Die Höhlenfestung im Düsterwald IV: Die Schatten werden länger
Abendsonne fiel durch das trotz der beissenden Kälte weitgeöffnete Fenster des kleinen Raumes und tastete sich mit goldenen Fingern über seine hölzernen Wände, Teppiche und die wenigen Möbel und liess die Kristallflasche mit Wein, die auf dem Schreibtisch stand, rot aufleuchten, bis schliesslich jemand ans Fenster trat, angelockt von ihrem orangefarbenen Verglühen, und ihr so den Eintritt verwehrte.
Thranduil, König der Waldelben vom Düsterwald, lehnte sich gegen einen Fensterflügel des Turmzimmers und überblickte die vor Nässe schwarzen Baumkronen, die sich vor seinen Augen endlos erstreckten und die sein Reich ausmachten.
Feuerüberhaucht, so schienen sie im Abendlicht, mächtig und unerschütterlich, die Bäume, alt wie die Zeit selber, und nichts regte sich in ihnen, ausser wenn ein gelegentlicher Windhauch ihre nackten Äste sacht erzittern liess. Dann wisperten die Bäume, und ihre Worte vermischten sich mit dem Singen des Windes zu einem Abendlied von zarter und unaufdringlicher Schönheit, das die Herzen aller gefangen nimmt, die es je vernehmen.
Sein Klang erfüllte Thranduils Herz mit Frieden. Die sinkende Sonne tat es nicht.
„Du Narr!"schalt er sich, und Angst kroch in ihm hoch, bitter wie Galle und besitzergreifend wie ein Habgieriger über einem Haufen Gold, doch noch redete er sich erfolgreich ein, dass es der kalte Winterwind war, der ihn hatte erschauern lassen, und nicht der bereits sehr tiefe Stand der Sonne.
Wo ist mein Sohn geblieben? Warum kehrt Beldàuil nicht von seiner Mission zurück?
Nagend und bohrend kehrten diese Fragen in die Oberfläche seines Bewusstseins zurück, wühlten sich darin ein wie die Pferdeegel aus den moorigen Teichen am Schwarzfluss in die Glieder derjenigen, die ihnen Gelegenheit dazu boten. Sie lösten einen scharfen Schmerz aus, den selbst der Anblick der Abendruhe im Düsterwald nicht zu überlagern vermochte – dies vermochte nur der noch schärfere Schmerz einer weiteren Frage.
Warum habe ich ihn nicht aufgehalten, als er sein Vorhaben geschildert hat?
Denn unter den vielen toten Gesichtern, die ihn der Palantir hatte sehen lassen (und deren Anblick ihn selbst im Wachen und Schlafen verfolgten) war auch dasjenige seines Sohnes gewesen; und wenn sich auch Thranduil längst nicht bewusst an alles erinnerte, was seinem Geist an Bildern eingeträufelt worden war wie Gift einem arglosen Opfer, so sah er doch immer wieder vor seinem inneren Auge das tote Gesicht Beldàuils, die schönen Züge starr, das Haar rauhreifgekrönt, die scharfen grauen Augen gebrochen, wie er leblos auf dem winterlichen Boden lag; mit niemanden, der sich seiner annahm als der Nordwind, der ihn behutsam, geduldig und furchtbar gleichgültig zudeckte unter einer Decke aus glitzernden Schneekristallen.
Wie er diese langen und endlosen Winternächte hasste!
Wenn der Schmerz über dem Verlust eines Kindes dem Dolchstoss eines gelungenen Mörders gleichkam (auch wenn er nur die Seele traf), dann würde der Schmerz über den Verlust eines Kindes, an dem man sich schuldig fühlte, zumindest dem gleichkommen, der ein Töter auslöst, der eine gezackte Klinge verwendet.
Nichts regte sich im nächtlichen Düsterwald, kein plötzliches, warnendes Fuchsbellen oder Eulengeschrei kündigte die so lang ersehnte Rückkehr von Beldàuil und seinen Begleitern an.
Thranduil fühlte eine irritierende, irrationale Wut darüber in sich aufsteigen. Er bekämpfte sie nicht, ersetzte sie doch die jetzt nahezu unerträgliche Furcht in ihm (als würden beide Gefühle nicht nebeneinander bestehen können), und sie überflutete ihn mit einer Welle von Energie und Entschlossenheit, wie er es schon lange nicht mehr verspürt hatte, liess ihn die Schultern straffen und den Kopf heben in einer Art, wie es die Waldelben an ihm bewunderten und gleichzeitig fürchteten.
