Die Höhlenfestung im Düsterwald II: Hin
Es gibt Raubtiere, deren Jagderfolg einzig auf ihre Fähigkeiten im Tarnen und Anschleichen, in Lautlosigkeit und in ihrer katzenhafter Geduld beruht, und einem blitzschnellen, keinen Raum für Widerstand lassenden Angriff; und Raubtiere, die, ganz auf ihre Stärke und Überlegenheit vertrauend, offen, oft in Rudeln, angreifen, und ihr Opfer zur Strecke bringen, indem sie dessen Furcht ausnützen, es zu ermüden, bis es, geschwächt von sinnlosen Fluchten, kleinen Wunden und Blutverlust, zu keiner Gegenwehr mehr fähig ist.
Genauso wie es unterschiedliche Methoden der Jagd gibt, gibt es unterschiedliche Arten, den Akt der Jagd selbst zu betrachten. Manche, die eine solche beobachten, bemitleiden das Opfer und sind vielleicht imstande, sich in dessen Furcht und Todesangst hineinzuversetzen, ohne jedoch zu vergessen, dass das Töten in der Natur des Raubtieres liegt. Anderen stattdessen fällt schlicht die plumpe Kraft des Bären auf der Jagd, die geschmeidige Schnelligkeit des herabstossenden Falken oder die Schlauheit eines hetzenden Wolfsrudels bewundernd ins Auge.
Es gibt jedoch auch Raubtiere, die töten um des Tötens willen, und die Abscheu und Ekel in jedem Betrachter auslösen. Nichts Schönes mehr ist am Anblick eines Fuchses oder Marders, der sich in ein Hühnerhaus eingeschlichen hat und im Blutrausch mehr der im hilflos ausgelieferten Vögel tötet, als er wegtragen oder verzehren kann! Und doch ist das Befremden, das ein solches Tier auslöst, anders, und weniger intensiv, als es das Entsetzen ist, das einen befällt, wenn man ein Raubtier der eigenen Art in einem solchen Zustand beobachtet, weil dies - wohl eine meist uneingestandene – Ahnung in uns weckt, dass das Potential zu einer solchen mordenden Bestie in uns allen steckt – in einem mehr oder wenig sorgfältig gezimmerten Käfig; und auf die Chance zu einem Ausbruch lauert.
Die Kreatur Gollum jedoch, die in jenen Tagen den Düsterwald heimsuchte, bot jagend zwar einen fast noch hässlicheren Anblick als gewöhnlich, und doch fiel er nicht in die zuletzt skizzierte Kategorie einer reissenden Bestie. Zwar jagte, tötete und verschlang er Fische, Vögel aus ihren Nestern, zitternde Kitze, alles, was er mit seinen langen, kalten, tastenden Fingern ergreifen konnte, (so dunkle Gerüchte selbst unter den nicht so leicht einzuschüchternden Waldelben erweckend), während zugleich doch die Jagd nach Nahrung so unwichtig, so nebensächlich für ihn selbst war und nur dazu diente, seinen mageren, skelettartigen Körper funktionstüchtig zu halten.
Ja, ständig war Gollum auf der Jagd, doch vermochte keine noch so fette Beute seinen Hunger wirklich zu stillen oder seinen Jagdtrieb zu befriedigen, denn die Beute, nach der der einstige Hobbit lechzte, war nicht von Fleisch und Blut.
Ein einziger Ring war sie, klein und eher unscheinbar, und doch hatte sie die unglückliche Kreatur, die sich nach ihm verzehrte, wirksamer geknechtet als es Sklavenketten, aus hundert eisernen Ringen geschmiedet, vermocht hätten.
Überhaupt waren die Rollen in jener Jagd mehr als nur ein bisschen unklar verteilt: Wer nun denn Jäger und wer der eigentliche Gejagte war, lässt sich nicht so einfach beantworten.
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Es sprach für das dicht- und weitgespannte Informationsnetz der Elben, das auszubauen und zu festigen besonders Beldàuil sich eingesetzt hatte (es war jedoch Ferêryn, der die dazu nötigen Kontakte geknüpft hatte), dass ihnen mit seiner Hilfe Gollums Schleichen durch den Düsterwald gewahr wurde, obwohl jener auf seiner Wanderung ihr Gebiet nur streifte. Die Kunde seines Auftauchens jedoch ging unter in einem Meer von anderen, dringlicheren schlechten Nachrichten; wie das Auftauchen von Mutterkorn sich dem Auge des Bauern entzieht, dessen Roggen ohnehin schon von einem Sommersturm geknickt und zu Boden geschlagen wurde, und er diesem kleinen Übel wenig Beachtung schenkt, bis ihm dann eine schwarze Ernte die Augen öffnet.
