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Die Söhne des Düsterwaldkönigs I: Legolas und Beldàuil
Die fünf Reiter, die ab und zu zwischen den Bäumen des nächtlichen Düsterwaldes auftauchten, um gleich darauf wieder, einem nächtlichen Spuke gleich, dazwischen zu verschwinden, ritten schnell, und nur kurz durchbrach das vom Schnee gedämpfte Hufgetrappel ihrer Pferde die nächtliche Stille. Es hätte eines aufmerksamen Beobachters bedurft, sie wahrzunehmen, die sie in walddunkle Mäntel gekleidet waren, und eines mehr als aufmerksamen Lauschers, um einen der gelegentlichen Satzfetzen aufzufangen, die zwischen ihnen hin und her flogen, etwa ein „Hier lang!" oder ein „Vorsicht, der Boden ist hier sehr uneben!" Zudem hätte besagter Beobachter auch sehr unauffällig sein müssen, unauffällig wie ein Geschöpf der Nacht, das von der Kunst lebt, mit seiner Umgebung zu verschmelzen, denn die fünf Reiter beobachteten, trotz ihrer offenkundigen Eile, äusserst aufmerksam, fast nervös, ihre Umgebung; und sie liessen ihre Hände nie weit von ihren Bögen.
Schliesslich zügelte der vorderste der Reiter sein Pferd (er hatte einen raschen Blick über die Schulter zurückgeworfen und bemerkt, dass zwei seiner Begleiter mehr und mehr zurückblieben), und geduldig wartete er, bis diese aufgeschlossen hatten. Sein Gesicht wirkte ruhig, doch sein Pferd bewegte sich nervös und schlug gereizt mit seinem Schweif, von jener Unruhe erfasst, die sein Reiter doch so meisterhaft zu verbergen verstand; vor allen, nur nicht vor den feinen Sinnen seines Tieres.
„Briththind?" fragte der Reiter brüsk, während er achtsam seine Umgebung musterte, bewusst diesen Tonfall wählend, um seine Besorgnis zu kaschieren, und mit einem leisen Lächeln anerkannte er die Vergeblichkeit dieses Unterfangens, als er ein ebenso brüskes, im militärisch-knappen Ton gesprochenes „Hier, Legolas! Bereit zum Appell!" zurückerhielt, das nicht einer gewissen Ironie entbehrte, eine Nuance, die der Sprechende aber aufgab, als er fortfuhr: „Tatharlin ist an meiner Seite."
„Wie sieht es aus?" fragte Legolas weiter, während er jetzt seine Begleiter musterte (selbst für Elbenaugen war es in der pechschwarzen Dunkelheit, die um sie herum herrschte, schwierig, auch nur ein paar Meter weit zu sehen), und seine Schultern, die er nervös angespannt hatte, sackten erleichtert nach unten, als derjenige, von dem die Rede war, selbst antwortete.
„Es geht mir gut." sagte Tatharlin, doch seine leicht atemlose, gepresste Stimme strafte seiner Worte Lügen. „Ich bin bloss etwas zurückgefallen."
Legolas nickte, führte sein Pferd etwas zurück, so dass er die Gesichter seiner Begleiter als bleiche Umrisse in der Dunkelheit ausmachen konnte, und tauschte einen besorgten Blick mit Briththind.
„Mein Pferd lahmt zusehends." sagte dieser sanft. „Wir werden langsamer reiten müssen."
Legolas biss sich auf die Lippen und nickte erneut. Ja, sie würden langsamer reiten müssen, oder Tatharlin, der aus einer hässlichen Wunde aus der Schulter blutete, würde ihnen früher oder später vom Pferd fallen!
„Tatharlin, Du reitest voran." entschied er dann, um nach einem weiteren Augenblick des Nachdenkens hinzuzufügen: „Zurück zum Höhlenpalast, wie wir alle."
