Celebne: Tja, Denethor wird das ganz sicher nicht gefallen. Doch zunächst einmal muss Belen ihre Aufgaben wahrnehmen und sich natürlich ein bisschen einleben in der Stadt der Könige.

Der erste Tag in der Stadt der Könige

„Seid Ihr überhaupt nicht müde?" fragte Boromir, als wir die oberste „Etage" der weißen Stadt verließen. „Nach so einer langen Reise wollt Ihr doch bestimmt erst einmal Eure Ruhe haben."

„Ich bin nicht hierher gekommen, um auszuruhen", sagte ich lächelnd. „Ich habe heute Nacht gut und lange gerastet. Zwar ohne zu schlafen, aber ich habe doch ausgeruht und das genügt für's erste. Ihr seid Brüder?"

„Ja, ich bin der ältere", erzählte Boromir. Faramir suchte immer noch ziemlich verzweifelt nach seiner Sprache. „Aber Faramir ist der schlauere von uns beiden. Er ist der bessere Heerführer."

„Unsinn", sagte Faramir und errötete bis unter die Ohren. Endlich hatte er seine Sprache wiedergefunden. „Glaubt ihm kein Wort."

„Oh doch", sagte Boromir. „Ich bin der Kämpfer, du bist der Denker. So, hier ist Euer Haus. Wenn Ihr näher an den Häusern der Heilung wohnen wollt, müsst Ihr Bescheid sagen."

„Nein, das ist sehr schön", sagte ich. Wir betraten das kleine Haus. Es hatte zwei Stockwerke und war aus schönem weißem Stein gebaut. Innen traten wir zuerst in das Wohnzimmer. Ein großer Kamin stand an der einen Wand, eine Sofaecke und mehrere Regale schmückten den Raum. Noch wirkte er etwas kahl, aber das würde ich zu ändern wissen.

In der kleinen Küche fehlte es ebenfalls an nichts. Boromir zeigte mir noch das Schlafzimmer und das Badezimmer, die im ersten Stock lagen. Ich trat ans Fenster im Schlafzimmer. Der Blick führte weit über das Land Gondor. Weit im Süden ragte das Aschengebirge in den Himmel.

„Wollt Ihr die Häuser der Heilung gleich besichtigen?" Irgendwie schien Boromir nicht zu verstehen, dass ich überhaupt nicht müde war. Ich lächelte.

„Natürlich", sagte ich. „Gehen wir?"

Draußen sagte ich: „Das schwarze Land ist sehr nahe. Gibt es etwas Neues aus Mordor?"

„Wir hören nichts", sagte Boromir. „Die Grenzen sind noch sicher. Wir werden aber bald losziehen müssen und zumindest die Wachen in Osgiliath sichern. Auch Ithilien ist wichtig für uns. Glaubt Ihr, dass etwas geschehen wird in Mordor?"

„Ich weiß es nicht sicher", sagte ich. „Es sind nur Gefühle, wir werden sehen. Jedenfalls ist es wichtig, dass die Völker Mittelerdes zusammenhalten."

„Ja, das ist sehr wichtig", meinte Faramir. „Ihr kommt aus Lórien, habt Ihr gesagt? Dann kennt ihr bestimmt Gandalf den Zauberer."

„Oh ja", sagte ich. „Er war oft in Lórien und ich habe eine Zeitlang in Bruchtal verbracht. Er hat selten Zeit, länger zu bleiben."

„Tja, deshalb hoffen wir, dass Ihr länger bleibt", sagte Faramir. „Reisende aus dem Norden bleiben selten lange in Minas Tirith. Die Nähe des schwarzen Landes macht Besuchern Angst."

„Ich bin nicht gekommen, um gleich wieder fortzugehen", sagte ich freundlich. „Diese Freundschaft macht uns allen Mut und gibt Kraft."

„Die Häuser der Heilung", sagte Boromir.

Wir betraten die Häuser, die in ganz Mittelerde bekannt waren als die edelsten Häuser, in denen Verletzte gepflegt und behandelt wurden. Boromir stellte mich dem Chefarzt vor, dem Kräutermeister. Er war begeistert von meinem Kommen und führte mich gleich weiter. Ich lernte ihn als gelehrten Mann kennen, der viel wusste und meist sachlich blieb; an Altweibersprüche glaubte er nicht.