Indem die Waldelben Gollum und den Gerüchten über ihn wenig Beachtung schenkten (hatten sie doch alle Hände voll zu tun, ihr Land gegen marodisierende Orks zu verteidigen), passierte er ungehindert den Rand ihres Reiches, und selbst den Orks, falls sie ihn denn gesichtet hatten, war diese hässliche Kreatur zu ausgezehrt, zu fleischlos erschienen, um ihnen eine lohnende Beute abzugeben. Elben (und wer und was auch immer das Unglück hatte, ihnen in die Fänge zu laufen) waren da ein ganz anderes Kaliber!
So schleppte sich, zog und kroch Gollum denn weiter, ohne dass jemand je die Natur seiner Wanderung oder gar deren Ziel erfragt hätte, und deshalb verbanden sich einige Fasern, die bisher lose dagelegen hatten wie die Gräten eines von Gollum halb verzehrten Fisches, zu einem Faden, der eigentlich nie gewebt hätte werden dürfen.
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Es war eine finstere, sternenlose Nacht, so finster, wie es nur wenige Nächte im tiefsten Winter sind, und ihr Dunkel weckte selbst in Legolas, dem die Empfindung von Kälte, von der die Menschen erzählten, eigentlich fremd war, eine Ahnung davon, was es hiess zu frieren. Oder war es ganz einfach die Nervosität und Unruhe, die ihn ergriffen hatte, als er, am frühen Nachmittag vom Training der Bogenschützen zurückkehrend, das Zimmer seines Vaters verlassen vorgefunden hatte, die ihn innerlich erschauern liess? Hatte sich doch sein Vater zuvor drei Tage lang mehr oder weniger geweigert, jenes zu verlassen, seit der Minute, in der es augenscheinlich geworden war, dass die Patrouille aus dem Nordosten (zwölf Mann war sie stark gewesen!) nicht wie abgesprochen zurückkehren würde.
In den letzten Jahren hatte er immer dort, fast ängstlich, der ausgeschickten Reiter geharrt, und sich jeweils schweigend und grimmig die Berichte der Patrouillenführer angehört, wenn sie zurückgekehrt waren, doch jetzt, da die sehnlichst erwarteten Elben beim Höhlenpalast angekommen waren, da war er nicht aufzufinden.
Geduldig hatte der Jäger, der die Gruppe angeführt hatte, auf seinen König gewartet, obwohl er erschöpft und müde schien und seine Bewegungen etwas von ihrer Geschmeidigkeit verloren hatten, und schliesslich hatte Legolas sich seiner erbarmt und sich dessen Schilderung angehört, um ihn dann seiner Wege ziehen zu lassen. Die Berichte waren an sich beunruhigend genug gewesen – mehr und mehr Orks waren dieser Tage gesichtet worden, und eine Rotte von ihnen hatte die Elben in einen Kampf verwickelt – doch die Abwesenheit seines Vaters beunruhigte ihn noch mehr, zumal er ahnte, was es war, das seinen Vater zurückhielt.
Er hatte kaum den Raum seines Vaters verlassen, aufgewühlt und seltsam ermüdet von den (sich im übrigen immer gleichenden) Berichten der Jäger, die von Orks, Orks und noch mehr Orks (und jetzt, im Winter, auch von hungrigen Wolfsrudeln) handelten, und sich auf den Weg gemacht, seine düsteren Vorahnungen zu bestätigen; als er Ferêryn vor sich auf dem Gang sah. Ferêryn trug noch immer seine Reisekleidung, die verschmutzt und mitgenommen aussah (Die Valar allein mochten wissen, wo er sich die ganze Zeit herumgetrieben hatte!), und hatte sich augenscheinlich nicht gross die Zeit genommen, sich umzuziehen.
