hängen.

„Jetzt bist du böse auf mich. Kein Wunder, ich führe mich ja auch auf wie ein Kleinkind, was?" murmelte Harry und wartete darauf, daß Severus ihm da zustimmte. Konnte ja gar nicht anders sein. Er war aber auch zu albern, wußte nicht, was er wollte, konnte nie mit dem zufrieden sein, was Severus für ihn tat. Überrascht blickte er auf, als Severus über den Tisch hinweg nach seiner Hand griff.

„Ich möchte es doch nur richtig machen, Harry." Harry konnte fühlen, wie ihm mal wieder die Tränen in die Augen schossen, doch diesmal würde er sie nicht fließen lassen. Wenigstens einmal mußte seine Selbstbeherrschung stärker sein.

Wie sollte er Severus erklären, was er wie richtig oder falsch machen konnte? Er war sich im Moment selbst nicht sicher, was richtig oder falsch war. Aber das hier erschien ihm auf einmal so falsch, da konnte er sich nicht helfen.

„Dann tu nicht so, als wärst du ein Muggel oder könntest dich damit anfreunden, dich wie einer zu benehmen. Ich würde das nie von dir verlangen. Du mußt keine Muggelbücher lesen und so tun als würden sie dich wirklich interessieren, nur um dich mir anzupassen oder etwas in der Art. Wir müssen nicht mit dem Bus fahren, wir hätten ebenso gut apparieren können. Du mußt auch nicht für mich den Fremdenführer spielen oder ein Szenario Marke heile Muggelwelt für mich aussuchen. Ich bin doch schon glücklich, wenn du mit mir Zeit verbringst und mich machen läßt, was ich für richtig halte." Severus nickte langsam und bedächtig, bevor ein winziges Lächeln auf seine Lippen zurückkehrte.

„Verrat es keinem weiter, aber ich tue nicht nur so, als würden die Bücher mich interessieren. Ich les sie schon seit meiner Kindheit. – Und was dieses Restaurant angeht. Selbst wenn ich ein anderes gewollt hätte, hier gibt es keins. Und ich habe Hunger. Also werden wir hiermit leben müssen.

Ich will nichts tun, was du nicht möchtest, Harry. Und ich will schon gar nicht selbst zu so etwas wie einem Muggel werden. Ich hab nur manchmal das Gefühl, daß es unweigerlich darauf hinaus läuft."

„Muggelbücher?" fragte Harry skeptisch, bewußt den letzten Teil von Severus' Geständnis ignorierend. Das war etwas, worüber er erst nachdenken mußte.

„Ein paar davon sind wirklich gut, da kann man eigentlich nichts sagen." Severus war froh, als er Harry wieder lächeln sah.

oOoOoOo

War es wirklich unvereinbar miteinander? Sein Leben unter Muggeln als einer von ihnen und Severus' Leben in Hogwarts als Zauberer unter Zauberern? Konnte es da keinen gemeinsamen Nenner geben? Es mußte doch schon vorher Beziehungen zwischen Muggeln und Zauberern gegeben haben, in denen die gleichen Unterschiede aufgetaucht waren. Und irgendwie mußten die sie doch gemeistert haben.

So hoffnungslos wie Severus das ganze sah, konnte es einfach nicht sein. Wenn sich einer zwangsläufig verbiegen mußte, dann stimmte doch grundsätzlich etwas nicht. Er wollte Severus genau so wie er war. Mit allen Ecken und Kanten, mit seinem jetzigen Leben und seiner jetzigen Identität. Er wollte sogar den beißenden Sarkasmus und die Grausamkeit in Severus. Nicht einmal diesen Punkt würde er an ihm ändern, wenn er es könnte.

Harry lehnte sich an die Lehne der Bank vor dem Cottage zurück und starrte hinüber zu dem kleinen Waldstück. Obwohl es schon dunkel war und es kein künstliches Licht hier draußen gab, konnte er die Linie der Bäume ausmachen. Der Mond wurde voller und der Schnee reflektierte genug Licht, um die Dunkelheit wirksam zu durchbrechen. Wenn er seine Augen anstrengte, konnte er sogar Hedwig ausmachen, die gerade vom Wald zurück zum Cottage geflogen kam.

Doch der sternenklare Himmel, der sanft leuchtende Schnee, die friedliches Stille, nichts konnte ihn im Moment von diesen Gedanken ablenken.

Wenig später landete Hedwig neben ihm auf der Bank und begrüßte ihn mit einem zärtlichen Schuhu. Harry lächelte seine treue Eule an und streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu kraulen. Das zufriedene Schnabelklappern zeigte ihm, daß er das richtige tat. Immerhin einmal schaffte er das.

Aber leider löste das noch immer das Problem nicht. Harry war sich fast sicher, daß die Lösung ganz simpel war und man eigentlich sofort drauf kommen mußte. Nur er sah sie mal wieder nicht.

Severus war bereit, Opfer zu bringen, um sich ihm anzunähern. Er hatte Angst, daß sich ihre Wege nicht kreuzen konnten, wenn er das nicht tat. Aber er wollte zu viel ändern, da war Harry sich sicher, auch wenn er heute etwas anderes gehört hatte.

Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war tatsächlich ganz einfach. Lächerlich einfach. Man mußte sich fast schämen, wenn man so lange brauchte, um endlich darauf zu kommen.

oOoOoOo

Severus war schon zu Bett gegangen, als Harry seinen Platz auf der Bank verließ und mit Hedwig ins Haus zurückkehrte. Er hatte länger draußen gesessen, als er gedacht hatte, stellte er nach einem Blick auf die Uhr an der Wand des Wohnzimmers fest. Warum Severus ihn wohl nicht reingeholt hatte?

Leise schlich er ins Schlafzimmer, doch obwohl Severus so tat, wußte Harry sofort, daß der andere nicht schlief. Er hatte ihn also nicht reingeholt, aber offensichtlich trotzdem auf ihn gewartet.

„Du hättest mir sagen sollen, wie spät es ist. Ich hab total die Zeit vergessen", sagte er deshalb, als er unter die Decke kroch und zaghaft an Severus heranrückte. Fast fühlte es sich wieder so an, als wäre das etwas Verbotenes, das man nur mit Vorsicht wagen sollte.

„Ich wollte dich nicht stören. Du hast ausgesehen, als bräuchtest du die Zeit."

„Du warst also draußen?" fragte Harry überrascht.

„Es wundert mich, daß du mich nicht bemerkt hast. Ich war eigentlich nicht sonderlich leise." Harry konnte hören, daß es Severus offensichtlich amüsierte.

„Ich war in Gedanken." Severus drehte sich neben ihm auf die Seite und wandte ihm so das Gesicht zu. In dem wenigen Licht, das von draußen hereinfiel, konnte Harry fast schon seine Züge erkennen.

„Verrätst du mir, was dich so beschäftigt hat? Doch nicht immer noch die Sache von heute mittag?"

„Doch. Ich mußte darüber nachdenken, was du gesagt hast. Darüber daß du glaubst, dich verändern zu müssen." Harry konnte sehen, wie Severus zögerlich nickte. Doch er sagte nichts, wartete scheinbar einfach nur gespannt darauf, zu welchem Ergebnis Harry gekommen war.

„Wahrscheinlich hast du damit wohl recht. Aber ich glaube, daß wir beide uns ein bißchen verändern müssen. Blödsinnig einfach oder?

Ich hab mich darum entschieden, daß ich gleich damit anfangen werde und..." Wollte er das wirklich sagen? Wenn er es aussprach, wurde es real. Dann mußte er es machen. Wenn er es dann noch einmal zurückzog, würde Severus nicht nur einfach enttäuscht von ihm sein.

Harry stieß einen überraschten Laut aus, als Severus ihn ganz unvermittelt in seine Arm zog. Wie selbstverständlich drückte der Ältere Harrys Kopf an seine Brust. Und da war er wieder, der ruhige, stetige Herzschlag, der immer die gleiche Wirkung auf ihn hatte. Er schaffte es, daß Harry seine Gedanken wieder sammeln konnte.

„Vielleicht solltest du jetzt noch nichts versprechen, Harry. Das hat Zeit. Ich habe es überstürzt. Du hast ja recht, wir werden uns beide ein wenig auf den anderen zu bewegen müssen, aber du mußt mir jetzt noch nichts versprechen."

„Du solltest es mir nicht immer so leicht machen", entgegnete Harry mit einem Lächeln. „Aber du hast unrecht, ich muß es dir jetzt versprechen. Wenn ich es jetzt nicht mache, verläßt mich vielleicht der Mut.

Ich werde... den UTZ machen. Und mich darüber erkundigen, was das Ministerium mir für Papiere ausstellen kann, damit ich nicht wieder als vollkommen ungebildeter Idiot dastehe, wenn das geschafft ist. Ich wäre froh, wenn ich das irgendwie machen könnte, ohne gleich der ganzen Welt von meiner Rückkehr erzählen zu müssen. – Aber wenn das notwendig ist, dann von mir aus auch das.

Die ganze Zauberei zum Teufel zu schicken, war sowieso nicht mehr als ein dummer Wunschtraum. Hätte nie geklappt. Und so schlimm ist das ja auch gar nicht."

„Harry..." Severus war sprachlos. Immer wieder hatte er versucht, Harry dazu zu überreden und immer wieder hatten sie deswegen kleinere und größere Auseinandersetzungen gehabt. Und jetzt wollte Harry es tatsächlich tun? Wenn er sich sogar wirklich der ganzen Meute preisgeben wollte, wie er sagte – selbst wenn es nur dann geschah, falls es absolut notwendig war – dann war es für ihn sowieso nicht mehr wirklich möglich, sich komplett zurück zu ziehen. Und er wußte das, da war Severus sich sicher. Es war ihm nicht leicht gefallen, das Versprechen zu geben, das hatte man gemerkt. Und das hieß, daß er sich darüber im Klaren war.

Severus' Arme schlossen sich fester um Harry.

„Keine Angst, ich werde dir helfen. Und wir kriegen das schon hin, daß nicht sofort jeder erfährt, wer du bist. Wir werden mit Professor Dumbledore darüber sprechen, wenn wir wieder in Hogwarts sind." Harry kuschelte sich in Severus' Arme und versuchte, sich wieder etwas zu beruhigen. Es war schon eine enorme Erleichterung, wenn er wirklich nicht offiziell wieder auftauchen mußte, um den UTZ machen zu können, aber dennoch fühlte sich die Entscheidung im Moment noch eine Nummer zu groß an.