„Den Befehl hätte ich schon lange geben müssen." erkannte er jetzt. „Gleich in dem Augenblick, in dem Tatharlin verwundet wurde, auch wenn er mir versichert hat, dass er sich stark genug fühlt, die eigentlich nicht allzu grosse Entfernung bis zu der Grenze unseres Reiches zurückzulegen, ganz so, wie es Vater uns aufgetragen hat.
Der Protest kam augenblicklich, so wie er es erwartet hatte, von seinen zwei weiteren Begleitern, die sich bisher schweigsam verhalten hatten, als Rhaundal, seine Kapuze noch immer tief ins Gesicht gezogen, dagegenhielt: „Euer Vater, Legolas, hat uns doch aufgetragen, hier, an der Grenze unseres Reiches, nach Beldàuil Ausschau zu halten." Himfaron, der sich wie gewöhnlich schweigsam verhielt, nickte beifällig zu diesen Worten, auch wenn er öfters einen forschenden Blick in Tatharlins Richtung warf.
„Und erst zurückzukommen, wenn wir ihn gefunden haben." ergänzte Legolas im Geiste sowohl Rhaundals als auch seines Vaters Worte, als er sich diese in Erinnerung rief, und unwillkürlich überlegte er sich, ob eine Spur von Bitterkeit seine Gedanken durchdrang, ähnlich der, die man verspürte, wenn man mit dem süssen Fruchtfleisch des Apfels zugleich einen von dessen Kernen zerbiss, weil jene Worte –obwohl dies unausgesprochen blieb- impliziert hatten, dass Thranduil die Sicherheit Beldàuils über die der gesamten Patrouille stellte, etwas, das eigentlich völlig undenkbar war und in der Vergangenheit nie vorgekommen, und dennoch…
„Vater muss Beldàuil wirklich verzweifelt zurückwünschen." suchte Legolas' loyales Herz sofort den Vater zu verteidigen. „Dieser ist ihm schon immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden in schwierigen Zeiten, und dass die Zeiten jetzt schwierig sind, lässt sich nicht leugnen…" Doch dieser Gedankengang, der eigentlich hätte tröstlich sein sollen, brachte sofort einen neuen Stachel mit sich, schmerzhaft und brennend wie derjenige einer wütenden Holzwespe. „Warum vertraut er sich dann nicht für einmal mir, oder Ferêryn, oder Gailgaloth an? Merkt er nicht, dass wir versuchen, für ihn da zu sein, so gut wir es eben vermögen?
Auch dieser Gedanke führte ihn auf Pfade, die er nicht gehen wollte, und Legolas biss wütend die Zähne zusammen und schüttelte unwillig den Kopf, als könne er ihn auf diese Weise aus seinem Kopf vertreiben, eine Geste, die an seine Begleiter nicht verloren ging, die sie aber nicht zu deuten vermochten.
„Legolas?" fragte Briththind vorsichtig. „Reiten wir jetzt?"
Legolas schreckte hoch. „Hier und jetzt ist nicht die Zeit, sich solche eitlen Sorgen zu machen." schalt er sich selber, ärgerlich darüber, dass er es sich erlaubt hatte, gedanklich abzuschweifen, und die vier Gesichter, die fragend, und, in Briththinds Fall, besorgt, zu ihm herübersahen, hätten ihm fast die Schamröte in die Wangen getrieben.
Ein schöner Führer bist du, dich in Gedanken zu verlieren wie ein Dichter, der gerade versucht, die Zeilen eines Liedes, die in seinem Kopf schon Form angenommen haben, zu memorisieren…
„Wir reiten zurück." wiederholte er dann, stur alle Gedanken ausser jene an die Sicherheit der Elben, die mit ihm ritten, in den Hinterkopf verdrängend. „Vater mag versessen darauf sein, Beldàuil sicher zurück im Höhlenpalast zu haben, aber er ist sicherlich nicht versessen darauf, noch mehr Patrouillen zu verlieren." Er sagte dies in einem Tonfall, der keinen Widerspruch erlaubte, und seine Begleiter taten, wie ihnen geheissen worden war, und keiner äusserte mehr einen Protest, was in Rhaundals Fall eher ungewöhnlich war.