Legolas´ Freude, den Bruder unversehrt zu sehen (Dessen konnte man sich nicht mehr sicher sein, nicht in jenen Tagen) erlosch jedoch rasch, als jener ihm halb niedergeschlagen, halb nachsichtig zulächelte und wissend fragte: „Unterwegs zum Turmzimmer, kleiner Bruder? Den Weg dahin kannst du dir sparen. Ich habe das Licht von Fackeln in ihm gesehen, als ich ankam."
Legolas seufzte und senkte unglücklich den Kopf. „Ich hatte gehofft..." setzte er an, brach aber gleich wieder ab, weil er nicht wusste, was genau er gehofft hatte. Dass Thranduil in seinem Arbeitszimmer war? Oder dass er es nicht war? Seit er und Ferêryn es sich angewohnt hatten (wann hatten sie eigentlich damit angefangen?) einen abendlichen Kontrollgang, wie sie es unter sich nannten, zu ihres Vaters Räumen zu machen, stellte er sich jene Frage, vor deren Antwort er sich fürchtete.
Fand er seinen Vater dort vor, bot dieser meist einen fast schmerzhaften Anblick, wie er so dasass, ruhig und doch ruhelos, die Stirne sorgenvoll gerunzelt, den Blick abwesend und doch prüfend auf die tanzenden Flammen seines Kamins gerichtet, meist schweigsam, ja fast verstockt, als wolle er seine Sorgen mit niemandem teilen. Manchmal jedoch, besonders wenn er dem schweren Rotwein zugesprochen hatte (einer, der normalerweise nur zu grossen Festen und Anlässen gereicht wurde), da sprudelten Worte, Gedanken und Fragen, bangende, bohrende Fragen aus ihm heraus wie zu lange aufgestautes Wasser aus einem geborstenen Damm. Jene wuchsen bald an zu einem Strom aus Sorge und Selbstvorwürfen, der selbst diejenigen, die zuhörten und versuchten, Trost und Beistand zu bieten (kurz, der Fels in der Brandung zu sein, der Thranduil früher einmal gewesen war), aufpassen mussten, nicht davon weggespült zu werden, selbst kein Ufer mehr zu finden und in einem Meer von Unsicherheiten zu ertrinken.
Das heisst, er oder Ferêryn waren es, die einen schweigenden oder sich in Selbstzweifeln quälenden Vater vorfanden, wenn sie Thranduil aufsuchten. Betrat hingegen Beldàuil dessen Kammer, sah die Sache schon ganz anders aus! Meist konnte man dann die Minuten an einer Hand abzählen, die es dauerte, bis die Stimmen hinter verschlossenen Türen, die zuerst drängend, leise, murmelnd gewesen waren, lauter wurden, gleich dem Wind, der einem Kletterer erst auf dem Gipfel des Berges mit voller Gewalt entgegenschlägt; und dieselbe Handvoll Minuten mochte vergehen, bis man den lautgewordenen Stimmen auch Misstöne entnehmen konnte, die Sturm und Streit signalisierten.
Ein Zuhörer vor verschlossenen Türen brauchte gar nicht erst zu lauschen, um zu erfahren, um was es in dem Streit ging – zum ersten war die Lautstärke der Streitenden gross genug, dass man keiner Elbenohren bedurfte, sie zu verstehen, und zum zweiten kannte mittlerweile jeder Elb im Düsterwald den Kern des Zerwürfnisses zwischen Thranduil und seinem ältesten Sohn.
Jener Kern war die Anzahl und Grösse der Patrouillen, die das Königshaus ausschickte, um den Höhlenpalast und dessen umliegende Ebenen gegen die Orks zu sichern. Hatte Thranduil sie früher noch selbst, stark bewaffnet und zahlreich, ausgeschickt, die Grenzen zu sichern, so war es jetzt nur noch Beldàuil, der mit gewohnter Stur- und Hartnäckigkeit auf diesen Ausritten beharrte, selbst als es unsicher geworden war, ob die ausgeschickten Reiter je zurückkehren würden.
Seit jenem schicksalhaften Tag, als jene Patrouille, angeführt von dem alten Freund Thranduils, nicht zum Höhlenpalast zurückgekehrt war, und keine Spur mehr je von ihr gefunden worden war, seit jenem Tag hatte der Elbenkönig, augenscheinlich erschütterter, als er sich dies eingestehen mochte, die Zahl der Soldaten, die die Grenzen bewachten, stetig verringert; und schliesslich wäre, hätte Beldàuil nicht so vehement darauf beharrt, fast niemand je mehr ausgeschickt worden zu sehen, was im Düsterwald vor sich ging.