Etwa zwei Stunden später entließ mich der Kräutermeister und ich ging zunächst zu meinem kleinen Haus zurück. Faramirs traurige Augen gingen mir nicht aus dem Sinn. Ich hoffte, ich würde eine Gelegenheit bekommen, länger mit ihm zu sprechen; ich wollte erfahren, was ihn so quälte.

Der Blick aus meinem Schlafzimmerfenster auf das schwarze Land weit im Süden bereitete mir Sorgen. Ich hoffte, ich würde Schlaf finden, doch in den letzten Nächten hatte ich wenigstens ein paar Stunden schlafen können. Mir fiel ein, dass ich noch nicht nach Elenath geschaut hatte und schnell machte ich mich für das Abendessen mit Denethor und seinen Söhnen fertig.

Mein Pferd kaute zufrieden auf einem Stück Heu, als ich in die Stallungen von Minas Tirith trat. Ich blieb eine Weile bei Elenath und streichelte sie, bis es Zeit wurde, zum Abendessen in den Thronsaal zu gehen.

Boromir empfing mich am Tor zum Thronsaal und sagte:

„Schön, dass Ihr gekommen seid. Kommt herein."

„Habt Ihr schon auf mich gewartet?" fragte ich und folgte Boromir.

„Nein, Faramir und ich waren noch draußen bei den Wachen", sagte Boromir. „Orks haben die Grenzen in Ithilien angegriffen. Ein wilder Haufen, der schnell zurückgeschlagen war – dennoch, das ist etwas Neues."

„Kein Grund zur Sorge", sagte Denethor und begrüßte mich freundlich. „Unsere Grenzen sind sicher. Die Orks können kommen, wenn sie weiter so herrenlos herumirren. Dann haben wir leichtes Spiel mit ihnen."

„Solange es nur Orks sind, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen", meinte Boromir. „Setzt euch, Faramir kommt auch gleich. Ihr müsst hungrig sein."

„Es geht", lächelte ich. „Ich hoffe, Ihr habt Euch wegen mir keine Umstände gemacht."

„Ihr seid unser Gast", sagte Denethor nur. „Menschenskinder, wo bleibt Faramir bloß? Unpünktlichkeit sollte nicht auch noch zu seinen schlechten Eigenschaften dazukommen."

„Ich bin schon da, Vater", sagte Faramir. Wieder lag ein trauriger Ausdruck in seinen Augen. „Hallo, Belen. Ich darf doch Belen sagen, oder?"

„Natürlich", sagte ich lächelnd. „Wir sollten die Förmlichkeiten sowieso lassen, ich bin kein Freund davon."

„Von mir aus gerne", sagte Denethor und hob den Weinkelch. „Lasst uns trinken auf die Freundschaft. Auf dass sie ein Wegbegleiter für lange Zeit bleibe."

Es wurde ein schönes, ruhiges Abendessen. Ich spürte jedoch eine gewisse Kälte, die ganz speziell das Verhältnis zwischen Denethor und seinem jüngeren Sohn Faramir herrschte. Das machte mich neugierig. Ich beschloss, dem nachzugehen; vielleicht war das der Grund, warum Faramir oft so traurig dreinschaute. Während des Essens hielt er sich zurück, sprach wenig und wagte es nicht mehr, mir in die Augen zu schauen. Boromir wollte natürlich viel über die Länder im Norden wissen; interessiert lauschte er meinen Erzählungen über meine Erlebnisse in Bruchtal.

Nach dem Essen sagte Denethor: „Tja, nun entschuldigt mich bitte. Ich habe noch einiges zu tun, bevor ich mich für heute ausruhen kann. Ich wünsche eine Gute Nacht und hoffe, Ihr könnt ein wenig ausruhen von der langen Reise."

„Danke schön, das hoffe ich auch", sagte ich. „Begleitet ihr mich noch ein Stück, Boromir?"

„Wenn du das möchtest", sagte Boromir. Er gewöhnte sich nur langsam an die Formlosigkeit. Immerhin saß er einer Elbenfürstin gegenüber und es war ihm äußerst unangenehm, völlig „normal" mit mir umzugehen.

