Die Festung des Bösen IV: Der Söhne des Königs (II)
Es war ganz jenen Alpträumen gleich, in denen man das Unheil von weitem schon erahnt, es näher und näher kommen sieht und doch wie gelähmt verharren muss, völlig hilflos, unfähig, sich zur Flucht zu wenden oder auch nur eine Bewegung zur eigenen Verteidigung zu machen – solange, bis es einen ereilt oder man schweißgebadet die Augen aufschlägt. Doch während das Unheil in Träumen oft nur schattenhaft Gestalt annimmt, die der eigenen, uneingestandenen Ängste, so hatte es bei Legolas eine ungleich bedrohlichere Realität, und es rückte ebenfalls näher und näher.
Es war ein großer, schwarzer, bulliger Ork, der sich nur durch einen partiell abgebrochenen Hauer in seiner linken Gesichtshälfte von den Seinen unterschied, der dem Elbenprinzen in vermehrtem Masse Sorgen bereitete. Schon seit einer geraumen Weile belauerte er den kämpfenden Legolas, sein Schwert, das einzig saubere, helle an ihm, fest umklammert, und doch griff er nicht an. Das überließ er seinen Verbündeten, den Spinnen, den Wölfen, und andern Orks, doch seine lauernde Präsenz, die machte den Elben (ohne dass er sich dessen wirklich bewusst war), langsam nervös. Oder wurde er zunehmend gewahr, dass sie ihn mehr und mehr einkreisten, seine Feinde? Wie in einem Alptraum begann sich ein eiserner Ring aus Besorgnis um Legolas' Brust zu legen, der ihm das Atmen erbarmungslos erschwerte.
„Zu dicht rücken sie auf...lass sie nicht so dicht aufrücken..."
Überbrücke die Distanz zwischen einem Elbenkrieger und seinen Pfeilen oder warte, bis sie ihm ausgegangen sind. Bereits verliert er etwas von seiner Furchtbarkeit! Dann treibe ihn in die Enge oder sorge dafür, dass andere dies für dich erledigen. Sieh zu, wie er zugleich mit seiner Bewegungsfreiheit viel von seiner katzenhaften Agilität und Wendigkeit verliert, die ihn im Nahkampf so gefährlich macht. Dann, und nur dann, sollte es ein leichtes für jeden mit etwas Geschick und Körperkraft sein, ihn zu töten...
Nun, diesem einen, alten, bösartigen Ork schien diese Taktik durchaus geläufig zu sein, und, was schlimmer war, auch aufzugehen. Jedenfalls war er von den drei Feinden, denen Legolas sich unverhofft gegenüber sah, der letzte, der angriff...
Vor das einschüchternde Bild, das der Ork bot, hatte sich jetzt das fast ebenso einschüchternde Bild eines struppigen Wolfes mit blutigen Lefzen geschoben, der, als er sich Legolas' Aufmerksamkeit gewahr wurde, , rau knurrte, ganz so, als würde er sich darüber ärgern, dass ihm nun die Aufmerksamkeit seines Gegners zuteil wurde. Den Bruchteil einer Sekunde später sprang er, lautlos jetzt, das Gebiss weit geöffnet, um seinem Gegner die Kehle zu zerreißen. Doch nie schloss er seine Kiefer wieder, denn ein schneller, zielsicherer Hieb Legolas' mit seinem Messer hatte ihm die Kehle klaffend aufgeschlitzt. Er war schon tot, bevor sein magerer, ausgezehrt wirkender Körper den Boden berührte, obwohl seine Läufe noch krampfhaft zuckten, doch Legolas hatte keine Zeit, sich ihm auch nur einen Augenblick noch länger zuzuwenden.