„Gut." dachte Legolas erleichtert. „Erst einmal bringen wir Tatharlin in Sicherheit. In zwei, drei Tagen werden wir zurück im Höhlenpalast sein, und dort wird er jene Ruhe finden, die es braucht, seine Wunde heilen zu lassen und die ihm hier fehlt, was seine Verletzung schlimmer scheinen lässt, als sie in Tat und Wahrheit ist. Dann werden wir weiter sehen."
Jetzt, da er einen festen Entschluss gefasst hatte, selbst wenn er gegen die Wünsche seines Vaters ging, fühlte er etwas von dem Optimismus zurückkehren, der ihn für gewöhnlich auszeichnete, und die Kälte in seinen Gliedern – hatte er jemals zuvor in seinem Leben überhaupt gefroren? – liess etwas nach. „Vielleicht…" dachte Legolas. „Vielleicht kehrt diese Patrouille zurück, ohne einen Jäger verloren zu haben. Und vielleicht findet gar Beldàuil zum Höhlenpalast zurück, ehe noch ein weiterer Suchtrupp ausgeschickt werden kann!"
Der Gedanke an den Bruder weckte eine plötzliche Sehnsucht in ihm, Beldàuil wieder zu sehen, und schon tauchte dessen scharfgeschnittenes Gesicht vor seinem inneren Auge auf, sein charakteristisch ironisches Lächeln auf den Lippen, die grauen Augen stolz und hochmütig, und fast vermeinte er, auch seines Bruders Worte zu hören, wie sie nur allzu oft in belehrendem und gutmütig-herablassendem Tonfall an ihn gerichtet worden waren:
„Was sitzt du hier herum und träumst, kleiner Bruder? Sieh zu, dass ihr an einem Stück zum Höhlenpalast zurückkehrt – etwas, was ihr sicherlich nicht fertig bringt, wenn ihr weiterhin debattiert statt reitet – und dann sammelt ihr mehr Jäger, schwärmt aus und zeigt den Orks, wie ihr eine Verwundung von einem von euch zu rächen pflegt!
Normalerweise dienten solcherlei Belehrungen einzig dazu, ihn wütend zu machen, was Beldàuil jeweils mit einem spöttischen Funkeln in den Augen quittierte (etwas, was die Sache jeweils nicht verbesserte), doch heute schöpfte Legolas daraus Trost, zum einen, weil er sich in seinem Entschluss, zurückzureiten, bestätigt fühlte, zum andern, weil er sich jetzt eingestehen konnte, dass er die stärkende Präsenz seines Bruders vermisste, genau wie es sein Vater vermutlich tat, und dass all die Ungereimtheiten (er benutzte immer diesen beschönigenden Ausdruck im Zusammenhang mit dem Elbenkönig) in Thranduils Verhalten genau darauf beruhten und nicht darauf, dass jener das Leben seines ältesten Sohnes vor das Leben anderer stellte.
Später, wenn auch der dritte Schicksalsfaden, der vom Untergang der Waldelben erzählt, sich mit den andern beiden verwebt haben würde, sollte Legolas erfahren, wie sehr er damit recht hatte, auch wenn er sich dann verzweifelt wünschen würde, es wäre anders, ganz so, wie es ein Sprichwort der Menschen zu sagen pflegt: „Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, denn es könnte in Erfüllung gehen."
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Legolas' Optimismus verflog jedoch schon bald, als er bemerkte, wie langsam sie eigentlich vorankamen, denn Tatharlin war in einer schlechteren Verfassung, als er es zugeben wollte (er schwankte gelegentlich im Sattel und stöhnte ab und zu schmerzerfüllt auf) und Briththinds Pferd lahmte tatsächlich mehr als nur ein bisschen, sondern sogar ziemlich deutlich.