„Ich werde nicht derjenige sein, der fällt."dachte der Elbenkönig, und eine trotzige Note lag darin. „Was auch an Sturmwolken über uns kommen mag – wir werden vielleicht gezwungen sein, uns zu beugen im Wind, wie es die Weiden an den Rändern der Moore tun, zerzaust der Nordwind ihnen die Krone – aber uns zu brechen, dazu werden Kräfte erforderlich sein, wie sie nicht einmal in Dol Guldur gelauert haben!"
Und ohne dass Thranduil es ahnte, war er zumindest gedanklich Beldàuil sehr nahe in diesem Augenblick, denn seine Gedanken spiegelten die seines Sohnes ziemlich exakt, als jener vor einigen Wochen in seine (selbst für Beldàuil-Massstäbe) gewagte und unelbische Mission aufgebrochen war, denn auch der älteste Elbenprinz hatte eben jenen Trick verwendet, seine Angst in Wut zu verwandeln (wenn auch bewusster als sein Vater), jedes Mal, wenn die Grösse seines Vorhabens ihn hatte zögern lassen, und das „Ich werde nicht derjenige sein, der fällt!"war zu seinem Mantra geworden auf der ganzen Reise durch den wintergeschüttelten Düsterwald.
Der Elbenkönig wandte sich vom Fenster ab, um einen prüfenden Blick durch seine Kammer gleiten zu lassen, von einer inneren Unruhe erfasst, von der er sich geschworen hatte, dass sie ihn nie wieder überwältigen würde – und er sah das flackernde Kaminfeuer, das warme, einladende Behaglichkeit verbreitete, auf die brennenden Kerzen, die man auf sein Geheiss zahlreich entzündet hatte, und auf die Karaffe mit Wein auf seinem Schreibtisch.
Thranduil stürzte sich darauf wie ein Verdurstender. Er leerte ein Glas davon in hastigen Zügen, und ein zweites davon langsam, in kleinen Schlucken, wie jemand, der diesen berauschenden Genuss nicht gewohnt ist oder tief in Gedanken versunken. Doch erst der dritte Becher Wein, der brachte sie zum Verstummen, die Stimmen in seinem Kopf, die wütenden, die verzweifelten, die ängstlichen, diejenigen, die ihm zuflüsterten, unablässig, vorwurfsvoll, mahnend, selbst drohend, fordernd, jetzt überlagert von Stimmen voll Selbstvorwürfen und bitterer Resignation, und sie erinnerten ihn daran, dass er geschworen hatte, heute morgen noch, dass er die Finger lassen würde vom Wein, dass er stark genug sein würde, die Nacht – oh, wie er diese kalten, end- und lichtlosen Winternächte jetzt fürchtete und hasste! – auch ohne dessen mehr als trügerische Hilfe überstehen würde...
„Ich werde nicht derjenige sein, der fällt!"wiederholte er (mit zusammengebissenen Zähnen), und die trotzige Note in dieser Aussage verstärkte sich, doch auch sie vermochte es nicht, die plötzlich erloschene Überzeugung darin zu übertünchen, und als Thranduil es ein drittes Mal murmelte: „Ich werde nicht derjenige sein, der fällt!", da klang es bereits mehr wie eine Frage als eine Feststellung.
„Werde ich derjenige sein, der fällt?"fragte sich auch Beldàuil, als er sich, grimmiger und in sich gekehrter als je zuvor, nach dem Scheitern seiner Mission auf den plötzlich nicht mehr so verlockenden Heimweg machte (Es war eine neue Erfahrung für ihn, nach einem Vorhaben nicht triumphierend zurückzukehren), doch weder seine Frage noch die seines Vaters wurde vom schweigenden Wald beantwortet, und die Antwort, die sie in ihrem Herzen fanden, die war nicht akzeptierbar.
Der Wein brachte eine wohlige Wärme in Thranduils Körper und einen Hauch von Ruhe in seine Seele zurück.
Noch war die Sonne nicht untergegangen. Die Kerzen liessen Schatten vor sich tanzen in dem warmen, von unzähligen Lichtern erleuchteten Raum. Rot funkelte der in der Karaffe verbliebene Wein, doch Thranduils Finger schreckten vor ihr zurück, fast angewidert, jetzt, da der Alkohol in seinen Adern zu pulsieren begann, und der Elbenkönig, ernüchtert durch seine plötzlich aufgeflammte Gier und sein so rasch erfolgtes Versagen, trat erneut ans Fenster.