Severus war da. Er würde helfen. Das machte Harry ruhiger, wenn auch im Moment noch nicht viel.

oOoOoOo

„Jetzt komm schon raus, du Miesepeter! Wie kann man nur so ein elender Stubenhocker sein?" Ein Schneeball klatschte nah neben Severus' Gesicht an den Rahmen der Eichentür des Cottages, doch Severus verzog keine Miene. Innerlich grinste er wie ein Honigkuchenpferd, aber um keinen Preis der Welt hätte er Harry gezeigt, wie sehr ihn dessen kindlicher Übermut gerade amüsierte. Er wollte es einfach nur genießen.

Harry lachte und streckte ihm die Zunge raus, als Severus nicht einmal mit der Wimper zuckte. Doch er versuchte nicht länger, den anderen nach draußen zu locken. Es war wohl doch nicht so einfach, wie er es sich nach dem ersten Tag hier gedacht hatte.

Obwohl es hellichter Tag und für sie eigentlich Schlafenszeit war, flatterte Hedwig hinter Harry her, als dieser nun nach seinem Besen griff, aufstieg und abhob. Seit sie hier waren, hatte sie ihn nur selten aus den Augen gelassen, gerade so, als wolle sie darauf aufpassen, daß er nicht wieder einfach so verschwand. Harry war irgendwie ein wenig dankbar darüber. Hedwig war nur eine Eule, aber da war eine absolut bedingungslose Zuneigung, die sie ihm auf diese Art und Weise zeigte, die er einfach nur absolut zu schätzen wußte.

„Komm schon, Hedwig, wenn Severus der Spielverderber sein will, dann haben wir eben alleine unseren Spaß!" Hedwig stieß ein Krächzen aus, ob sie zustimmte oder Severus verteidigte, konnte Harry allerdings nicht sagen. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war einzig und allein, daß das Leben mit jedem Tag schöner wurde, den er hier verbrachte.

Als Harry zu einem kleinen Punkt am Horizont zusammenschrumpfte, gestattete Severus dem Lächeln endlich, sich auf seinem Gesicht zu zeigen. Harry Wandlungen von einem Moment zum anderen, waren manchmal unheimlich, aber sie faszinierten ihn auch. Vom verärgerten und später betrübten Harry war heute nichts mehr zu sehen gewesen. Er war wie weggewischt. Statt dessen tobte Harry fast wie ein Kleinkind durch den Schnee.

In Momenten wie diesem konnte Severus fast vergessen, in welch schlechter Verfassung Harry eigentlich immer noch war, noch immer zu dünn, noch immer nicht wieder ganz bei Kräften und wahrscheinlich auch noch immer extrem anfällig für alle Versuchungen. In Momenten wie diesem konnte er sogar fast vergessen, daß das neue Jahr bald anbrach und danach auch schon bald die Schule wieder weitergehen würde. Und mit der Wiederaufnahme des Unterrichts kam unweigerlich der Augenblick immer näher, vor dem er sich in diesem Moment am meisten fürchtete. Die Begegnung mit Sirius.

Vor einigen Tagen noch, hätte er der ganzen Sache viel gelassener ins Auge gesehen. Zwar waren seine Gefühle noch ein einziges Chaos und nichts geklärt gewesen, aber er wäre auch für jedwede Attacke Sirius' gerüstet gewesen. Er hatte nichts getan, was dem anderen Angriffsfläche bieten konnte, hatte nur geholfen, ohne Hintergedanken, ohne dafür etwas zu bekommen.

Jetzt sah das anders aus. Harry hatte den Schritt gemacht, ja. Aber er war darauf eingegangen. Sirius würde es nicht interessieren, wer was angefangen hatte. Er würde nur sehen, was da war und er würde es gegen ihn verwenden wollen. Er würde ihm einen Vorwurf daraus machen und wahrscheinlich behaupten, daß er Harry nur ausnutzte.

Severus hätte alles dafür gegeben, wenn seine innere Stimme ihm in diesem Moment Beistand geleistet hätte, doch die hielt es im Augenblick für besser, ihm vorzuhalten, daß Sirius recht hatte, wenn er das tat. Was hatte er für einen Grund zu glauben, daß er annehmen durfte, was Harry bot. Glaubte er wirklich, er verdiente das?

Severus schloß gequält die Augen und schüttelte den Kopf. Da mußte etwas sein. Harry mußte einen Grund für das haben, was er tat. Wenn er etwas in ihm sah, daß es wert war, geliebt zu werden, konnte es dann nicht sein, daß es auch so war? War es dann nicht vollkommen egal, was andere dachten. Ganz besonders, was Sirius dachte? Sirius hatte doch alles, was er sich wünschen konnte. Ihm hatte man seine Fehler fast schon verziehen. Er hatte mit Remus noch immer einen besten Freund und jetzt mit Charlotte sogar eine Tochter.

Sirius hatte eine Familie und lange Zeit hatte man von ihnen beiden behauptet, Gefolgsleute des Dunklen Lords zu sein. Sie beide hatte man Mörder genannt. Und sie beide waren inzwischen wieder als ehrbare Männer ins Leben zurück gekehrt. Nur ihm nahm man das nicht ab, während Sirius gegenüber nur noch wenige mißtrauisch waren. Der ewige Unterschied zwischen einem Slytherin und einem Gryffindor.

Ja, Severus hatte Angst vor der Begegnung, doch da war auch immer der Gedanke in seinem Hinterkopf, dieser kleine Wille, um das zu kämpfen, was er jetzt hatte. Die Bitte, an welche Macht auch immer, ihm Harry nicht wegzunehmen, Sirius ein Einsehen zu geben.

Doch darauf war nicht wirklich zu hoffen. Sirius und Vernunft, das schloß sich grundsätzlich aus, wenn man Severus fragte. Er konnte nur auf Remus hoffen, daß der ihm glauben würde, wenn er sagte, daß er nur gute Absichten hatte. Remus war der einzige, der auf Sirius wirken konnte, denn man mußte kein Hellseher sein, um jetzt schon zu wissen, daß er auf Harrys Worte keinen Deut geben würde.

Schließlich lebte er seit Wochen bei ihm. Er konnte ihm das Gehirn durcheinander gebracht haben, vielleicht steuerte er ihn auch mit Hilfe irgendeines irren Zaubertrankes. Man wußte ja nie.

Fast mußte Severus lachen. Einzig das Wissen, daß diese Gedanken für einen gewissen Sirius Black gar nicht so abgehoben sein würden, wie sie ihm jetzt erschienen, verhinderten es.

Aber wie es auch kam, Severus wußte eines ganz sicher. Er wollte Harry nicht hergeben, um keinen Preis der Welt. Er würde tun, was er konnte, um Sirius davon zu überzeugen, daß er Harry zu nichts gebracht hatte, zu nichts zwang. Aber er würde ihn nicht hergeben. – Nicht bis zu dem Tag, an dem Harry ihn nicht mehr wollte. Er glaubte noch immer, daß der Tag irgendwann mit Sicherheit kommen würde, aber bis dahin gehörte die Zeit ihm.

Nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen hatte Severus das Gefühl, daß das, was er sich vornahm, eine Nummer zu groß für ihn war.

Hedwigs heiseres Krächzen riß ihn gerade noch rechtzeitig aus seinen Gedanken heraus, daß er ein anderes Gesicht aufsetzen konnte, bevor Harry direkt vor ihm landete. – Und dabei eine gehörige Portion Schnee aufspritzen ließ, die auf Severus herunterrieselte.

„Ha! Jetzt hab ich dich doch noch eingeseift", lachte Harry und stieg von seinem Feuerblitz ab.

„In der Tat."

„Wo du ja jetzt sowieso schon langsam anfängst, naß zu werden, könntest du doch eigentlich auch ein bißchen rauskommen. Sonst schlägst du hier im Hausflur noch Wurzeln oder frierst fest oder so." Severus verschränkte die Arme vor der Brust und verengte die Augenlider ein wenig.

„Nein, ich denke nicht, daß ich das tun werde. Geh und spiel mit deiner Eule, du undankbares Gör." Severus konnte sehen, wie es in Harrys Augen aufblitzte und er ahnte nichts Gutes für sich dabei. Im nächsten Moment hatte Harry sich auf ihn gestürzt und zerrte ihn zur Tür hinaus in den Schnee, der über Nacht wieder reichlich gefallen war und in weiten Teilen um das Haus noch immer makellos flauschig und unberührt aussah. Es war Severus schleierhaft, woher Harry überhaupt die Kraft nahm, aber er schaffte es schließlich und Severus fand sich einige Meter vom sicheren Hausflur entfernt im Schnee liegend wieder. – Ein nicht zu verachtendes Bündel Harry über ihm.

„Das ist ziemlich kalt. Ich würde es sehr schätzen, wenn du von mir runtergehen würdest", murrte Severus, während sich seine Hände wie automatisch auf Harrys Hüften legten. Manchmal war es schon erstaunlich, was für eine unterschiedliche Sprache Mund und Körper doch sprachen.

„Soll ich dafür sorgen, daß dir warm wird?" Da war ein Ton in Harrys Stimme, den Severus noch nie zuvor gehört hatte. Und irgendwie schnürte er ihm ein wenig die Kehle zu vor Überraschung, aber auch vor gespannter Erwartung. Wie magisch angezogen hingen seine Augen an Harrys Lippen, die sich auch wie erwartet schon Sekunden später seinen näherten. Nur einen Moment lang fragte Severus sich, ob Harry diese Stimme bewußt einsetzte, ob er wußte, was sie anrichtete – ob sie vielleicht gelernt war, wie man ein Handwerk lernte. Doch dann waren Harrys Lippen auf seinen und sein mentaler Fuß trat ihm in den Hintern für den Gedanken.

Harrys Lippen waren warm und weich auf seinen und ließen ihn wirklich den kalten Schnee, der ihm eben noch in den Nacken gerieselt war, einfach vergessen. Langsam fanden seine Hände ihren Weg von Harrys Hüften über seinen Rücken zu seinen Schulterblättern. Der perfekte Punkt, um etwas für immer festzuhalten, das niemals enden sollte. Und scheinbar sah Harry das genauso, denn statt daß die Lippen sich wieder von seinen lösten, fühlte er als nächstes Harrys Zunge kurz hervorschnellen. Nur ganz sachte stieß sie Severus' Unterlippe an, verschwand dann wieder, kehrte wenige Augenblicke kurz zurück und wiederholte ihr Spiel. Severus konnte fast fühlen, wie sich seine Gedanken und seine inneren Stimmen diskret zurückzogen, um Platz für diesen Moment zu machen. Einfach perfekt.