Er spürte ihre Präsenz mehr, als dass er sie sah, die mittelgroße, seltsam blassschwarz gefärbte Spinne, deren Anblick durch das vorderste linke Bein, das grässlich verstümmelt schien, nichts an Schönheit gewann. Er entkam ihren schnappenden Zangen nur, weil er, mit dem Verhalten dieser Tiere vertraut, sich instinktiv nach unten wegduckte, doch zumindest ihr rechtes Vorderbein streifte ihn, und für einen Augenblick biss Legolas die Zähne zusammen in Erwartung jenes heftigen, glühenden Schmerzes, der dann auftrat, wenn Spinnenhaar einem auf die Haut oder in die Augen geriet, um Bruchteile von Sekunden später erleichtert aufzuatmen, als dieser nicht eintrat. Seine Kleidung musste ihn vor dem Schlimmsten bewahrt haben!
Keinesfalls jedoch würde sie ihn vor einem Biss eines dieser kräftigen, giftgeschwollenen Tiere wirklich schützen, und mit ziemlicher Verspätung realisierte Legolas, dass er nicht schnell genug sein würde, unter seinem Gegner seitlich wegzutauchen, ohne unter ihre rechten Beine zu geraten. Die Valar mochten jedem beistehen, der das Unglück hatte, von den Klauen einer Düsterwaldspinne gegen den Boden gepresst zu werden!
Erstaunlich war es, wie diese Erkenntnis des „Nicht-schnell-genug-Seins"seine Wahrnehmung veränderte, und ebenso erstaunlich, wie genau Legolas' Verstand jene registrierte. Als erstes verlor er (wie es so viele berichten, die dem Tod unmittelbar ins Auge blicken) das Gefühl für Zeit und Raum; und die Spinne vor ihm nahm Dimensionen an, wie dies Städte in den Augen eines Bauern tun, der zum ersten Mal sein heimatliches Gehöft verlässt, und alles Licht schien sie in sich aufzusaugen, genau so, wie man es von ihrer Ahnfrau erzählte.
Auch schien es Legolas, das jede seiner folgenden Bewegungen wie in Zeitlupe erfolgten, jetzt, da allein Gewandtheit und Schnelligkeit über Leben und Tode entschieden, und seine Gedanken flossen träge wie ein Fluss, der bald ins Meer mündet. Zäh wie Tannenharz vergingen die Sekunden, und mit milder Erleichterung registrierte Legolas, dass wenigstens auch sein Gegner von jener seltsamen Raum-Zeit-Diskontinuität betroffen schien, denn auch die Spinne bewegte sich plötzlich viel langsamer.
Ja, sie ließ Legolas sogar die Zeit, sich an Ferêryns Worte zu erinnern, die jener zum Thema Spinnen gesagt hatte, ein vergnügtes (und eifriges) Funkeln in den Augen , das immer auftrat, wenn er über etwas referieren konnte: „ Die Spinnen haben ihre toten Punkte..." widerhallten Ferêryns Worte in seinem Kopf. „Vor ihnen und hinter ihnen, da können sie dich mit einem ihrer acht Augen sehen, und wenn du ihren Beinen zu nahe kommst, dann erfühlen sie dich über ihre Tasthaare – sehr akkurat, würde ich sagen..."
Und Ferêryn hatte sich, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auskostend, in einen langen Vortrag darüber gestürzt, wie man sich, dieses Defizit im Blickfeld der Spinne ausnützend, sicher (der eine oder andere von seinen Zuhörern lachte leise, als er dies hörte) unter sie begeben könne, um ihr mit einem gezielten Schwerthieb oder Messerstich in den wenig gepanzerten, weichen Hinterleib den Garaus zu machen.
Legolas hatte, wie die andern auch, ein amüsiertes Lächeln gezeigt, als er dies hörte, ein Lächeln, das sowohl seines Bruders Wortwahl galt als auch dessen Enthusiasmus (diesen Zug liebte er an seinem Bruder ganz besonders), und er fragte sich, wie viel Zeit Ferêryn wohl damit verbracht hatte, die Düsterwaldspinnen zu beobachten, anstelle sie zu bekämpfen - um ihnen allen dann Ratschläge geben zu können, die vielleicht – irgendwann einmal – sogar Leben retten konnten. Wenn man sie denn befolgte...