Warum kehrt mein Sohn nicht von seiner Mission zurück?
Es hatte zu schneien begonnen, sachte, und der Nachtwind wirbelte mutwillig Schneeflocken auf, spielerisch, als wäre es nicht er gewesen, der die Wetterwolken gebracht hatte, die nun die Ränder des Düsterwald verhüllten und graue Grenzen zogen um sein, Thranduils, Reich.
„Mein Reich..."dachte Thranduil und versuchte das wachsende Grauen in seinem Herzen durch – durchaus berechtigten – Stolz zu ersetzen, denn sein Reich war gross, selbst wenn der Nachtnebel es in seiner kalten Umarmung verkleinerte, und sein Volk gross, stark und voller Vitalität, selbst in dieser Zeit, von der man sagte, dass den Elben im Schwinden begriffen waren und zahlreich Mittelerde verliessen, von einer ebenso unerklärlichen wie unüberwindlichen Sehnsucht gepackt, um die Gestade Valinors aufzusuchen.
„Die Zeit der Elben in Mittelerde ist vorüber...Ihre Macht beginnt zu schwinden... Sie verlassen diese Gestade scharenweise, um nach Valinor zu segeln..."Ja, solches und ähnliches wurde über das Elbenvolk erzählt, und Thranduil wusste nicht einmal mehr, wo er diese Sätze zum ersten Mal gehört hatte; zu welchem Zeitpunkt, am allerwenigsten, von wem sie damals gesprochen worden waren, ob von Elb, Mensch oder sonst irgendeiner Kreatur, er erinnerte sich nur noch – diese Erinnerung jedoch war lebhaft und detailliert – an den Zorn, in den er daraufhin geraten war, und die harschen Worte, mit denen er sie verneint hatte.
Thranduil war schon immer ein starker Mann gewesen, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht, und sein kühler, klarer Intellekt, seine rasche Entschlusskraft und Hartnäckigkeit (jene, die dem Elbenkönig nicht allzu nahe standen, pflegten diese seiner Eigenschaften schlicht als „Sturheit"zu bezeichnen) hatten sein Volk über Jahre hinweg hervorragend geführt, was ihm die Waldelben mit Achtung dankten, seine Lebenslustigkeit aber und sein ausgeprägter Sinn für die einfachen Freuden des Lebens, die hatten ihm ihre Herzen gewonnen.
Es hatte einiges an Zeit gebraucht, bis selbst Thranduils Dickschädel akzeptiert hatte, dass solche Aussagen der Wahrheit entsprachen, wenn man Bruchtal betrachtete (Halb entvölkert sei es bereits, so wollten es zumindest die Gerüchte) oder auch Lothlorien, denn zahlreich bereits verliessen die Galadrim ihre Gefilde, und diejenigen, die noch geblieben waren, glichen verspäteten Zugvögeln, die zwar den Ruf noch nicht verspürt hatten, deren Herzen aber bereits von der Unruhe des Herbstes und von Fernweh ergriffen waren.
Blind war er gewesen all die Jahre in seiner hölzernen Halle, das wusste er jetzt, eingelullt vom ewigen Singen der Wälder, betäubt vom Duft der Bäume im Frühjahr, der Licht- und Wärmeflut des Sommers, dem warmen Leuchten der Blätter im Herbst, von den Feiern des Winters bei grossen Feuern, Wein und Wild; zu blind zu bemerken, dass die Zeiten im Wandel begriffen waren und dieser Wandel alle ergreifen würde, selbst die Elben.
Das schmerzhafte Erwachen hätte eigentlich schon damals kommen und Thranduil einholen müssen wie das Alter den Menschen, als seine Frau ihm eröffnete, dass auch sie Valinor aufsuchen werde, zusammen mit vielen Elben aus Bruchtal, und ihn deshalb verlassen werde.
Damals hatte er den Ernst in ihrer Stimme missachtet, ihre gelegentlichen Anfälle von Traurigkeit und Melancholie, die sie jetzt oft heimsuchten, für eine Folge des Herbsts gehalten; der dazu neigt, in den Elben solche Gefühle auszulösen, kündigt er doch den Winter an, der sie des Grüns beraubt, das ihr Lebenselixier ist, doch als sie ihre Ankündigung wiederholte und sich auch von ihren Kindern verabschiedete, da dämmerte es selbst dem Elbenkönig, dass er ihren Worten mehr Beachtung hätte schenken sollen; und als der Tag herandämmerte, an dem sie aufbrach, um ihrem Sehnen nach dem Meer, nach Valinor, Raum zu geben, da hatte er sie erst finster angeschaut, unter zusammengezogenen Brauen, als wäre sie ein unartiges Kind, dann hatte er geflucht, schliesslich geschrieen, doch nichts, das hatte er damals und viel zu spät erkannt, hätte sie an dieser Stelle noch von ihrer Reise abhalten können, ausser vielleicht ein „Ich brauche dich hier an meiner Seite"oder ein „Ich will dich nicht verlieren.", Sätze, die Thranduil noch nie einfach über seine sonst so beredte Zunge gebracht hatte; vor allem nicht, wenn die Situation nicht spielerisch, sondern ernst war und Dinge betraf, die ihm wirklich nahe gingen.