„Besser?" fragte Harry nach einem Zeitraum, der wie eine Ewigkeit erschien. Seine Wangen waren leicht gerötet und in seinen Augen konnte Severus den selben wilden Wirbel an Gefühlen erkennen, der gerade in ihm herrschte. Das beruhigte ihn, denn irgendwie hatte er doch noch immer Angst, daß Harry doch nicht so stark empfinden würde, daß er eines Tages aufwachen würde und alles war nur ein Traum.

Vorsichtig glitten seine Hände von Harrys Schulterblättern, strichen über seine Brust, hinauf zu seinem Hals und legten sich schließlich zärtlich auf die Wangen des Jüngeren. Seine Stimme versagte Severus immer noch den Dienst, darum nickte er nur. Doch Harry schien das als Antwort zu reichen.

„Gut", lächelte er zufrieden, drehte leicht das Gesicht und küßte Severus' Handfläche. „Ich habe nämlich nicht vor, dich so schnell wieder ins Haus zu lassen."

oOoOoOo

„Es sieht aus wie ein Engel", bemerkte Harry leicht verwundert, nachdem er fast fünf Minuten lang den Abdruck begutachtet hatte, den er und Severus im Schnee hinterlassen hatten. Es hatte noch eine Weile gedauert, bis Severus ihn endlich überredet hatte, ihn aufstehen zu lassen, doch irgendwann mußte auch Harry einsehen, daß Küssen gegen Minusgrade nicht half. – Nicht auf die Dauer.

„Haben deine Verwandten nie Schnee-Engel mit dir gemacht, als du klein warst?" fragte Severus, während er sich noch immer Schnee von der Kleidung klopfte. Gegen den ganzen Schnee, der sich Zutritt in seine Kleidung verschafft hatte, würde er wohl erst mit einer heißen Dusche und frischen Kleidern etwas ausrichten können. Er fröstelte.

„Soll das ein Witz sein? Meine Verwandten haben mir höchstens gezeigt, wie man Schnee wegschippt. – Außerdem, wann gibt es in der Gegend von Surrey schon mal so viel Schnee? Ich kann mich nicht erinnern." Severus ließ es sich wieder nicht anmerken, doch innerlich schlug er sich selbst auf den Hinterkopf. Was für eine dumme Frage. Natürlich hatten seine Verwandten das nicht getan. Sie hatten nie etwas in dieser Art mit Harry gemacht. Nichts was mit Spaß zu tun hatte. Und er wußte das auch, stellte aber trotzdem immer noch dumme Fragen.

„Tut mir leid", sagte er leise, doch Harry schüttelte den Kopf.

„Nein, schon gut. Mach dir keine Gedanken. Diese Zeit ist so weit weg, es ist schon fast nicht mehr schlimm, wenn ich daran erinnert werde." Severus hörte auf, Schnee von seiner Kleidung zu klopfen. Was machte das bißchen Kälte schon? Statt dessen ging er auf Harry zu und nahm den jungen Mann in den Arm.

„Aber es ist noch immer schlimm. Darum hätte ich besser nachdenken sollen. – Laß uns reingehen, Harry. Ich mach uns einen Tee und vielleicht kommen wir dann heute auch noch auf eine normale Temperatur zurück." Nur zaghaft löste Harry sich von Severus. Ja, es war noch immer schlimm und wenn er ehrlich sein sollte, hatte er nicht das Gefühl, daß er das jemals ganz vergessen oder gar verzeihen konnte, aber es war vorbei und das wußte er. Er mußte lernen, daß die Erinnerung daran nicht mehr länger mehr war als das. Erinnerung. Vorbei. Nicht mehr zu ändern.

Mit Erinnerungen mußte man leben. Entweder man akzeptierte sie oder man tolerierte sie. Und man machte niemandem einen Vorwurf daraus, wenn er ohne Absicht eine solche Erinnerung hervorrief. Harry wollte mit aller Macht stark sein. Stärke war der einzige Weg, der ihn aus seiner eigenen Hölle führte.

oOoOoOo

Harry lag mit dem Kopf auf Severus' Oberschenkel und starrte gedankenverloren ins Feuer. Severus war in eines der Bücher vertieft, die er ein paar Tage zuvor in Porthmadog gekauft hatte, während Harry seinen Gedanken nachhing. Sie hatten schon seit Stunden nicht mehr miteinander gesprochen, aber nicht einen Moment war ihnen die Stille unangenehm vorgekommen.

Hedwig saß auf einer Stuhllehne nah beim Kamin und hatte das weiße Gefieder behaglich aufgeplustert. Eigentlich war jetzt ihre Zeit, um nach draußen zu gehen und zu jagen, doch Harry konnte seiner Eule ansehen, daß sie sich jetzt alles vorstellen konnte, nur keinen Ausflug hinaus in die Kälte.

Harry lächelte. Sie war wohl doch ein wenig zu verwöhnt. Aber warum auch nicht?

Leises Rascheln von Papier über ihm signalisierte Harry, daß wieder eine Seite umgeblättert worden war. Inzwischen war er sich sicher, daß Severus nicht gelogen hatte, als er gesagt hatte, daß Muggelbücher ihn wirklich interessieren. Zumindest gewann man den Eindruck, wenn man sich betrachtete, mit welcher Geschwindigkeit der Stapel mit den ungelesenen Büchern abnahm.

Er selbst war schon den ganzen Tag viel zu unruhig zum Lesen. Am nächsten Tag war schon Silvester und dann würde es nur noch etwa eine Woche dauern, bis sie nach Hogwarts zurückkehrten. Der Gedanke bereitete ihm Bauchschmerzen. Da war so viel, was auf ihn wartete. Nicht nur seine Freunde, sondern jetzt auch das Versprechen, das er Severus gegeben hatte. Er wußte, daß er es wirklich nicht mehr zurücknehmen wollte, auch wenn es ihm noch immer zu groß erschien, aber das half nicht gegen die Vorstellung eines drohenden Berges, der unüberwindbar schien in seiner Größe und ihn noch dazu unter sich zu begraben drohte.

„Was machen wir eigentlich morgen?" fragte Harry schließlich ohne nachzudenken, einfach nur, um sich von den Gedanken, den Bildern abzulenken. Severus blickte ihn einen Moment lang fragend an, dann klappte er sein Buch zu, behielt aber einen Finger zwischen den Seiten, die er gerade gelesen hatte.

„Was meinst du?" fragte er zurück. Harry hob die Schultern.

„Morgen ist Silvester oder nicht?" Severus nickte, noch immer nicht ganz im Klaren, worauf Harry hinauswollte. Der mußte selbst erst einmal einen Moment überlegen.

„Was machen die Leute hier so an Silvester? Gibt es eine Feier im Dorf?" Severus versuchte seine Überraschung über diese Frage zu verbergen. Er hatte nicht erwartet, daß Harry der Sinn nach Feiern stehen würde und hatte daher eigentlich gedacht, daß sie Silvester wie jeden Abend hier verbringen würden.

„Ich denke schon, daß es eine Feier geben wird. Ich weiß nicht", entgegnete er zögerlich.

„Wir könnten hingehen", schlug Harry fast beiläufig vor. Severus kam dieses ganze Gespräch von Minute zu Minute unwirklicher vor. Wollte Harry wirklich auf dieses Dorffest, wenn es denn eines gab? Severus war sich ziemlich sicher, daß es eins geben würde, denn schließlich war die Nacht auf Neujahr in den alten Bräuchen eine wichtige Nacht, eine der wichtigsten des Jahres überhaupt, aber es würde doch sein, wie jedes Fest der Muggel. Zu bunt, zu uninteressant und im Fall von Silvester auch noch viel zu laut.

„Wenn du das möchtest, können wir das tun, sicher."

„Ich weiß nicht, möchtest du?" Severus' rechte Augenbraue schnellte nach oben.

„Harry, was ist los? Du bist so merkwürdig heute abend." Harry hob die Schultern, schaute Severus aber nicht in die Augen. Merkwürdig. Na wenn das nicht sogar noch untertrieben war. Er fühlte sich vor lauter Angst vor dem, was noch Tage entfernt war, so losgelöst, daß er sich nicht einmal mehr selbst sehen konnte.

„Es war nur so eine Idee", wich er der eigentlichen Frage, die hinter Severus' Worten gesteckt hatte, aus und wandte sich wieder dem Feuer zu, als sei dieses Gespräch für ihn damit beendet. Eine Belanglosigkeit, mehr nicht.

Doch so einfach ließ Severus sich nicht abschütteln und Harry hätte es wissen müssen. Er schloß die Augen und hielt die Luft an, als er spürte, wie Severus ihm vorsichtig das Haar aus der Stirn strich und ihn ansah.

„Rede drüber, Harry. Du weißt doch genau, daß das am besten ist."

„Ich weiß nicht, worüber ich reden soll. Da ist einfach nur Angst. Und der Wunsch, der Angst davon zu laufen", gab Harry kleinlaut zu.

„Und du glaubst, daß du der Angst davonlaufen kannst, wenn du dich ablenkst. – Das ist vielleicht an sich gar nicht so dumm." Überrascht blickte Harry nach oben in Severus' Gesicht, das unbewegt, aber warm wirkte. Eine seltene Kombination bei ihm.

„Was du allerdings auf so einem Muggelfest willst..." Harry lachte leise.

„Viel was anderes gibt es hier draußen doch nicht. – Außerdem kannst du vielleicht so etwas von dem schlechten Eindruck wieder gut machen, den du bei den Leuten im Dorf hinterlassen hast." Severus legte den Kopf schief und setzte den skeptischsten Blick auf, den er hinbekam.

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht. – Aber gut, wenn du das möchtest, gehen wir hin. Es wird nicht mehr sein als ein Trinkgelage mit albernem Rumgehüpfe und zum Schluß einer Menge Lärm und billigen Feuertricks. Ganz zu schweigen von diesem unsäglichen Drang, sich in den Arm zu nehmen, als würde man sich schon ewig kennen.

Albus hat ganz ähnliche Anwandlungen zu diesem Tag, auch wenn seine billigen Feuertricks wesentlich spektakulärer wirken." Harry boxte Severus spielerisch in die Seite und kuschelte sich ein wenig enger an ihn.

„Gib's zu, du liebst Albus und seine Marotten. Ohne würde dir was fehlen." Severus schnaubte verächtlich.