„Oh bei den Valar…" dachte Legolas mit sinkenden Herzen. „So werden wir viel zu lange brauchen, um bei Vater eintreffen.", während er die Augen zusammenkniff, um trotz des beissenden Windes, der ihnen entgegenschlug und der ihm Tränen in die Augen trieb, noch etwas zu sehen, und Briththind, der sein Pferd jetzt neben ihm hielt, schien ähnlich zu denken, denn er sagte plötzlich: „Nimm Himfaron mit dir und reite voraus, Legolas. Du kannst uns dann mit einer Gruppe Jäger entgegenkommen, von denen ein Teil Tatharlin zurückbegleiten wird, und der andere, wie das Thranduil gewünscht hat, weiter nach Beldàuil Ausschau halten wird. Wir kommen nur langsam voran, und wenn wir auf eine weitere Rotte Orks stossen…"
Das war ein Gedanke, den Legolas nicht zu Ende spinnen mochte. Unglücklich genug, dass ihre erste Begegnung mit jenen verhassten Kreaturen zu einem Verwundeten geführt hatte!
„Kommt nicht in Frage." antwortete er knapp. „Was wäre, wenn sich noch mehr Orks in der Nähe sind? Ein Verwundeter, und jemand auf einem heftig lahmenden Pferd...ihr wärt eine leichte Beute für sie!"
„Das sind wir auch zu fünft!" entgegnete Briththind, heftiger, als das man dies von ihm gewohnt war, etwas, was Bände sprach über die Nervosität, die in seinem Inneren herrschen musste, und Legolas musste sich eingestehen, dass sein Begleiter recht hatte, sollten sie das Unglück haben, auf eine grössere Gruppe Feinde zu stossen, als es die zehn gewesen waren, die zur Verwundung Tatharlins geführt hatten.
Es blieb ihm nichts, das er auf Briththinds Worte hätte erwidern können, und so ritten sie eine Weile schweigend weiter, und nur ab und zu durchbrach ein unwilliges Schnauben eines der Pferde, denen der Atem weiss von den Nüstern dampfte, die nächtliche Stille, in die jeder einzelne von ihnen, ohne es sich anmerken zu lassen, angespannt lauschte, doch für den Rest der Nacht, da schien das Glück mit ihnen zu sein, und der Nordwind blieb das einzige Übel, das sie zu erdulden hatten.
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Im Morgengrauen setzte dann erneut Schneefall ein, und die Flocken, die der Wind vor sich her jagte, waren durch die Kälte so hart gefroren, dass sie schmerzhaft auf sie niederprasselten, sich in Kleider und unbedeckte Haut verbissen wie hunderte der kleinen, schwarzen Fliegen, wie sie in den Sümpfen so zahlreich waren, und obwohl jetzt die Düsternis der Nacht dem fahlen Licht des Tages gewichen war, blieb ihre Sicht weiterhin eingeschränkt durch die dichten, tiefliegenden Wolken, die den Schnee mit sich brachten, und gerade als Legolas zu denken begann, dass jetzt eigentlich nichts mehr weiter schief gehen konnte, da wurde er eines besseren belehrt, als er das heisere Bellen eines Fuchses hörte über das Heulen des Windes, das abrupt abbrach, ein Laut, der ihn nicht weiter beunruhigt hätte, hätte er nicht warnend geklungen, und ein kurzer Blick auf Briththind genügte, ihm sich zu versichern, dass er sich den Laut nicht eingebildet hatte.
Mit einem leisen „Daro!" brachte er sein Pferd, welches begonnen hatte, mit den Ohren zu spielen, zum Stehen und lauschte angespannt, während seine Rechte wie von selbst nach seinem Bogen zu tasten begann, weil das, was er hörte, mehr als nur ein bisschen beunruhigend war.