„Boromir, da muss ich leider dazwischengehen", sagte Denethor. „Tut mir leid, aber ich brauche dich. Wir müssen die weiteren Vorgänge für die Grenzen durchgehen. Es gefällt mir gar nicht, dass herrenlose Orks uns das Leben schwer machen wollen. Faramir kann Euch begleiten, Herrin."

„Wenn Euch das nicht unangenehm ist", fügte Faramir rasch hinzu.

Ich lächelte und sagte: „Nein, um Himmels willen."

Als wir draußen standen, sagte ich: „Zeigst du mir noch ein wenig die Stadt? Ich bin noch zu aufgewühlt, um schlafen zu gehen."

„Klar", sagte Faramir. „Das ist bewundernswert, dass Ihr … du nicht müde bist. Ich meine, nach so einer langen Reise."

„Naja, ich bin es gewohnt, lange unterwegs zu sein", sagte ich. „Es macht mir nichts aus. Warum warst du so still vorhin beim Essen?"

Faramir senkte die Augen. „Naja, es war mir nicht gestattet, viel mit dir zu reden", sagte er dann. „Du musst wissen, Boromir ist der ältere von uns beiden. Klar, das weißt du schon, aber unser Vater sieht das auch so. Deshalb halte ich mich zurück."

„Deshalb lässt Denethor dich auch außen vor, wenn es um euer Heer geht, richtig?" sagte ich. „Warum tut er das? Es ist unfair, einen von euch zu bevorzugen."

„Boromir ist der Ältere", wiederholte Faramir einfach. „Ich muss mich eben damit abfinden. Warum wolltest du, dass ich dich begleite?"

„Ich hätte mich sicher verlaufen, bevor ich den Weg zu meinem Häuschen gefunden hätte", log ich. „Ich möchte euch kennenlernen, Faramir. Wir werden lange zusammenleben hier in Minas Tirith, ich möchte nicht, dass wir ständig nur aneinander vorbeilaufen. Es gehört dazu, dass man seine Freunde kennenlernt. Es bringt uns nichts, wenn wir von einander sagen, wir kennen uns, dabei kennen wir uns überhaupt nicht. Habt ihr morgen Zeit, mir Gondor noch ein bisschen zu zeigen? Wenn mir der Kräutermeister die Zeit gibt."

„Natürlich, wenn du das möchtest", sagte Faramir. „Ich frage Boromir nachher gleich mal. Wir könnten zumindest bis nach Osgiliath reiten. Also, dann schlaf gut heute Nacht. Ich hoffe, du findest ein bisschen Ruhe."

„Das werde ich bestimmt", sagte ich, obwohl ich mir dessen nicht so sicher war. „Gute Nacht und grüß Boromir von mir."

„Mache ich", sagte Faramir und lächelte. „Bis morgen."

Er sah mir nach, wie ich in meinem Häuschen verschwand und seufzte tief. Dann stieg er wieder hinauf zum Thronsaal, wo ihn Boromir schon erwartete.

„Na, war's schön?" fragte Boromir.

„Ja", sagte Faramir einfach. „Sie ist so schön! Ich glaube, ich habe noch nie eine schönere Frau gesehen."

„Sie ist auch eine Elbin", meinte Boromir. „Noch dazu die Schwester von Galadriel. Sie scheint dich zu mögen."

„Hör auf damit", sagte Faramir schnell, zu schnell. „So ein Unsinn. Warum sollte sie ausgerechnet mich mögen?"

„Ich bitte dich, ich habe ihre Augen gesehen", sagte Boromir. „So ein bisschen Kenntnis habe ich doch, was das betrifft. Aber warten wir es ab. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass sie gekommen ist. Wir werden ihre Hilfe brauchen."

„Oh ja", sagte Faramir. „Oh ja."

Langsam legte sich Nacht über das Steinland und seine weiße Stadt. Ich stand noch am Fenster und beobachtete die Spitzen des Aschengebirges, die sich dunkel gegen den Nachthimmel abhoben. Dann legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein; in dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal seit ich Bruchtal verlassen hatte, tief und fest.