„Ich glaube, das ist das dümmste, was du jemals zu mir gesagt hast." Harry lachte.

oOoOoOo

Der Silvestermorgen versprach einen außergewöhnlich schönen, sonnigen Tag. Als Harry erwachte, lag das Schlafzimmer schon im hellsten Sonnenschein und der Himmel, der sich hinter der Fensterscheibe erstreckte war so blau wie selten.

Severus war nicht mehr bei ihm, aber er hatte vermutlich auch sehr lange geschlafen. Die Sonne stand für einen Wintertag schon ziemlich hoch. Harry streckte sich ausgiebig, bevor er das Bett verließ und an das Fenster trat. Der Schnee bot ein spektakuläres Lichtschauspiel, glitzerte und funkelte wie ein Meer von Diamanten.

Oh ja, diese Gegend hier konnte wirklich leicht aussehen, wie eine von diesen aufpolierten Kitschpostkarten, gar kein Zweifel.

Immer noch etwas müde schlurfte Harry zu dem Stuhl, über dem sein Morgenmantel hin und schlüpfte hinein. Severus war es sicher zu langweilig gewesen, zu warten, bis er aufwachte. War ja auch kein Wunder, wenn man bedachte, daß Severus ein absoluter Frühaufsteher war, während Harry langsam wieder zu seiner Gewohnheit zurückkehrte, lange aufzubleiben und bis in den späten Morgen zu schlafen.

Das Positive daran war, daß es auch bedeutete, daß er endlich wieder ruhig schlief. Zwar hatte er noch nicht ausprobiert, ob das auch ohne Severus an seiner Seite funktionierte, da er aber nicht vor hatte, irgendwann noch einmal ohne Severus neben sich zu schlafen, hielt er das auch nicht für notwendig.

Harry lächelte still vor sich hin. Eigentlich konnte er noch immer nicht glauben, was in den letzten paar Tagen so alles passiert war. Sie waren sich ja die ganze Zeit schon so ungewöhnlich nah gewesen, aber er hatte trotz seines mutigen Übergriffes auf den sturen Zaubertrankmeister nie für möglich gehalten, daß sie diese Stufe tatsächlich erreichen konnten. Severus hatte nichts von Liebe gesagt – noch nicht – aber er hatte doch deutlich gemacht, daß er sehr viel für ihn empfand. Wesentlich mehr als einfach nur eine tiefe Freundschaft oder gar eine Verpflichtung, wie auch immer die geartet war.

Severus empfand etwas für ihn, das Harry für sich immer nur Liebe nennen würde, selbst wenn Severus das niemals aussprechen würde. – Was Harry durchaus für wahrscheinlich hielt.

Doch mit diesen neuen Gefühlen, kamen auch die Fragen. Was erwartete Severus von ihm? Bisher hatte er nichts verlangt, kein einziges Mal. Nicht einmal einen Kuß. Was nicht hieß, daß es bisher nur ein paar wenige Küsse gegeben hatte. Harry mußte grinsen. Aber dennoch war es irgendwie immer von ihm ausgegangen oder fühlte sich so an, als habe der Moment es ergeben.

Was also erwartete Severus? Erwartete er überhaupt etwas? War er einfach nur übervorsichtig?

Angst um seine Unschuld konnte er nicht haben. Harry war sich längst sicher, daß Severus mehr ahnte, als er zugab. Adrian würde es ihm niemals verraten haben, aber Severus war ja kein Idiot. Er würde sicher den einen oder anderen Verdacht haben.

Der Gedanke machte Harry Angst. Jetzt hatte Severus noch keine Berührungsangst, aber was geschah, wenn er definitiv erfuhr, mit was er es wirklich zu tun hatte? Würde er ihn dann immer noch haben wollen? Würde er ihn immer noch lieben können? Der letzte Rest des Lächelns verschwand von Harrys Lippen.

Nein, jemand wie Severus konnte doch niemals jemanden wie ihn lieben. Doch irgendwo tief in ihm war noch immer diese kleine hoffnungsvolle Stimme, die ihn in diesem Punkt widersprechen wollte. Severus konnte und Severus würde. Er konnte ihm die Wahrheit sagen. Harry spürte, daß er es sogar mußte, aber solche Wahrheiten mußte man zum richtigen Moment sagen.

Wann war der richtige Moment, dem Mann, den man liebte, zu sagen, daß man ein Straßenstricher war? Harry würgte das bittere Lachen wieder seine Kehle hinunter. Er würde ihn deswegen nicht von sich stoßen. Ganz sicher nicht. Schluß, aus, ende.

Blieb nur noch dieses andere Gefühl, dieses andere Problem. Adrian hatte ihm beigebracht, sich nie für das zu schämen, was er war. So lange er in dieser Welt gelebt hatte, so lange er seine Erinnerungen mit Drogen niederringen konnte, hatte das auch geklappt. Doch jetzt ließ dieses Gefühl nach und er schämte sich sogar ganz gewaltig dafür. Er fühlte sich schmutzig. Und was das schlimmste war, er fühlte diesen unbändigen Drang in sich, Severus von diesem Schmutz fern zu halten.

Das war wieder etwas, was Severus sicherlich über eine gewisse Zeit akzeptieren wollte, aber wie lange sollte das dauern? Irgendwann mußte jede Beziehung doch einmal auf eine andere, auf die nächste Stufe gehen. Konnte er von Severus eine rein platonische Liebe verlangen? Verdammt, er wollte das doch selbst nicht.

Harry raufte sich die Haare. Der Morgen hatte so gut begonnen und innerhalb von Minuten hatte sich alles wieder gedreht. Es war doch nur noch zum Schreien, anders konnte man es schon gar nicht mehr bezeichnen.

Dreck. Dreck war etwas, was nicht festsaß, richtig? Dreck konnte man abwaschen. Irgendwie mußte das doch funktionieren. Wie fing er das an? Severus die Wahrheit sagen? Unmöglich. Er mußte erst einmal selbst damit fertig werden. Bis vor kurzem hatte er das zwar selbst noch nicht gewußt, aber jetzt war das ganz klar.

Mit sich selbst ins Reine kommen und dann den Rest in Angriff nehmen. Severus würde schon da sein, um zu helfen, auch wenn er nicht wußte, wobei. Severus war immer da und das war das absolut beste, was Harry jemals in seinem Leben hätte widerfahren können. Seine Dankbarkeit dafür war so groß, daß es dafür keine passende Umschreibung gab.

Und er würde seine Dankbarkeit auch noch zeigen. Bald.

Mühsam setzte er ein Lächeln auf, bevor er sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte, wo Severus schon mit einem späten Frühstück auf ihn wartete.

„Guten Morgen, Harry", begrüßte er ihn mit einem gutgelaunten Lächeln. Vor ihm auf dem Tisch lag der Tagesprophet ausgebreitet. Es war das erste Mal, daß Harry ihn bei Severus sah. Für gewöhnlich las er diese Zeitung – oder überhaupt eine Zeitung, abgesehen von Magazinen zum Thema Zaubertränke und Forschung – nicht.

„Morgen. Du mußt mich nicht so ewig schlafen lassen", entgegnete Harry und setzte sich an den gedeckten Tisch.

„Warum sollte ich dich wecken? Ich bin doch froh, daß du wieder durchschläfst. Außerdem hatte ich genug Unterhaltung."

„Den Tagespropheten?" fragte Harry skeptisch. Seit seinem vierten Schuljahr war seine Abneigung gegen diese Zeitung von Tag zu Tag nur gewachsen.

„Na ja, das würde ich eher zweifelhafte Unterhaltung nennen. – Nein, ich war im Dorf und habe mich dort erkundigt, ob es heute abend ein Fest gibt." Harry hatte das Gefühl, als würden ihm die Augen aus dem Kopf fallen, als er Severus anstarrte.

„Du warst im Dorf?" fragte er ungläubig und kam sich dabei so unglaublich dämlich vor. Begriffsstutziger, kleiner Harry, dem man alles zweimal sagen mußte, bis er es kapierte.

„Ich kriege kein schlechtes Gewissen, nur weil du so tust, als wäre das das achte Weltwunder", grummelte Severus und nahm einen Schluck von seinem Kaffe. „Aber vielleicht interessiert es dich, daß heute abend tatsächlich ein Tanzfest und ein Feuerwerk stattfinden wird und wir dazu herzlich eingeladen sind. Wenn du möchtest, können wir hingehen." Harrys Augen leuchteten und Severus faßte das als ein Ja auf.

oOoOoOo

Severus wußte nicht wirklich, warum er sich auf diese Sache eingelassen hatte. Auf einem Tanzfest der Muggel den Silvesterabend zu verbringen, stand auf seiner Liste der gewünschten Aktivitäten für diesen Tag sogar noch unter der Feier, die Albus in Hogwarts veranstalten würde. Und das hatte schon etwas zu heißen, denn schließlich waren Feiertage mit Albus mit die infernalischsten Dinge, die Severus sich vorstellen konnte.

Doch Harry brauchte ihn nur anzusehen, das Versprechen auf eines dieser Lächeln mußte nur angedeutet in seinem Blick liegen, und Severus tat es. Er fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis Harry diese Macht über ihn erkannte. Es kam ihm ja jetzt schon alles mehr als nur merkwürdig vor, wenn auch im Moment noch immer die Freude über eines dieser wundersamen Ereignisse alles andere überwog und den jungen Mann deshalb wohl davon abhielt, zu genau darüber nachzudenken.

Severus seufzte und lauschte dem Rauschen der Dusche im Badezimmer. Das würde ein langer Abend werden, so viel stand fest. Und Severus war sich nicht sicher, ob es wirklich so verlaufen würde, wie Harry hoffte. Auf was der andere überhaupt hoffte.

Mal wieder wurde Severus bewußt, in was er sich da Hals über Kopf gestürzt hatte. Die Unterschiede zwischen ihnen beiden waren enorm. Harry konnte sich an so einem Abend amüsieren, er dagegen fühlte sich unwohl. Er wettete darauf, daß Harry ihn bitten würde, mit ihm zu tanzen. Er würde im Traum nicht darauf eingehen. Harry würde mit den Dorfbewohnern in Kontakt kommen. Er würde in einer Ecke sitzen und das ganze beobachten. Wie immer würde schon alleine seine Haltung jeden Menschen mit gesundem Menschenverstand davon abhalten, ihn anzusprechen.

Kurz, er würde Harry die Stimmung an diesem Abend entweder gehörig vermiesen oder Harry würde sich im Laufe der Zeit so weit von ihm lösen, daß er zum Schluß nicht einmal merken würde, wenn Severus ohne ihn nach Hause ginge. – Aber immerhin, diese zweite Möglichkeit bedeutete auch, daß Harry einen guten Abend hatte.