"Nicht ihren Haaren zu nahe kommen..."hallte es in Legolas' Kopf wider, doch dazu war es bereits zu spät, denn er war nicht nur besagten Haaren, sondern
auch den Beinen der Spinne zu nahe gekommen, wie der heftige Schlag bewies, der ihn zu Boden warf und den er erst realisierte, als er, benommen und atemlos, auf dem Rücken im Schnee lag, den linken Arm (derjenige, der das Messer hielt) unter sich eingeklemmt, und hoch starrte auf den fetten, rotbehaarten Hinterleib seines Gegners.
„Ungeschützter Hinterleib..."dachte Legolas, während das Bein der Spinne (oder waren es mehrere?), das ihn gegen den Boden gepresst hielt, unerbittlich gegen seinen Brustkorb drückte und ihm das Atmen erschwerte.
„Tief Luft holen..."mahnte er sich selber, bereute dies aber gleich darauf, als seine vom Sturz und dem unbarmherzigen Druck des Spinnenbeines arg mitgenommenen Rippen mit buchstäblich atemberaubenden Schmerzen protestierten.
„...Ruhig liegen bleiben, dann kannst du vielleicht deine Kräfte fokussieren und..."
Und Legolas verharrte reglos, obwohl jeder Muskel, jeder Nerv seines Körpers danach schrie, sich zu wehren, zu kämpfen, etwas, irgendetwas zu tun, und das rettete ihm wohl (zumindest vorläufig) das Leben. Die siegreiche Spinne nämlich missinterpretierte das plötzliches und unerwartete Erschlaffen ihres Gegners als gebrochenen Widerstand, und für einen Augenblick nur, da verlagerte sie ihr Gewicht (in unverkennbar bösartiger Absicht, da sie den Kopf wandte, ihre Cheliceren tropfend mit Speichel und Gift - augenscheinlich wollte sie jene Stoffe in ihr Opfer injizieren, die dessen Gewebe auflösen und es für sie essbar machen), doch dieser eine Augenblick der Nachlässigkeit genügte Legolas, um sich unter dem Bein, das ihn gefangen hielt, hervorzurollen.
Erneut quittierte sein Brustkorb diese Bewegung mit weißglühenden Schmerzen, doch spürte er dies wenig, denn er war alleine fokussiert auf zwei Dinge: Darauf, Luft in seine geschundenen Lungen zu pumpen, und auf Ferêryns Stimme in seinem Kopf, die sagte, dass der Hinterleib einer Spinne verwundbar sei.
Das Messer in seiner Hand fand seinen Weg fast von alleine, als es sich durch Haare und dicke, Widerstand leistende Haut bohrte, durch Muskeln, Schleim und innere Organe stach. Die Wunde, die es verursachte, war in ihrer Größe etwa einem Hornissenstich für einen Menschen gleich, mehr schmerzhaft als gefährlich, doch auch Hornissenstiche können tödlich sein, wenn ein Unglücklicher an der falschen Stelle vom Stachel des Insekts erwischt wird. Legolas' Ziel jedenfalls war nur allzu gut gewesen!
Die Spinne zuckte und brach halb zusammen, hielt sich aber – zu des Elben Glück, da er sich noch immer unter ihr befand – seltsam zusammengekauert auf den Beinen, während sie ein Geräusch von sich gab, das an das Quieken und Kreischen von Ratten in den Fängen einer Katze erinnerte, gefolgt von einem Hissen und Zischen, wie wenn jemand glühendes Erz in kaltes Wasser taucht. Ihre Schmerz- und Zorneslaute waren furchtbar anzuhören, selbst in einiger Entfernung, doch nahm Legolas sie nicht wahr. Er war verzweifelt damit beschäftigt, sein Messer, dessen Griff glitschig war von Schleim und Blut, aus der Wunde zu reißen, von der er nicht wissen konnte, dass sie zumindest einige Beine der Spinne paralysierte, und deshalb versuchte, ihr weitere Stiche beizubringen.