Sie war gegangen, und noch heute sah der Elbenkönig sie vor sich, wie sie damals gewesen war, gross und schlank, die Haut fast durchscheinend blass, ihre Lebenskraft und Vitalität schon fast erloschen und ausgebleicht wie die Farben eines zu oft gewaschenen Wäschestücks, und wie schon so oft fragte er sich, ob er ihren Weggang hätte verhindern können, hätte er ihr Schwinden früher bemerkt; oder hätte er die richtigen Worte gefunden, die Seelenverwandtschaft wieder herzustellen, die einst zwischen ihnen bestanden hatte und die von der Gewohnheit und einer zu plumpen Vertrautheit zermalmt worden war wie Getreide unter einem Mühlstein.
Tief in seinem Innern wusste Thranduil natürlich die Antwort zu all diesen quälenden Fragen, die manchmal in ihm auftauchten wie totgeschwiegene Ungeheuer aus dem Meer, doch er zog es vor, die Schuldgefühle, die sie in ihm auslösten, in Zorn zu verwandeln, da Zorn so viel leichter zu ertragen war; und da es ihm unmöglich war, für seine Frau Zorn zu empfinden (Dafür liebte er sie immer noch zu sehr), hatte er diesen Zorn auf die Bruchtalelben übertragen, die, wie er meinte, die Ursache dafür waren, dass seine Frau überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte, nach Valinor zu reisen.
Diese eigentlich uncharakteristisch instinktive Schuldzuweisung Thranduils an die Bruchtalelben war der wahre Kern seines schwelenden Zorns auf Lord Elrond und die seinen, ein Kern, den er so gut verbarg wie die Walnuss ihre Samen, und der ihn seinerzeit den Fund des Palantirs hatte verschweigen lassen, und ein Kern, der sich als so gefährlich erweisen würde wie die des rankenden und vergiftenden Schmerzwurzes.
Doch auch die Beeren der ebengenannten, raschwüchsigen Pflanze brauche ihre Zeit zu reifen, um sich in ihrer vollen Giftigkeit zu entfalten; und so war es auch mit dem Kern aus Zorn in Thranduils Innern, und erst dann werden wir darüber berichten, wenn die Folgen davon für unsere Gesichte von Belang sein werden.
Fortsetzung folgt...
Anmerkung der Autorin: Dies war eigentlich ursprünglich das erste Kapitel der Geschichte, deshalb die „Charakterstudie"über Thranduil. Es hat mir sprachlich gefallen (sollte man von sich selber bescheidenerweise nicht sagen, ich weiss ï), deshalb hab ich's eingebaut. Weiter geht's von jetzt an mit den mehr „action-orientierten"Mittel- und Schlussteilen... ich hoffe natürlich auch, dass auch meiner Review-Inbox noch etwas actionreichere Zeiten bevorstehen... Das nächste Update könnte etwas länger brauchen – Von Kapitel XI existiert noch nicht einmal wirklich der Titel – es erfolgt aber spätestens in zwei Wochen!
Für Elanor/Liderphin/Zarina: Ha, eigentlich bin ja ich es, der sich für die lieben Worte bedanken muss! Ich kann es nur wiederholen: Eure Unterstützung ist sehr, sehr ermutigend. Wäre die ganz weggefallen (ich also ohne Reviews geblieben), ich weiss nicht, ob ich dann wirklich so oft (einmal pro Woche ist oft!) updaten würde! Das soll natürlich keine Erpressung sein, Reviews zu schreiben (ich würde sowieso die Geschichte zu Ende bringen, Kommentare hin oder her), aber letztere helfen aber doch über einige „Ich-weiss-nicht-wie-jene-Stelle-ausformulieren"– Blockaden hinweg und motivieren einem, noch spät abends an den Computer zu sitzen! Danke schön auch diese Woche!