Severus rieb sich über die müden Augen und blickte aus dem Fenster. Draußen dämmerte es bereits, die Dunkelheit würde sich wie immer rasch ausbreiten und dann war der gefürchtete Abend nicht mehr fern. Er war Idiot. Ein alter, liebeskranker Idiot, der sich von ein paar grünen Augen um den Finger winkeln ließ.

Er lächelte. Wenn es sich trotz all der Ängste und Befürchtungen nicht immer auch noch so gut anfühlen würde, hätte er garantiert schon längst die Flucht ergriffen. Doch irgendwie erschien ihm Harry immer wieder viel mehr wert zu sein, als das bißchen Unbehagen. Seine Nähe glich das alles wieder aus, überwog es sogar noch. Das war noch der ungewohnteste Aspekt an dem ganzen Desaster, in das er sich hier irgendwie reinmanövriert hatte. Zumindest konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann ihm das letzte Mal irgend etwas einen solchen Aufwand wert gewesen war.

Im Badezimmer wurde das Wasser abgedreht und keine zwei Minuten später kam Harry mit nassen Haaren und im Bademantel ins Wohnzimmer getapst. Er schenkte Severus ein knappes Lächeln und ging dann schnurstracks auf seinen Stammplatz am Kamin zu.

„So schön dieses Cottage ist, in dem Badezimmer friert man sich den Hintern ab", murrte Harry, während die Wärme des Feuers langsam seine Haut zum Prickeln brachte.

„Du hättest nur einen Ton sagen müssen, ich hätte dir das Bad schon aufgewärmt. Aber wer unbedingt so dickköpfig sein muß, kann ruhig mal ein bißchen frieren." Harry blickte Severus über seine Schulter hinweg an und lächelte schief.

„Ja, ja, so sind sie die dunklen, mysteriösen Typen. Sobald man sie geküßt hat, ist es mit ihrer Führsorge auch schon vorbei. Ich hatte ja schon darauf gehofft, ein wenig Mitleid zu kriegen. – Oder wenn das schon nicht drin ist, dann doch wenigstens ein bißchen Extrawärme", Harry zwinkerte Severus zu, als dieser eine Augenbraue hob.

„Dunkler, mysteriöser Typ?" wiederholte er skeptisch und wenn Harry sich nicht irrte, kletterte die Augenbraue sogar noch ein wenig höher. Wie viele Jahre mußte man seine Gesichtsmuskulatur trainieren, um dieses Level zu erreichen? Harry konnte nur knapp ein Kichern unterdrücken. Der Gedanke war zu albern.

„Wie würdest du dich sonst nennen?" Severus hob die Schultern, kam aber der durch die Blumen ausgesprochen Aufforderung nach, sich zu Harry zu setzen, um ihn zusätzlich zu wärmen.

„Der Typ, mit dem man nichts anfangen sollte, wahrscheinlich. – Du solltest nicht mit nassen Haaren hier rumsitzen, Harry. Du könntest dich erkälten", tadelte Severus leise und konnte dem Drang nicht widerstehen, mit den Fingern durch das nasse Haar zu kämmen und vorsichtig einige der Knoten zu lösen.

„Sag das nicht, Severus", sagte Harry und drehte dem Älteren langsam das Gesicht zu. Mit einem Mal waren die grünen Augen ganz ernst geworden und blickten eindringlich in Severus' schwarze. „Du bist doch das einzige, was mich davon abhält, immer tiefer zu fallen. Keiner außer dir kann das und ich weiß nicht, was passieren würde, wenn du mich abweisen würdest." Eine kühle Hand legte sich auf Severus' Wange. Der Zaubertrankmeister fühlte sich wie erstarrt.

„Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe oder warum du tatsächlich mit jemandem – wie mir zusammen sein möchtest, aber ich sehe das als das größte Glück, das es für mich gibt. Ich wäre mit allem zufrieden gewesen, so lange ich nur in deiner Nähe hätte bleiben können, aber das hier", er strich vorsichtig mit einem Finger über Severus' Wange hinauf zu den Schläfen über die Stirn, die Nase, bis hinunter zu den schmalen Lippen des anderen Mannes, ohne daß Severus sich auch nur rührte, „daß ich das alles machen darf, daß du es zuläßt und vielleicht sogar magst... Kannst du dir denn gar nicht vorstellen, was mir das bedeutet?

Sag nicht, daß du nicht der Typ wärst, mit dem man etwas anfangen sollte. Das stimmt nicht. Für mich bist du sogar noch viel mehr." Harrys Finger lag noch immer auf seinen Lippen, als wollte der Jüngere so verhindern, daß Severus ihm widersprach, doch dieser konnte die Unsicherheit darüber, wie er nun reagieren würde, nicht nur fühlen, sondern auch ganz deutlich sehen. Harry zitterte. Sanft umfaßte Severus Harrys' Hand und schob sie langsam von seinem Gesicht weg. Harry beobachtete jede Bewegung mit Argusaugen.

„Du solltest so etwas nicht sagen, Harry. Mach mir keine Hoffnung darauf, daß das hier dazu bestimmt ist, zu bestehen", flüsterte er kaum hörbar, während er den verblüfften, jungen Mann in seine Arme zog.

Als Harry sich an ihn klammerte, wie ein Ertrinkender an ein rettendes Stück Treibholz, wurde dem Zaubertrankmeister zum ersten Mal wirklich bewußt, wie sehr sich seine eigene Unsicherheit auf Harry auswirkte. Wie auch immer es passiert war, aber er war das Treibholz des Jungen und er mußte ihn irgendwie sicher zurück an Land bringen. Er mußte seine Zweifel aus der Welt räumen. Dieser Berg erschien Severus viel zu riesig, als daß man über ihn hätte hinweg klettern können, doch ganz instinktiv schlossen sich seine Arme fester um Harry.

oOoOoOo

Harry schenkte Severus ein aufmunterndes Lächeln, als dieser kurz vor der Dorfhalle plötzlich stehen blieb und sich keinen Millimeter rührte. Seine Augen waren auf das Gebäude gerichtet, als würde er einen gefährlichen Feind ins Visier nehmen. Und wahrscheinlich war es das für Severus sogar. Aus der Halle drang Lachen und Musik. Sehr ausgelassene Musik. Und die vielen Stimmen, die man hören konnte, ließen darauf schließen, daß das ganze Dorf dort drinnen versammelt war. Harry grinste. Nein, kein guter Ort für Severus Snape.

„Wir können immer noch wieder umdrehen und nach Hause gehen. Ich werde es überleben, keine Sorge", bot Harry dem Älteren ein letztes Mal an. Obwohl er es den ganzen Tag über schon einige Male getan hatte und Severus immer darauf bestanden hatte, sein Versprechen, auf das Fest zu gehen, einzuhalten, rechnete er doch fest damit, daß Severus jetzt endlich darauf eingehen würde. Immerhin, das war definitiv seine letzte Chance, danach mußte er da rein und den Abend durchstehen.

Es war wahrscheinlich wieder hoffnungslos romantisch, aber es reichte Harry vollkommen, zu wissen, daß Severus bereit war, für ihn über seinen Schatten zu springen. Es machte wirklich nichts, wenn er im letzten Moment doch absprang.

„Nein. Nein, wir gehen da jetzt rein. Das ist doch albern. Es ist nur ein dummes Dorffest. Ich habe keine Angst vor dummen Dorffesten, also hör auf, mich so zu behandeln." Harry imitierte Severus' typische Augenbraue, wußte aber in dem Moment auch schon, daß er wirklich nicht mehr war als eine billige Kopie. Wie konnte man auch gegen den Meister in diesem Fach ankommen wollen?

Trotzdem erkannte Severus die Geste als das, was sie war.

„Willst du mich einen Lügner und Feigling nennen, unverschämtes Gör?" Harry mußte bei der unterschwelligen Drohung in der Stimme lachen. Ihr fehlte ihr früherer Ernst, da war kein Biß, nur Wärme, die man nicht hervorbrechen lassen wollte und Zuneigung, die in diesem Moment harsch unterdrückt wurde. Wie konnte Harry da nicht glücklich sein?

„Wie käme ich dazu? Das würde ich mich doch nie wagen. – Ich möchte nur nicht, daß du dich nur für mich durch etwas quälst, was für dich ganz furchtbar ist."

„Ich bin schon ein großer Junge, also mach dir keine Gedanken um mich. – Komm, wir sollten jetzt reingehen, bevor wir noch vermißt werden." Harry sparte sich jeden Kommentar dazu und versuchte, nach Severus' Hand zu greifen. Auch wenn er nicht überrascht war, tat es doch ein bißchen weh, als Severus den Versuch abwehrte. Was hatte Harry erwartet?

Die Gespräche in der Dorfhalle verstummten fast augenblicklich, als die Tür sich öffnete und Severus mit Harry im Schlepptau den Raum betrat. Zwar hatte die Neuigkeit, daß der merkwürdige Einsiedler am Morgen im Dorf gewesen war und sich nach dem Fest erkundigt hatte, die Runde gemacht, aber offensichtlich waren mehr als nur ein paar der Anwesenden überrascht, ihren mysteriösen Nachbarn auch wirklich hier zu sehen.

Harry konnte sehen, wie Severus' Rücken sich bei der plötzlichen Stille noch ein wenig mehr versteifte, aber seine Miene verriet nichts von dem, was gerade in ihm vorging. Sein Gesicht wirkte ruhig und höflich, gerade so, als würde er täglich unter den Einheimischen ein und aus gehen.

„Guten Abend", grüßte er die versammelte Runde. Einige wenige unter ihnen lösten sich damit aus ihrer Starre und gaben den Gruß zurück. Andere starrten noch immer, von überrascht bis mißtrauisch war jeder Blick vertreten.

„Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen", setzte Severus nach, „aber ich hatte es heute morgen so verstanden, als seien wir auch zu diesem Fest eingeladen." Wieder ein kurzer Moment des Schweigens, dann rührte sich plötzlich gar nicht weit von ihnen entfernt jemand. Harry wandte ihm seinen Blick zu. Es war ein eher kleiner, untersetzter Mann, der jetzt auf Severus zu eilte und sich um einen ebenso höflichen und offenen Gesichtsausdruck bemühte. Mit einem Lächeln hielt er Severus die Hand hin.