Dies war der Kern ihres Zerwürfnisses; das eigentlich ein weit grösseres Ausmass hatte, als es sich die Streitenden selbst eingestehen mochten, beruhte es doch auf zwei völlig unterschiedlichen Denkhaltungen, was den Schutz und das Überleben des Waldelbenvolkes betraf, eine Verantwortung, die sich Thranduil und Beldàuil früher so selbstverständlich und einträchtig geteilt hatten.
Beldàuil war in seiner direkten (die manche gar als aggressiv bezeichnen mochten) Art, mit Problemen umzugehen, gleich einer Wespenkönigin, die ihre Soldaten angreifen lässt, sobald sich jemand auch nur ihrem Nest nähert, also jemand, der eine Entscheidung gerne durch eine Konfrontation erzwingt; während Thranduil mehr einer Bienenkönigin glich, die in einer Notlage ihr Volk sammelt, es nicht mehr ausfliegen und ihr Nest mit deren Körper schützen lässt.
Dies war früher jedoch anders gewesen; und hätte jemand anders als Thranduil jene Haltung gezeigt, hätte Beldàuil sie auch akzeptieren können, nicht aber bei seinem eigenen Vater, der früher selten Zögern gezeigt hatte.
Das waren die Dinge, über die Vater und Sohn sich stritten, und wartete der Zuhörer noch ein wenig länger, wurde er in den meisten Fällen zusätzlich noch mit dem Knall der Türe belohnt, die Beldàuil, das Gesicht unbewegt, aber mit zornigen Augen, hinter sich zuwarf. Dann aber machte man sich besser aus dem Staub, denn einer Begegnung mit Beldàuil, wenn er in Zorn geraten war, dass war etwas, das man tunlichst vermied!
Hielt sich Thranduil hingegen im Turmzimmer auf, dann war er alleine dort, und mochte vor sich hinbrüten wie ein menschlicher, versehrter Kriegsveteran, dessen Erzählungen nicht mehr unterhaltend genug waren, um etwas für die trockene Kehle und einen Platz am Herdfeuer abzukriegen.
Legolas senkte erneut den Kopf. Es schmerzte, sich seinen Vater so brütend vorzustellen, es schmerzte, ihn brütend zu sehen, und ganz besonders schmerzte es, ihn im Streit mit Beldàuil zu sehen! Da war es ganz egal, wo der Elbenkönig sich aufhielt – Legolas machte sich Sorgen um seinen Vater, und manchmal holten jene ihn ein, stellten ihn, und dann sah er die Zukunft dunkler, als es selbst die Nacht war, die draussen herrschte, und nicht einmal die freundlich-aufmunternden Worte seines Bruders und dessen tröstliche, wenn auch nur kurze Berührung, vertrieben diese Schatten.
Fortsetzung folgt...
Anmerkung der Autorin: Immer noch ziemlich deskriptiv, das ganze. Ich wundere mich langsam selber, wie lange ich das noch so hinziehen kann. (Lange, denke ich). Ich arbeite aber gerade am actionreichen Mittelteil und würde mich über Kommentare wirklich sehr freuen. Weniger Reviews als Kommentare...das ist schon ein wenig traurig...schnüff...
Für Elanor: Die düstere Stimmung meinerseits über die wenigen Kommentare hast du jedenfalls wirksam vertrieben :-)! Wie immer freu ich mich sehr über deine Reviews, weil sie mir immer bestätigen, dass die Punkte, die für die Erzählung wichtig sind, herauslesbar sind! Nun, die Entwicklung Thranduils wird natürlich noch eine grosse Rolle spielen im weiteren Geschehen, aber ganz so schlimm wie Denethor wird es ihm natürlich nicht ergehen. (Nur schon deswegen, weil er mein Lieblingselb ist!) Bis Mitte November hoffe ich natürlich auch, weitere 2-3 Kapitel fertig zu haben, so dass das Lesevergnügen noch etwas weiter reicht. Emmer ist übrigens tatsächlich eine (dem Dinkel verwandte) nicht allzu ertragsreiche alte Weizenart...
