Von Elben und Menschen V: Von Listen und Lügen

I.

Es gab so vieles, das Ferêryn hätte tun wollen, als er Legolas warnenden Ruf vernahm!

Bring so rasch wie möglich etwas Distanz zwischen dich und die Waffen der Orks!" hisste da die Stimme des Instinkts in seinem Kopf. „Hier hast du keinerlei Deckung vor ihren Pfeilen und wirst gleich davon durchlöchert werden!"

Bewahre das Kind vor dem sicheren Tode!" Die Stimme, die das forderte, war fast ebenso vehement, kam sie doch aus einem tapferen, edlen Herzen, und einen Herzschlag lang nur wog Ferêryn (Er war sich der Lebensgefahr, in der er schwebte, nur allzu sehr bewusst), die Möglichkeiten ab, die besagte Stimmen ihm einflüsterten, bevor er jene wählte, die es seine Pflicht war zu wählen, und mit beiden Armen das wimmernde Mädchen an sich riss.

Er hatte sich schon halb umgedreht, als ein erster, heftiger Ruck ihn aus dem Gleichgewicht brachte und ihm fast das Kind aus den Armen riss. Ferêryn wusste, was das bedeutete, und eine Welle der Wut rollte durch seine Adern, entrang ihm einen zornigen Ausruf, doch bevor sie noch von Bedauern abgelöst werden konnte – „Du hast sie nicht retten können, Ferêryn!" – da warf ihn ein zweiter, noch stärkerer Ruck, gegen irgendwo oberhalb seiner linken Hüfte, nach vorne, so dass er ins Stolpern geriet und in die Knie sank.

Zuerst fühlte er nicht einmal etwas, ausser vielleicht den bitteren, intellektuellen Schmerz einer später Einsicht und Reue, eine Falle nicht rechtzeitig erkannt zu haben, doch dann glühte der Schmerz auch in seiner linken Seite auf, so wie ein Pfeil ihn verursacht, der sich gefrässig durch Haut, Muskeln, Blutgefässe und Nerven bohrt, wuchs mit jedem Schlag seines Herzens und erblühte in einem Crescendo, das jeglichen Gedanken aus seinem Kopf und alle Kraft aus seinen Gliedern saugte.

Es hätte so vieles gegeben, was Ferêryn noch hätte tun wollen, selbst dann noch, als er halb bewusstlos über dem kleinen Menschenmädchen zusammenbrach –

doch als sich der Pfeil bei seinem Sturz noch tiefer in die Wunde bohrte, die er gerissen hatte, da erlosch all sein Denken und Wollen in der Dunkelheit, die sich – zu rasch, zu endgültig - über ihn senkte.

Sie war nicht unbarmherzig, diese Dunkelheit, ersparte sie ihm doch weitere Schmerzen und enthob ihn zumindest zeitweise der Verantwortlichkeit sowohl für das Leben des Mädchens als auch das einer seiner Begleiter (er hatte sie beide nicht vor einer viel endgültigeren Dunkelheit bewahren können, wie er später erfahren würde).

Grausam war sie höchstens, weil sie ihm den Anblick der Genugtuung vorenthielt, die Orks für all diese ihre Untaten bezahlen zu sehen, denn die andern Elben, über alle Massen hasserfüllt über diese heimtückische Falle, die zuschnappend ihnen Tod und Verletzung gebracht hatten, hatten die Hütte so mit Pfeilen eingedeckt, dass kein Ork mehr es gewagt hatte, auch nur ein Auge zu riskieren, um die Früchte seiner Hinterlist zu sehen.

Kein Elb hätte es allerdings auch wagen sollen, sich der Hütte, die eine ihnen unbekannte Zahl Feinde barg, zu nähern, um den reglos daliegenden Ferêryn (und das Menschenkind) zu bergen, doch Legolas tat es dennoch (Die Stimme des Hasses war laut in seinem Herzen und liess ihn jegliche Vorsicht vergessen) und er war es auch, der den ersten Brandpfeil auf das Strohdach der Hütte schoss und es auf diese Weise in Brand setzte. Mochten die Orks nun in ihrem Versteck verharren wie von Katzen verwundete Ratten – den Pfeilen der weiterhin wachsam die Hütte beobachtenden Elben oder dem ebenso tödlichen, Sauerstoff verschlingendem Feuer konnten sie nicht entgehen.

So gross war die Furcht (oder Feigheit) der verbliebenen Orks, dass sie den Flammentod wählten, was sicherlich eine unkluge Wahl war, da sie einen langsameren Tod bedeutete, als die Elbenpfeile ihn geboten hätten, und vielleicht brachten ihre jämmerlichen Todesschreie dem einen oder andern ihrer Häscher einen Hauch von Genugtuung – Ferêryn aber, jeder unnötigen Gewalt abgeneigt, hätte wohl, selbst wenn er bei Bewusstsein gewesen wäre, kaum so empfunden.

II.