„Sicher, Mr. Snape. Natürlich sind Sie uns willkommen. Bitte verzeihen Sie die Unhöflichkeit, aber wir sind überrascht. Für gewöhnlich nehmen Sie nicht an unseren Festen teil." Severus ergriff die Hand und schüttelte sie. Nicht zu leicht, aber auch nicht zu heftig. Harry bewunderte Severus immer wieder dafür, wie ausgezeichnet er sich unter Kontrolle hatte, selbst wenn er gerade vor Nervosität zu platzen drohte.

„Ich bin nur selten zu Festtagen hier, Herr Bürgermeister", entgegnete Severus mit absolut neutraler Stimme. Harry konnte sehen, wie erleichtert der Bürgermeister war, als er Severus' Hand loslassen konnte. Mit einem schon viel ehrlicherem Lächeln wandte er sich nun ihm zu.

„Stellen Sie uns doch den jungen Mann vor, Mr. Snape. Es ist das erste Mal, daß sie nicht alleine hergekommen sind." Einen Moment musterte der Bürgermeister Harry von oben bis unten. Harry konnte fühlen, wie er rot wurde, als der andere registrierte, wie dünn er war und daß er noch immer nicht wirklich gesund aussah.

„Ist das womöglich Ihr Sohn?" Harry fühlte sich in dem Moment, als hätte der andere Mann ihm mit seinen Worten einen Schlag in den Magen versetzt. Natürlich wußte er, daß es keine Beleidigung hatte sein sollen, schließlich war er jung genug, um Snapes Sohn zu sein und vermutlich war das auch der erste Schluß, zu dem man kommen konnte, wenn man sie beide zusammen sah, aber es zum ersten Mal ausgesprochen zu hören, war doch etwas ganz Anderes. Es führte Harry zum ersten Mal vor Augen, was er schon die ganze Zeit als unterschwellige Angst in Severus sah. Den Altersunterschied.

Er selbst hatte ihn als unwichtig abgetan, aber offensichtlich hatte Severus recht, wenn er sagte, daß man es bemerken würde und die Leute vermutlich nicht sehr gut darauf reagieren würden, wenn sie die wahre Natur ihrer Beziehung erfuhren.

Harry blickte auf und sah Severus an, doch das Gesicht des Zaubertranklehrers war noch immer so unbewegt, wie eine Minute zuvor.

„Nein. Das ist Harry Potter, einer meiner ehemaligen Schüler und ein sehr guter Freund. – Er erholt sich im Moment von einer sehr schweren Krankheit, deshalb brachte ich ihn hierher." Der Bürgermeister nickte, war scheinbar zufrieden mit dieser Antwort. Doch Harry wußte nicht, ob er Severus dafür danken oder ihn schlagen sollte. Einerseits hatte er jedem potentiellen Schandmaul in diesem Raum gleich eine plausible Erklärung dafür geliefert, daß er noch immer aussah, als hätte man ihn für Monate in einen Keller gesperrt, um ihn dort verhungern zu lassen, aber andererseits war er doch nicht einfach nur ein guter Freund.

Er schloß die Augen, versuchte mühsam, sich Vernunft einzureden. Es war albern, so darauf zu reagieren. Was Severus hier sagte, hatte nichts für sie beide zu bedeuten. Es war nur eine Tarnung, kein Grund in Zweifel oder Wut zu verfallen. Wenn er und Severus wieder alleine waren, würde er nichts mehr leugnen, dann würde er auch für sich die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen. – Es beruhigte ihn nur teilweise.

Die letzten Worte, die Severus und der Bürgermeister gewechselt hatten, hatte Harry gar nicht mehr mitbekommen und als er wieder von seiner inneren Auseinandersetzung in die Realität zurückkehrte, hatten die Menschen um sie herum ihre Gespräche wieder aufgenommen und auch die Musik hatte wieder begonnen zu spielen.

Severus musterte ihn ganz genau und schon wieder fühlte Harry sich durchschaut. Doch der andere sage nichts, als er schließlich an einen der Tische ging, an denen noch Plätze frei waren.

oOoOoOo

Harry forderte ihn nicht zum Tanzen auf. Eine Tatsache, für die Severus mehr als dankbar war, denn seit dem Moment, in dem sie diesen Ort betreten hatten, fühlte er sich sogar noch befangener, als er zunächst vermutet hatte.

Die Frage, ob Harry sein Sohn sei, hatte alle Bedenken und Ängste, die er gerade mühevoll zur Seite geschoben hatte, wieder mit voller Macht auf ihn nieder krachen lassen. Zwar glaubte er, daß außer Harry keiner bemerkt hatte, was diese Frage ausgelöst hatte, und auch seine Antwort darauf war sicherlich nicht die schlechteste gewesen, die ihm hätte einfallen können, aber dennoch fühlte er sich ausgesprochen unwohl.

Harry ging es nicht anders. Er hatte sofort bemerkt, daß dem jungen Mann nicht gefallen hatte, nur als ehemaliger Schüler und Schützung vorgestellt zu werden, doch er war noch nicht bereit, etwas anderes als das zu zeigen. Nicht vor diesen Leuten, die es gar nichts anging, vielleicht überhaupt nicht. Vielleicht nie.

Severus starrte auf die rot-weiß gemusterte Tischdecke auf dem massiven Holztisch und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, seine Miene vollkommen unbewegt erscheinen zu lassen, auch wenn sein Inneres das genaue Gegenteil von Unbewegtheit darstellte.

Er verletzte Harry mit seinem Verhalten. Und er tat es, obwohl es ihm bewußt war. Obwohl er von Anfang gewußt hatte, daß er so sein würde und daß es für Harry nicht das Richtige war. Das war genau das, was er stets hatte kommen sehen und was er nie hatte zulassen wollen. War es jetzt noch rückgängig zu machen?

„Woran denkst du?" fragte Harry leise, die Sorge in seiner Stimme kaum verborgen. Severus blickte auf, genau in die Augen, von denen er schon lange wußte, daß sie sein Verderben waren.

„An nichts Bestimmtes."

„Ich mag diesen Gesichtsausdruck nicht. Ich habe dann immer das Gefühl, daß du mich von etwas ausschließt, bei dem ich auch ein Wörtchen mitreden sollte." Severus fühlte sich ertappt, wenn seine innere Stimme auch im ersten Moment dagegen protestierte, daß Harry da etwas mitzureden hatte. Harry war unvernünftig, schaffte es nicht, gut gegen schlecht abzuwägen, wenn er emotional involviert war... Severus fühlte in sich den Drang, einfach laut loszulachen. Als ob er das so viel besser hinbekommen würde. Er konnte sich einreden, was er wollte, aber er war nicht besser.

„Es ist wirklich nichts, mach dir keine Sorgen." Harry nickte, doch überzeugt war er nicht. Nicht zum ersten Mal fragte Severus sich, wie viel der junge Mann wirklich sah und wie viel er vor ihm verbergen konnte. Er hatte das Gefühl, daß es bei weitem nicht mehr so viel wie früher war.

„Würdest du es mir sagen, wenn da etwas wäre?" Die Bestätigung lag Severus schon auf den Lippen, aber er schaffte es nicht, sie auch auszusprechen. Es war eine Lüge und er war sich sicher, daß Harry das auch sofort erkannt hätte.

„Nein", gab Severus deshalb zu seiner und wohl auch Harrys Überraschung zu. Doch nachdem Harry über seinen ersten Schock hinweg war, nickte er wieder, als habe er es doch irgendwo erwartet.

„Und deshalb glaube ich dir nicht. – Findest du nicht, daß wir daran etwas ändern sollten?"

„Findest du, wir sollten jetzt darüber reden?" fragte Severus wie aus der Pistole geschossen zurück. Er fühlte schon wieder die Luft knistern und mußte kein wirklicher Menschenkenner sein, um zu wissen, daß Harry sich nicht daran stören würde, daß sie diesmal nicht zu Hause in ihrer einsamen Behausung waren, wo sie niemand hören konnte, wenn sie sich mal wieder anschrieen und Dinge sagten, die für die Ohren der Leute, die an diesen Fest teilnahmen, nicht wirklich bestimmt waren.

„Warum nicht?" konterte Harry bereits leicht gereizt. Seine Stimmungsschwankungen waren sogar für ihn überraschend. Bis vor einigen Minuten hatte er nichts weiter vorgehabt, als Severus aus seiner grüblerischen Stimmung herauszuholen und jetzt konnte er fühlen, wie er nicht nur immer mehr in Kampfposition ging, sondern diesen Kampf sogar wirklich wollte. Sich gegen Severus behaupten, ihm erneut ein Stück Boden abjagen und ihm somit zeigen, daß er nicht beschützt und ausgeschlossen werden mußte.

Vielleicht war es kindisch, aber Harry erinnerte sich nur zu gut, was Adrian ihm einmal über eine seiner Beziehungen zu einem viel älteren Mann erzählt hatte – warum sie gescheitert war. Weil er sich dem anderen untergeordnet hatte, nie versucht hatte, sich gegen ihn zu beweisen. Harry wollte ebenbürtig sein, all seine Fehler außer acht gelassen, einfach nur als er selbst genommen, wollte er, daß Severus in ihm einen Partner sah, der selbst für sich entscheiden konnte und der keinen Beschützer brauchte.

Sich gegen einen so starrköpfigen Mann wie den Zaubertrankmeister von Hogwarts zu beweisen, erschien ihm im Moment wie ein Berg, wie er ihn in einer vergleichbaren Höhe noch nie gesehen hatte, aber im Gegensatz zu anderen Bergen, vor denen er in seinem Leben schon gestanden hatte, bot dieser ihm auch etwas im Austausch gegen die Anstrengung, für das es sich allemal lohnte. Severus.

„Nicht hier, nicht jetzt", die samtige Stimme war zu einem frostigen Flüstern geworden, das aber dennoch so gebieterisch war, daß es gar keinen Widerspruch zuließ. Trotz war da allerdings eine ganz andere Sache, wie Harry feststellte, denn dieser wallte jetzt in ihm hoch und ließ ihn die Arme vor der Brust verschränken, während er Severus weiter mit leicht verengten Augen fixierte.

„Du kannst nicht ewig weglaufen." Severus lächelte, lehnte sich ein wenig in seinem Stuhl zurück.

„Diese Worte aus deinem Mund amüsieren mich von mal zu mal mehr, Mr. Potter." Harry kniff die Lippen zusammen, doch er antwortete nichts mehr. Es hatte keinen Sinn, noch nicht. Und es war ganz und gar das Gegenteil von dem, was er sich als den perfekten Start für sie beide in ein neues Jahr vorgestellt hatte.

