IIFaramir

Es dauerte knapp drei Tage, bis ich die Grenzen des Steinlandes Gondor erreichte und nocheinmal zwei Tage, bis schließlich die Weiße Stadt Minas Tirith hinter den Hügeln auftauchte. Weit im Süden ragten die Spitzen des Aschengebirges in den Himmel; noch war es ruhig im Lande Mordor.

Die Tore der weißen Stadt Minas Tirith standen offen, als ich die Stadt erreichte. Die ehemalige Königsstadt war in den Mindolluin-Berg hineingebaut worden; in mehreren Stockwerken ragte sie bis zur Bergspitze. Als Elenath die Stockwerke erklomm, sahen mir die Bewohner der Stadt interessiert nach; noch waren sie offen für Besucher jedes Volkes und Elenaths edle Erscheinung faszinierte sie.

Als ich das letzte „Stockwerk" erreichte, wurde Elenath langsamer. In der Mitte des zu einer Spitze langgezogenen Platzes stand ein Baum; es war der weiße Baum des früheren Herrschers Ecthelion. Glitzernd weiß stand er da im Licht der Sonne und begrüßte jeden Besucher der weißen Stadt mit glitzernden Strahlen.

Ich sprang von Elenaths Rücken und zog die Zügel über den Kopf meiner Stute. Ein Bewohner der weißen Stadt kam auf mich zu.

„Willkommen, Fremde, in der weißen Stadt", sagte der junge Mann, der vor mir stand. „Ich bin Fariel, der Hüter des Stalles. Wollt Ihr mir euer Pferd anvertrauen?"

„Danke", sagte ich und reichte ihm die Zügel. „Gebt ihr etwas zu trinken, sie braucht etwas Ruhe."

„Natürlich", sagte der Stallhüter. „Ich werde mich um euer Pferd kümmern. Wollt ihr zu unserem Herrscher?"

„Wenn es möglich ist, ja", sagte ich. „Empfängt Denethor Besucher aus Lórien?"

„Ihr seid eine Elbin", sagte der Stallhüter bewundernd. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Natürlich, die Elben aus dem Norden sind uns immer willkommen. Wartet einen Augenblick, Boromir, der ältere Sohn des Truchsess, wird euch empfangen. Er ist bereits unterwegs."

„Danke", wiederholte ich einfach und lächelte.

Die Tore zum Thronsaal der weißen Stadt öffneten sich und Boromir trat heraus. Als er mich sah, lächelte er und kam auf mich zu.

„Seid willkommen in der weißen Stadt der Könige", sagte er. „Nennt Ihr mir Euren Namen?"

„Man nennt mich Belen", sagte ich. „Ihr müsst Boromir sein."

„Ja, der bin ich", sagte Boromir. „Wer schickt Euch?"

„Ich bringe Nachrichten aus Bruchtal und Lórien", sagte ich. „Die Elben des Nordens wollen den Menschen im Süden ihre Hilfe anbieten. Ich würde gerne mit Eurem Vater sprechen."

„Natürlich", sagte Boromir. „Folgt mir. Vater weiß bereits von Eurem Kommen. Ihr sollt große Heilkräfte besitzen, heißt es."

Wir gingen auf den Thronsaal zu. Boromir stieß das Tor auf und sagte dann laut:

„Frau Belen aus Lórien ist eingetroffen, Vater. Sie wünscht dich zu sprechen."

„Herzlich willkommen, meine Königin", scholl es mir entgegen. „Ich bin froh, dass die Elben unseren Hilferuf gehört haben."

Wir schritten den langen Gang bis zum Thron entlang. Ein weiterer junger Krieger saß an einem Tisch. Er sah Boromir sehr ähnlich, hatte wie Boromir schulterlanges blondes Haar und die edlen Gesichszüge der Dunedain. Als ich ihm in die Augen sah, fühlte ich, wie mein Herz einen Sprung machte. Was ich in seinen Augen sah, ließ mich innerlich erschüttern. Mutlosigkeit und Resignation lag in ihnen; doch da war noch etwas anderes, das ich nicht zuordnen konnte. Er faszinierte mich, und ohne dass ich es wollte, konnte ich meine Augen nicht von ihm wenden.

Er war Faramir, der jüngere Bruder Boromirs und also auch der jüngste Sohn des Truchsessen Denethor. Als Faramir mich sah, war es auch um ihn geschehen. Meine Schönheit faszinierte ihn. Lange, pechschwarze Haare fielen gelockt auf meinen Rücken. Ich trug ein enges, langes Kleid und einen Umhang, die meine schlanke Figur betonten. Doch das alles interessierte Faramir nur nebensächlich. Es waren meine dunklen Augen, die tiefe Traurigkeit, Einsamkeit und Unruhe ausdrückten. Er begann sich zu fragen, was es bedeutete, was mich so traurig erscheinen ließ. Verzweifelt suchte er ein anderes Ziel für seine Augen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

„Ich bringe Nachrichten aus Lórien und Bruchtal", sagte ich und verbeugte mich leicht vor Denethor. Endlich hatte ich es geschafft, meine Augen von Faramir zu wenden. „Seit jeher bestand Freundschaft zwischen den Elben und den Menschen. Wir wollen, dass diese Freundschaft weiterhin besteht. Hiermit biete ich Euch meine Heilkräfte an. Es soll ein Zeichen sein, dass die Völker Mittelerdes zusammenhalten und Streit und Zwietracht keine Zukunft finden in der Welt der Menschen und Elben."

„Das ist ein großes Geschenk", sagte Denethor. „Wir nehmen es dankend an. Fühlt Euch wie zu Hause. Die Türen der Weißen Stadt stehen Euch offen. Ich hoffe, Ihr bleibt recht lange."

„Das werde ich sicher", sagte ich. „Danke, Denethor. Ich werde den Helfern in den Häusern der Heilung zur Seite stehen. Noch scheint alles ruhig zu sein in Mordor."

„Hoffen wir, dass es so bleibt", sagte Denethor. „Nun, Boromir habt Ihr ja schon kennengelernt. Dort drüben sitzt Faramir, mein jüngster Sohn. Ihr müsst hungrig sein. Boromir, zeigt Belen zunächst ihr Haus, dann möchte ich Euch heute Abend zum Essen einladen."

„Ich werde gerne kommen", sagte ich. „Aber vorher möchte ich noch kurz die Häuser der Heilung aufsuchen. Sie sollen wissen, dass Hilfe gekommen ist."

„Wir zeigen Euch zunächst Euer Haus", schlug Boromir vor, „dann zeigen wir Euch ein wenig die Stadt und die Häuser der Heilung. Einverstanden?"

„Prima", sagte ich.

„Na los, Bruder, du darfst auch mitkommen", lachte Boromir.

Faramir kam und verbeugte sich leicht. „Mein Bruder", grinste Boromir. „Manchmal verschlägt es ihm die Sprache, wenn er schöne Frauen sieht. Nicht wahr, Bruderherz?"

Faramir warf Boromir einen bösen Blick zu und sagte dann: „Hört nicht auf ihn, er redet nur Unsinn. Können wir endlich, Bruder?"

„Wir warten nur noch auf dich", grinste Boromir. „Also los. Bis später, Vater."

Denethor lächelte und wir verließen den Thronsaal.