„Jemand ist im Wald hinter uns." sagte jetzt auch Himfaron, er, der sonst doch so wenige Worte verlor, den Kopf noch immer schief geneigt, lauschend. „Ungefähr auf der Höhe der Lichtung, auf der wir die Pferde (er meinte natürlich Tatharlin, und nicht die Pferde, wollte aber diesem nicht zu spüren geben, dass er es war, der sie so verlangsamte und somit in Gefahr brachte) das letzte Mal haben ruhen lassen. Es sind viele."
Viele wovon, das sagte er nicht, doch wenn sich etwas hier zahlreich durch den Wald bewegte, konnte es sich nur um etwas handeln, das ihnen feindselig gesonnen war, und viele, das waren sie in der Tat, den Geräuschen nach zu urteilen, die aus dieser Entfernung wohl nur ein Elbengehör wahrzunehmen vermochte, und Legolas biss sich auf die Lippen und sagte: „Beeilen wir uns. Noch ist es nicht sicher, ob sie unserer Spur folgen. Vielleicht hat sie bereits der Wind verweht und verstopft die Ohren der Orks mit seinem Heulen – mehr, als sie es ohnehin von Natur aus sind."
Doch das dies nur leere Worte waren, wusste er schon, als sie ihm über die Lippen kamen, denn von einem „Beeilen" konnte in ihrer Situation nicht wirklich die Rede sein, und ebenso wenig war der Nordwind ihnen so gutgesinnt, die Spuren ihrer Anwesenheit zu verschleiern, wie er das mit den Bäumen, die nur zehn, zwanzig Meter vor ihnen standen, so erfolgreich tat, aber es würde nicht hilfreich sein, solche Gedanken jetzt zur Sprache zu bringen, und so beschränkte Legolas sich darauf, mit Himfaron eine Art schützende Nachhut für Tatharlin und Briththind zu bilden, während Rhaundal vorausritt, um den Weg vor ihnen freizuhalten, und verbissen jeden Gedanken daran zu verbannen, was passieren würde, wenn die Orks, die ihnen auf der Spur waren, sie einholen würden.
Viele von ihnen würden – sollten sie die Elben wirklich stellen – ihre Blutgier mit dem Tode büssen müssen, aber was würde der Preis dafür sein? Würde das Glück wirklich mit ihnen sein, oder würden sie schlussendlich das Schicksal der mittlerweile recht zahlreichen Patrouillen teilen, die so spurlos im Düsterwald verschwunden waren?
Es waren Gedanken in dieser oder einer ähnlichen Form, die den Elben im Nacken sassen, als sie sich zur Flucht wandten (soweit war es in jenen Tagen schon gekommen, dass Elben vor Orks die Flucht ergreifen mussten!) und die sie ihre Pferde bis zum letzten verausgaben liess, und trotz dieser Anstrengungen blieben die Geräusche ihrer Verfolger – wie zum Hohne – stetig hinter ihnen, und eine Frage der Zeit nur würde es sein, bis sie auch von ihnen gestellt werden würden.
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Dann, als Tatharlin schon so zusammengesunken auf seinem Pferd sass, dass sein Kopf fast am Hals seines Tieres ruhte, als das Stolpern ihrer Pferde so häufig wurde wie dasjenige eines jungen Rehs, das noch nicht sicher auf seinen Läufen steht, als ihre Haut brannte vor Kälte und ihre Finger steif und ungelenk geworden waren unter den unablässigen Attacken des kalten Nordwinds; da wurden sie endlich eingeholt, da tauchte er plötzlich vor ihnen auf, der erste Schatten eines Reiters mit seinem Pferd; und trotz seiner Erschöpfung hatte Legolas seinen Bogen schneller gespannt und schussbereit, als dass sein müder Verstand ihm sagen konnte, dass das nicht nötig sei; und erst als Briththind mit einem unwilligen Seufzen seinen ebenfalls blitzschnell gespannten Bogen sinken liess, da begriff Legolas und tat es ihm gleich.