„Manchmal macht deine Überheblichkeit mich krank", murmelte Harry, bevor er beinahe von seinem Stuhl aufsprang und den Tisch und Severus verließ. Er brauchte Luft, ganz dringend. Er mußte weg von der Spannung und – und das war etwas ganz Neues – er mußte unbedingt weg von Severus.

Einen Moment lang spürte Severus den Drang, Harry aufzuhalten, ihn nicht einfach fliehen zu lassen, doch er unterdrückte ihn und blickte dem jungen Mann statt dessen scheinbar unbeteiligt nach, wie er den Raum durchquerte und sich unter die anderen Dorfbewohner mischte. Es dauerte nicht lange, bis er Harry mit einem jungen Mädchen auf der Tanzfläche wiederfand. Und endlich machte Harry auch das Gesicht, das sich Severus von diesem ganzen grauenvollen Abend erwartet hatte. – Auch wenn er manchmal das Gefühl hatte, daß Harrys Lächeln sehr gekünstelt war.

oOoOoOo

Es gab einige Dinge, die Harry eindeutig lieber mit Frauen als mit Männern machte. Dazu gehörte unter anderem das Tanzen. Seine bisherigen Erfahrungen hatten gezeigt, daß jede Art von Tanz, in der einer den anderen führen mußte, bei zwei männlichen Tanzpartnern meist in eine Katastrophe führte. Ein solcher Tanz war praktisch das Gegenstück zu einer Beziehung, die nicht funktionieren konnte. Hier mußte der eine sich dem anderen unterordnen und selten ging das gut.

Harry brauchte nicht einmal einen Test, um zu wissen, daß es mit Severus wohl nicht funktionieren würde. Er lächelte. Nein, stur und stur konnten nicht miteinander tanzen.

Insofern hatte er mit seiner aktuellen Tanzpartnerin – an ihren Namen konnte er sich schon wieder nicht mehr erinnern, obwohl sie ihn schon mehr als einmal gesagt hatte – eine bessere Wahl getroffen, wenn sie auch auf anderen Gebieten eine herbe Enttäuschung war. Lieb, nett und sogar hübsch war sie, aber dabei auch erschreckend langweilig. Man gewöhnte sich einfach zu schnell an beißenden Sarkasmus, wenn man erst einmal Gefallen daran gefunden hatte.

Fast sehnte Harry sich zu seinem Platz bei Severus zurück, aber noch war er zu wütend und außerdem wäre es noch dazu unhöflich, die junge Frau stehen zu lassen. Sie plapperte irgendwas mit einem wirklich umwerfenden Enthusiasmus vor sich hin. Er hatte nur den Faden schon viel zu lange verloren, um ihr noch folgen zu können.

Harry kam sich vor wie ein Arschloch und wahrscheinlich war er das auch. Sie hatte das nicht verdient.

Als das Lied beendet war, verstummte das kleine Orchester für einen winzigen Moment. Harry überlegte, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, die junge Frau zu ihren Freundinnen zurück zu bringen, die schwatzend am Rand standen und sie beide beobachteten, doch dann setzten die Töne erneut ein und Harry lächelte sein Gegenüber strahlend an.

„Noch einen oder bist du schon aus der Puste?" Sie lachte hell, ihre hellbraunen Augen strahlten.

„Für was hältst du mich? Die Mädchen vom Land haben wesentlich mehr Puste als die verweichlichten Mädels aus der Stadt." Harry hob eine Augenbraue, doch ließ sie keinen Augenblick länger warten. Er brauchte die Ablenkung und er mußte Dampf ablassen. Sie war langweilig, aber sie konnte tanzen, also war sie perfekt für dieses Vorhaben geeignet.

oOoOoOo

Severus fühlte ein merkwürdiges Gefühl, während er Harry und dem Mädchen beim Tanzen zusah. Von Sekunde zu Sekunde wirkte Harry gelöster, sein Lächeln weniger künstlich. Und von Sekunde zu Sekunde wurde dieses Nagen in ihm stärker. Wenn es so weiter ging, dann würde es bald den Punkt erreichen, an dem es ihn explodieren ließ.

Severus kannte eine Menge negativer Gefühle, hatte unendlich viele davon bisher in seinem Leben erfahren, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, daß Eifersucht schon einmal darunter gewesen war. Selbst auf Narcissa war er nie eifersüchtig gewesen. Wie hätte er es auch sein können? Sie hatte vielleicht den Trauschein und einen Sohn von Lucius, aber mehr hatte sie von ihm auch nicht bekommen. Weit weniger, als sie sich vermutlich zunächst von dieser Verbindung erhofft hatte, und eine Tatsache, die Severus stets zu einer grimmigen Zufriedenheit verholfen hatte, die manchmal sogar den Schmerz überdeckt hatte.

Doch auf das junge Mädchen, das da gerade mit seinem Harry tanzte und ihn mit ihren langen Wimpern anklimperte, war er eifersüchtig, obwohl er doch von Anfang an ausgeschlossen hatte, mit Harry zu tanzen.

Es mußte der Streit gewesen sein, den sie nur gerade so noch hatten abwenden können. – Wenn man es so nennen wollte. Zumindest konnte er sich anders nicht erklären, warum er eifersüchtig sein konnte, wenn es doch rein gar keinen Grund gab. Harry und so ein dumpfes, farbloses Landmädchen. Lächerlich.

Und trotzdem konnte er den Blick nicht von den beiden lösen. Trotzdem wurde das nagende Gefühl stärker. Trotzdem spürte er zu seinem eigenen Entsetzen, daß er am liebsten aufstehen und abklatschen wollte. Niemals! Er schüttelte kaum merklich den Kopf, zwang sich, nicht länger hinzusehen. Doch schon im nächsten Moment entwickelten seine Augen wieder einen vollkommen eigenen Willen.

„Scheint ja ein netter Junge zu sein." Im ersten Moment realisierte Severus gar nicht, daß er damit angesprochen worden war. Zu sehr war er noch immer auf Harry und das Mädchen fixiert. Doch als der ältere Mann neben ihm sich nicht gerade dezent räusperte, schaffte Severus es endlich, sich lange genug von den beiden loszureißen, um zu bemerken, daß sich irgendwann in den letzten Minuten jemand neben ihn gesetzt hatte und offensichtlich auf eine Antwort von ihm wartete. – Auf welche Frage auch immer.

Severus schloß für einen winzigen Augenblick die Augen. Harry war sein Untergang. Unter normalen Umständen hätte sich ein gewöhnlicher Muggel niemals einfach so an ihn anschleichen können. – Zumal Severus auch stark vermutete, daß dieser Muggel sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, zu schleichen.

„Haben Sie etwas gesagt?" fragte Severus ein wenig schroffer, als er eigentlich vorgehabt hatte. Doch scheinbar reichte seine Höflichkeit im Moment einfach nicht weiter, selbst wenn es in erster Linie er selbst gewesen war, der sich nicht gerade wie ein guterzogener Junge benommen hatte. Nur mühsam unterdrückte Severus ein Schnauben bei dem Gedanken. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er zu viel Zeit mit Dumbledore verbrachte, wenn er sich in seinen Gedanken inzwischen sogar selbst schon als Junge bezeichnete. War das doch eine Unart, auf die ausschließlich Dumbledore das Monopol hatte.

„Ich sachte, das scheint ein netter Junge zu sein", wiederholte der Alte geduldig, doch Severus konnte fühlen, wie er mehr als nur aufmerksam gemustert wurde. War das eine besondere Marotte von alten Leuten? Dieser ewige Drang, ihr Gegenüber sofort zu durchschauen? Weiser, alter Onkel zu spielen? Wenn Severus es nicht besser gewußt hätte, hätte er vermutet, Dumbledores Bruder gegenüber zu sitzen.

„Er könnte durchaus schlimmer geraten sein", gab Severus in einem wenig interessierten Ton zurück, in der Hoffnung, daß der Alte verstehen würde, daß er nicht dazu aufgelegt war, ein Schwätzchen mit ihm zu halten.

„Is auch ein nettes Mädel. Scheint so, als würde Ihr junger Freund das auch finden." Severus konnte ein leises, verächtliches Schnaufen diesmal nicht zurückhalten.

„Wer sind Sie? Der Großvater des Mädchens auf der Suche nach einem passenden Bräutigam? Oder haben Sie einfach nur Langeweile?" Die müden, braunen Augen des alten Mannes blickten Severus einen Moment lang noch genauer an. Der Ausdruck in ihnen wirkte auf Severus fast traurig, auch wenn er wußte, daß das nicht sein konnte.

„Sie sehen so aus, als könnte man Ihnen mit ein bißchen Gesellschaft eine Freude machen, aber die Leute haben wohl recht. Komischer Kauz, von dem man sich fernhalten sollte, das sind Sie." Severus' Mundwinkel zog sich zu seinem typischen Halblächeln nach oben und ein verächtlicher Ausdruck legte sich über seine Züge.

„Dann rate ich Ihnen, daß Sie ihre großartige Erkenntnis gut in Erinnerung behalten und danach handeln. Ich lege durchaus keinen Wert auf Gesellschaft, die ich mir nicht selbst ausgesucht hab." Wieder dieser traurige Blick, doch dann hob der Alte die Schultern und machte Anstalten, aufzustehen und Severus wieder allein zu lassen. Doch bevor dieser auch nur auf die Idee kommen konnte, erleichtert aufzuatmen, überlegte der Mann es sich scheinbar anders.

„Ich kenne deinen Typ. Is auf die Dauer nicht gut, Junge." Severus zuckte unwillkürlich zusammen. Da war es wieder. ‚Junge', wie widersinnig. Dummer alter Narr.

„Susanna kann nichts dafür, daß du nicht weißt, was du willst. Also mach sie besser nicht dafür verantwortlich." Rekordverdächtig schnell schossen Severus Augenbrauen gen Haaransatz.

„Wofür verantwortlich?" fragte er frostig zurück und fühlte sich gleichzeitig ertappt. Dieser Dumbledore-Klon wurde ihm von Minute zu Minute unheimlicher.

„Das weißt du ganz gut, denk ich." Und als der Alte sich nun endlich wirklich aufmachte, seinen Platz zu verlassen und wieder zu Leuten zurück zu kehren, die seine Anwesenheit ein wenig mehr zu schätzen wußten, fühlte Severus sich so gar nicht erleichtert. Wieder kehrte sein Blick zu Harry und dem Mädchen – Susanna – zurück, gerade in dem Moment, in dem Harry das Mädchen übermütig über den Tanzboden wirbelte.

Sah man es ihm denn so deutlich an? Wann war ihm die Kontrolle so sehr entglitten, daß jetzt sogar schon Wildfremde sahen, was in ihm vorging?