Die Spinne kreischte und hisste bei jedem Messerstich, den er ihr zufügte, und es klang ohrenbetäubend und unheimlich bei einem Wesen von so schleichender und lautloser Natur, doch alles, was Legolas hörte, war sein eigenes, keuchendes Atemholen und der hektische Schlag seines Herzens, überlaut in seinen Ohren. Alles, andere, der Kampfeslärm, das Wüten der Spinne, selbst der Zuruf eines heraneilenden Elben, der augenscheinlich seine Notlage bemerkt hatte – konnte dies Beldáuil sein? – war irrelevant und wurde von seinem nur noch auf das Überleben bedachten Hirn komplett ausgeblendet.
Selbst die Tatsache, dass er eigentlich gar nichts mehr sah, sondern blindlings drauflos stach, war sich Legolas im Augenblick nicht bewusst. Er spürte nicht einmal die Schmerzen, die die durch seine Attacke vom Körper der Spinne gelösten Haare verursachten, wie sie jetzt seinen Oberkörper und sein Gesicht bedeckten und in seine Augen geraten waren, heimtückisch wie die Sandkörner einer staubigen Ebene im Sturm, da er sich noch immer in Lebensgefahr wähnte und der blinde Wunsch nach Überleben all sein Denken beherrschte, auch wenn sein Unterbewusstsein, langsam registrierte, dass sein Gegner keine nennenswerte Bewegung mehr machte und vielleicht (er wagte es kaum zu hoffen) besiegt war.
Weitere Augenblicke vergingen, die das Bewusstsein seines Sieges in ihm Gestalt annehmen und wachsen ließen, und Legolas spürte, wie eine Woge der Erleichterung ihn durchflutete, die ihn erzittern und seine Knie weicher werden ließ als es selbst die Todesangst von vorhin vermocht hatte. Der Griff seiner Hand, die noch immer sein Messer krampfhaft umklammert hielt, lockerte sich, fast gegen seinen Willen, und Legolas sank in die Knie und stützte seine Hände gegen den kalten Winterboden, um unter der weiter zusammenbrechenden Spinne hervorzukriechen.
„Ich lebe!"Das war alles, was sein Denken im Augenblick beherrschte, und ein wages: „Ich muss mein Messer aus diesem Biest herauszerren, oder ich bin fortan völlig waffenlos...", und kein Platz war in seinen Gedanken mehr für das Bild des bedrohlichen Orks, der ihn die ganze Zeit über schon abwartend belauert hatte.
Dieser Ork jedoch hatte ihn seinerseits nicht vergessen. Kaum hatte Legolas sich hinter der Spinne aufgerappelt (eine wahre Tränenflut stürzte noch immer aus seinen Augen), da traf ihn ein brutaler Fußtritt am Kinn, seitlich, und Blut schoss sofort aus seinen zerbissenen Lippen und hätte einen eisernen Geschmack in seinem Mund hinterlassen, hätte sein Geschmacksinn noch richtig funktioniert. Durch einen Schleier aus Tränen sah Legolas, was er als letztes sehen würde: Das schartige Schwert eines Orks, das heute, dem Blut nach zu urteilen, das an ihm klebte, bereits elbisches Leben gefordert hatte und es nun erneut tun würde.
Ein wages Entsetzen, das war alles, was Legolas noch in sich aufkeimen fühlte, und alle anderen Gefühle, die da noch Raum gefunden hätten, Wut vielleicht, Zorn, Unglauben, Trauer und Angst, die wurden ausgelöscht von einem einzigen, gutgeführten Schwerthieb, bevor sie noch richtig aufflackern konnten.
Fortsetzung folgt...
Anmerkung der Autorin: Hm, das ist sicher die längste Kampfszene, die ich je geschrieben habe...damit es nicht allzu langweilig wird, hab ich sie mit einem kleinen Cliffhanger garniertï