Ein spöttisches, fast kaltes Lachen drang jetzt zu ihnen; und der so plötzlich aufgetauchte Reiter löste sich aus dem Schatten der Bäume, in denen er sich bisher verborgen gehalten hatte, und hielt sein Pferd auf sie zu.
„Beldàuil!" zischte Briththind erleichtert zwischen den Zähnen hervor, und dieselbe Erleichterung, die in diesem einen Wort lag, stieg Legolas augenblicklich zu Kopf und löste dort für einen Augenblick gar Schwindel aus, der aber gleich verdrängt wurde von einem wärmenden Glücksgefühl, das tief aus seinem Herzen kam und alle andern Empfindungen daneben verblassen liess.
„Beldàuil!" wiederholte er, fast jubelnd jetzt. „Du bist zurück!" und er hielt sein Pferd auf den langvermissten Bruder zu, und ihm war, als würde er erst jetzt wirklich begreifen, wie sehr er Beldàuil vermisst hatte und wie glücklich er darüber war, ihn wieder an seiner – und an seines Vaters – Seite zu wissen, ebenso, wie ihm erst jetzt bewusst wurde, dass er insgeheim die fast kindliche Hoffnung gehegt hatte, dass es, wenn schon nicht ihm oder Ferêryn, dann doch Beldàuil gelingen würde, den Elbenkönig aus seinen seltsamen, fast beängstigenden Stimmungen zu reissen und im Düsterwald die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, so wie es früher gewesen war, und so überschäumend war seine Freude, dass er den Bruder fast umarmt hätte (obwohl Beldàuil so etwas ganz und gar nicht mochte), doch als er nur noch eine Armeslänge von seinem Bruder entfernt war, hielt ihn irgendetwas davon ab, und ein Blick auf das Gesicht seines Bruders liess etwas in ihm erstarren, wie es der hartnäckige Frost mit den voreiligen Blumen des Frühlings tut, doch noch weigerte er sich, diesem Gefühl Raum zu geben, zu gross war die Freude in seinem Innern, seinen Bruder unversehrt zu wissen.
„Beldàuil! Du bist zurück!" wiederholte er, um einer jäh aufsteigenden Verlegenheit ob seiner abgebrochenen Geste Herr zu werden, doch dieser selber sagte nichts, er hielt sein Pferd an Ort und Stelle, und nichts in seinem Gesicht verriet, dass er sich seinerseits freute, den Bruder zu sehen. Die strengen Linien in seinem Gesicht hatten sich verstärkt, seine Augen blickten nicht mehr spöttisch oder hochmütig, sondern nur noch zornig, und seine Schultern hingen etwas, ganz so, als würde ihn, den Unerschütterlichen, eine Bürde niederdrücken, die er nicht ganz zu tragen vermochte.
„Was tut ihr denn hier so weit draussen?" fragte der älteste Sohn Thranduils schliesslich, als die Stille zwischen ihm und Legolas schon drückend zu werden begann. „Und was ist euch, bei den Valar, zugestossen?" Sein Blick ruhte für einen Augenblick auf Tatharlin, der diesen wohl wahrnahm und den rührenden Versuch machte, sich auf dem Rücken seines Pferdes aufzurichten, um seine Verwundung zu verbergen – ein vergebliches Unterfangen, selbst wenn seine Kräfte gereicht hätten, länger als ein paar Sekunden in dieser Position zu verharren - denn der linke Ärmel seines Mantels war, dort wo ihn der Pfeil gestreift hatte, so blutverschmiert, dass dies selbst einem Blinden auffallen musste. Beldàuil aber war alles andere als blind.
„Vater hat uns aufgetragen, dir entgegenzureiten." sagte Legolas und bemühte sich, sich seine Irritation über des Bruders befremdendes Verhalten nicht anmerken zu lassen. „Er hat seit deiner Abreise niemanden mehr gehabt, mit dem er ordentlich streiten konnte, deshalb hat er uns wohl nach dir geschickt. Statt dir sind wir aber einer Horde Orks über den Weg gelaufen. Ihr müsst sie wohl eurerseits übersehen haben."