Susanna war aus Severus' Blickfeld komplett verschwunden, als der sich in all seiner Grübelei so sehr auf Harry konzentrierte, daß alles außer dem jungen Mann um sie herum zu einem verschwommenen Brei wurde. Selbst die Geräusche verstummten plötzlich für seine Ohren. Er sah nur noch Harry. Harry, der lächelte, während er sich immer wieder drehte, den Kopf zurück warf, sich in einer beiläufigen Bewegung den Schweiß von der Stirn wischte. Harry, dessen Augen leuchteten und den Severus plötzlich mit einer solchen Vehemenz besitzen wollte, daß es ihm fast Angst machte. Es war wie ein Feuer, das in ihm brannte und ihn verschlingen würde, wenn Harry es nicht unter Kontrolle brachte.

Noch nie hatte er sich so gefühlt. Und obwohl ihm das Gefühl Angst machte, fühlte er nicht einen Augenblick lang das Verlangen, nicht danach zu handeln. Er wollte es zulassen. Zum Teufel mit allen, die sich ihre Mäuler zerreißen würden. Zum Teufel mit Sirius, sollte er doch toben und schreien. Sein alter Schulkamerad hatte noch nie etwas anderes als Wut, Haß und Drohungen für ihn übrig gehabt. Warum sich also davor scheuen, noch mehr davon zu erhalten?

Severus fühlte sich wie ein Jäger, der seine Beute im Visier hielt, bevor er zum Sprung ansetzte und sie packte. Sein ganzer Körper war angespannt und in seinen Augen brannte ein Feuer, das selbst den größten Dummkopf davon abgehalten hätte, ihn ausgerechnet jetzt zu behelligen.

Grüne Augen lösten sich plötzlich von dem Mädchen und blickten in seine Richtung. Ihre Blicke trafen sich und Severus konnte sehen, daß Harry etwas in seinem Gesicht erkannte, daß er dort nicht erwartet hatte, denn sofort war das Lächeln einem fragenden Erstaunen gewichten, einer zarten Hoffnung.

Ohne seinen Blick von Harry zu lösen, stand Severus auf, machte einige Schritte auf den Ausgang zu. Dann schließlich brach er den Blickkontakt und verließ den großen Festsaal. Er war sich sicher, daß Harry folgen würde. Er würde Fragen haben und Severus wollte sie beantworten, bevor er es sich womöglich anders überlegte und die Entschlossenheit verlosch.

oOoOoOo

Harry hatte die ganze Zeit über gespürt, daß Severus ihn beobachtete. Aber nachdem seinen anfängliche Wut verraucht war, hatte ihn das nicht mehr gestört. Sollte der sture Kerl ruhig so viele tödliche Pfeile in seine Richtung schießen, wie er wollte. Er hatte ihn an diesem Abend hierher gebracht, damit er Spaß hatte und Harry sollte verdammt sein, wenn er den nicht haben würde. Ein bitterer Nachgeschmack blieb zwar dennoch die ganze Zeit zurück, aber es konnte schließlich nicht alles perfekt sein. Mit ein paar Abstrichen konnte er leben.

Doch dann hatte sich etwas an der Atmosphäre im Raum geändert. Er fühlte etwas, von dem er sich sicher war, daß es außer ihm keiner spürte. Es war das Gefühl, daß er damals gehabt hatte, als er zum ersten Mal seinen Zauberstab im Mr. Ollivanders Laden in der Hand gehabt hatte. Dieses Gefühl von Magie, von Macht, die nach einem griff.

Nur war es diesmal nicht seine eigene Magie, die durch den neu erworbenen Zauberstab zum ersten Mal gezielt kanalisiert wurde. Es war Severus' Magie, die sich um ihn legte wie eine Decke, ihn abschirmte, vor wem oder was auch immer.

Verblüfft wandte er sich nach Severus um, der noch immer unverändert am selben Platz saß wie vor einer scheinbaren Ewigkeit schon, als Harry davon gestürmt war, um sich abzureagieren. Doch sonst war definitiv nichts wie sonst. Severus Augen fesselten ihn, ließen ihn nicht mehr los. Und als er schließlich aufstand und auf den Ausgang zusteuerte, war die Aufforderung, ihm zu folgen, nicht zu übersehen gewesen.

Völlig ohne Vorwarnung hielt Harry in der Bewegung inne.

„Entschuldige mich bitte", murmelte er der überraschten Susanna zu, sein Blick hing aber noch immer an Severus, der in dem Moment nach draußen verschwand. Wie magisch angezogen folgte Harry ihm und ließ eine kopfschüttelnde und leicht beleidigte Susanna zurück, die nicht verstehen konnte, warum sie so plötzlich einfach abserviert wurde.

oOoOoOo

Harry hatte kaum einen Fuß aus der Tür gesetzt, als er am Handgelenk gepackt und in den Schatten gezogen wurde, der inzwischen über dem ganzen Dorf lag, da die Straßenbeleuchtung bereits vor Stunden abgeschaltet worden war.

Harry fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte ein wenig schneller schlug. Was war plötzlich in Severus gefahren? Ein wenig unsanft wurde er gegen die Wand gedrückt und fühlte mehr, als das er sah, wie Severus zweite Hand sich genau neben seinem Gesicht an die Wand legte. Die ganze Situation hatte etwas extrem Befremdliches, aber es war auch aufregend, etwas, was er in seinem ganzen Leben nicht von Severus erwartet hatte.

Severus konnte fühlen, wie Harry sich anspannte, sich ein wenig gegen seine Hand auflehnte, die noch immer Harrys Handgelenk festhielt und gegen die Wand drückte. Doch er leistete keinen wirklichen Widerstand. Es wirkte auf Severus mehr wie ein Versuch, die Form zu wahren, ein Teil eines Rollenspieles. Und vielleicht war es auch genau das, denn Severus konnte nicht leugnen, daß er sich selbst überraschte, mit dem, was er hier tat. Auch wenn es sich im Moment absolut richtig anfühlte.

Er kam so nah an Harry heran, daß ihre Körper sich berührten und er den Atem des jüngeren an seinem Hals fühlen konnte. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die absolute Dunkelheit, auch wenn er nicht mehr sehen konnte als einige wenige Kontraste und ein sehr schwaches Glänzen, das von Harrys Augen ausging. Ganz langsam näherte er sich mit seinem Gesicht Harrys, bis ihre Wangen sich berührten.

„Meins", kam es fast knurrend über Severus' Lippen. Und obwohl er nur dieses eine Worte sagte, verstand Harry augenblicklich die gesamte Bedeutung dahinter. Und diese Erkenntnis ließ sein Herz erneut springen. Ein glückliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er war froh, daß Severus es nicht sehen konnte.

„Deins", bestätigte er schließlich ein wenig atemlos.

„Das wollte ich nur klar gestellt haben", murmelte Severus bevor er seine Wange von der Harrys löste und sich einer dringenderen Aufgabe zuwandte.

Harry entglitt ein überraschter Laut, als er plötzlich Severus' Lippen auf seinen spürte. Der Ältere hatte wohl vor, ihn an diesem Abend so oft zu überraschen, bis es schließlich zu viel für seinen Verstand wurde und er sich vollends verabschiedete. Nur so konnte er sich zumindest erklären, daß dies nicht nur der erste Kuß war, der jemals von Severus initialisiert worden war, sondern dieser Kuß auch noch so vollkommen anders war, als er es sich die ganze Zeit über vorgestellt hatte.

Severus war stets so vorsichtig und besorgt um ihn, daß er wirklich geglaubt hatte, auch der erste Kuß, den Severus ihm von sich aus geben würde, würde so vorsichtig und fast schon zurückhaltend sein. Doch er war das genaue Gegenteil. Aggressiv, fordernd, besitzergreifend und Harry war sich sicher, er hätte niemals perfekter sein können. Augenblicklich vergaß er, wie sehr es ihn verletzt hatte, als Severus seine Hand abgeschüttelt hatte, als er ihn als einen ehemaligen Schüler vorgestellt hatte.

Das war so vollkommen egal, wenn darauf immer ein solcher Beweis folgte, wie Severus ihn ihm jetzt lieferte.

Harry leistete keinen Widerstand, als Severus freie Hand nach seiner tastete, sie ebenfalls packte und nach oben zu der anderen führte, die sich nach wie vor Severus' Griff befand, der einer Eisenklammer glich.

„Meins", flüsterte Severus erneut, als er von Harrys Lippen abließ und sich dessen Hals zuwandte. Harrys einzige Antwort war diesmal ein Keuchen, als Severus nicht ganz so zärtlich zubiß und anschließend an der Stelle saugte, bis sich garantiert ein Prachtexemplar von einem Knutschfleck gebildet hatte.

Doch Harry konnte sich noch nicht einmal daran stören, daß diese Aktion an die Brandmarkung eines Pferdes erinnerte. In diesem Moment war es für ihn einfach das Perfekteste der Welt.

oOoOoOo

„Wir hätten uns wenigstens von ihnen verabschieden sollen", rügte Harry Severus, als sie schon wenig später auf der Bank vor dem Cottage saßen und darauf warteten, daß im Dorf die Glocken das neue Jahr einläuten würden.

„Sie werden froh sein, mich los zu sein", bemerkte Severus desinteressiert. Er war zu sehr damit beschäftigt, erstaunt Revue passieren zu lassen, was er vor einer knappen halben Stunde getan hatte und warum es sich nun tatsächlich so anfühlte, als würde der junge Mann in seinen Armen ihm gehören, um sich wirklich Gedanken über die Dorfbewohner zu machen, die ihn ja nun wirklich keinen Deut interessierten.

Das Kaminfeuer, das im Haus brannte, warf einen schwachen Lichtschimmer durch die Fenster nach draußen und Severus konnte nur zu deutlich den dunklen Fleck an Harrys Hals erkennen. Doch obwohl das etwas sehr Primitives gewesen war, konnte er darüber nur lächeln. Harry schien es nichts auszumachen und ihn machte dieser Fleck irgendwie merkwürdig stolz. Harry war sein.

Das entfernte Läuten der Kirchenglocken und die bunten Explosionen des Feuerwerks begrüßten schließlich das neue Jahr. Und während das ganze Dorf wohl noch immer ausgelassen feierte, saßen die beiden Zauberer schweigend auf der Bank. Sie mußten nichts sagen, mußten nichts tun. Zum ersten Mal seit sie sich kannten, hatten sie alles geklärt, was in diesem Moment wichtig war.