Sein Versuch, etwas Leichtigkeit in ihr seltsames Gespräch zu bringen, verfehlte nicht seine Wirkung auf Beldàuils Begleiter, die inzwischen zu ihnen aufgeschlossen hatten, doch das Gesicht des Bruders zeigte nicht einmal den Anflug eines Lächelns.
Mit knappen Gesten gab er seinen Jägern zu verstehen, sie sollten ausschwärmen, um die Umgebung zu sichern.
„So, hat er das." sagte er. „Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich zu ihm zurückzukehren."
Weiter sagte er nichts mehr, schmallippig, mit verschlossenem Gesicht, die Augen kalt und abweisend, lenkte er sein Pferd in Richtung Höhlenpalast, und auch Legolas schwieg, zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal wütend oder unglücklich über die kalte, ja herzlos scheinende Behandlung durch seinen Bruder, bloss verwirrt, und auf eine vage, irritierende Weise traurig und ganz und gar ratlos, wie dem abzuhelfen sei, und Ratlosigkeit und Verwirrung, das sollten die hauptsächlichen Gefühle sein, die ihn noch eine ganze Weile beherrschen sollten, wenn er der Dinge im Düsterwald gedachte, bis sie dann abgelöst werden würden von Angst, Hoffnungslosigkeit und wirklicher Trauer, aber dass es einmal soweit kommen würde, davon ahnte Leoglas, der nie in den Palantir geblickt hatte, nichts, und falls er es geahnt hätte, hätte es nichts an den folgenden Ereignissen geändert, da es sowohl den Sterblichen als auch den Erstgeborenen selten vergönnt ist, einen Schicksalsfaden an einer nicht vorbestimmten Stelle zu kappen oder ihm auch nur eine andere Farbe zu verleihen.
Fortsetzung folgt…
Anmerkung der Autorin: Das war aber eine lange Pause, huh? Tut mir echt leid, ich hatte a) einen richtiggehenden Schreibstau und b) ich musste eine längst fällige Arbeit abgeben, die mich schon fast Tag und Nacht in Anspruch nahm. Nicht böse sein Bambiblickeinwerfend. Von jetzt an geht's wieder, wie das geplant war, jede Woche weiter, da ich es im Augenblick, im Ausblick auf die Weihnachtsferien, wieder etwas lockerer habe – falls überhaupt noch nicht alle die Geduld mit mir verloren haben (und die richtige Action, die ich versprochen habe, die hat auch noch nicht angefangen, seufz)…
Für Zarina: Danke für die frommen Wünsche! Es hat leider ziemlich lange gedauert, aber ich gelobe Besserung (vgl. oben). Eigentlich war es nämlich auch das Wiederlesen der Reviews, das mich überzeugt hat, endlich weiterzuschreiben, auch wenn ich das Gefühl habe, dass mir im Augenblick wirklich nicht viel einfällt, schnüff…
Für Liderphin: Na ja, es war noch zu früh, Beldàuil zu „beschädigen" – ich brauche alle Hauptakteure im Höhlenpalast, um die Dinge so richtig den Bach runtergehen zu lassen! Ich verspreche aber, dass sich die Dinge dann doch in den nächsten Kapiteln etwas zuspitzen…
Für Elanor: Nun ja, eigentlich beruht die Essenz dieses Kapitels ja auf einem deinem Reviews, in dem du sagtest, dass Thranduil den Fund des Palantirs sicherlich nicht aus kindischen Gründen verschweigen würde… dann habe ich mir erst einen „richtigen" Grund ausgedacht! Also ist das Kapitel eigentlich dir gewidmet!
Leider konnte ich den Tonfall des letzten Kapitels einfach nicht mehr treffen (deshalb auch die lange Pause), bis ich beschlossen habe, dennoch zu posten – vielleicht klappt's ja übernächstes Kapitel wieder hoff!