Es gab so vieles, das Legolas hätte fühlen können! Erleichterung zum Beispiel, oder überschäumende Freude (jene, die man fühlt, wenn man weiss, dass der Frühling wirklich Einzug gehalten hat) darüber, dass Ferêryn noch am Leben war, und vielleicht auch einen Nachhall jener Angst, die ihn eben noch durchzuckt hatte. Auch Hass hätte in ihm sein können, angeschürt durch die schrecklichen Bilder, die er gesehen hatte seit dem Augenblick, in dem sie zum ersten Mal einen Fuss in dieses Dorf gesetzt hatten, doch keine dieser Empfindungen war es, die Legolas' Denken beherrschten.

All diese Gefühle hätte er jedoch verstanden, ja, sie wären ihm sogar willkommen gewesen, hätten sie dann doch jenes eine Gefühl verdrängt, dass alle andern Empfindungen in ihm verdrängte und sich so hartnäckig in ihm festgesetzt hatte wie Efeuranken an zerfallendem Gemäuer, und dieses Gefühl war das einer grenzenlosen Verwirrung und einem „Hin- und Her-Gerissensein", so wie es Legolas noch nie erlebt hatte.

Fast war ihm, als würde er Ferêryns Worte nochmals hören, die jener gesprochen hatte, als sie zu ihrem Ritt aufgebrochen waren, der sie entgegen aller Befehle Thranduils und Beldàuils zu diesem Dorf des Todes hier geführt hatte: „Diese Patrouille wird kein Spaziergang sein, Legolas!"

Legolas hatte zuerst die Stirn gerunzelt: Ob wohl jetzt auch Ferêryn damit anfing, ihn so gönnerhaft zu behandeln, wie dies Beldàuil immer tat? Dann aber hatte er begriffen. Ferêryn fragte ihn auf diese Weise, ob er bereit war, Thranduils Befehle bewusst zu missachten, und folglich auch die Konsequenzen eines solchen Tuns zu tragen.

Es war dies eine mehr als berechtigte Frage. Es gab keinen Elben, der leichten Herzens die Wünsche Thranduils missachtete (Das dies überhaupt vorkam, sprach wiederum deutlich dafür, wie arg die Dinge im Düsterwald standen), doch waren es natürlich seine Kinder, denen der sich zunehmend abzeichnende Loyalitätskonflikt am meisten zusetzte.

Nun, bis jetzt hatte sich nur Ferêryn dafür entschieden, seinen Wunsch, den Menschen zu helfen, vor die Wünsche seines Vaters zu stellen (Gailgaloth und Beldàuil hatten ihre Entscheidung zugunsten des Elbenkönigs wohl schon getroffen) während Legolas sich plötzlich eingestehen musste, dass er nicht bereit war, eine solche seinerseits zu fällen. Eine vage Unrast hatte sich in seinem Herzen breit gemacht.

„Ich will es sehen." sagte er deshalb knapp. „Sehen, was da draussen vor sich geht…"

Und damit einer Entscheidung meinerseits für oder gegen Vater weiterhin aus dem Wege gehen!

Das war es, was er eigentlich hatte sagen wollen, doch vor Ferêryn, der so konsequent und entschlossen war in all seinem Tun, da würden ihm diese Worte wohl selbst schal und unentschlossen vorkommen, und so verschwieg er sie.

Ferêryn aber, so schien es, verstand auch so, denn er lächelte und gab sein Zeichen zum Aufbruch.

Dennoch hatte dieser eine Satz, von Ferêryn so leichtfertig gesprochen, an seinem Wesen gerührt und Kreise gezogen wie ein Stein, der ein schlafendes Ungeheuer der Tiefe weckt, und das Ungeheuer in Legolas' Fall war ein Gefühl der Zwiespältigkeit, der Zerrissenheit, ein Gefühl, eine Entscheidung fällen zu müssen, für die er nicht, ja nie und nimmer wirklich bereit sein würde.

Es war dies ein Gefühl, das Legolas lange, lange verfolgen würde, selbst in einer Zeit, in der noch ganz andere Dinge (oder Wesen, von deren Existenz er nur äusserst vage Dinge gehört hatte) ihm im Nacken sitzen würden…

Das „Sehen" hatte ihm in der Tat die Entscheidung abgenommen - das hatte er wenigstens die ersten Minuten nach ihrer Ankunft im Dorf geglaubt. Nur die verderbtesten Kreaturen hätten es überhaupt betreten können, ohne dass unbändiger Zorn und Hass, oder Mitleid und tiefe Trauer sie erfasst hätten, und jemandem, der ein aufrechtes und freundliches Herz hatte, den musste sein Anblick unweigerlich zutiefst berühren.

Ja, für eine Weile war Legolas (und die andern Elben mit ihm) in eine Art heiligen Zorn gegen die Orks geraten, die schuld an all dem Elend um ihn hatten, einen Zorn, der seine Rechtfertigung in sich selbst hatte und keine Frage nach der Gerechtigkeit desselben oder der Konsequenz davon aufkommen liess.

Doch dann geschah es, dass er sah, wovon Thranduil schon lange in seinen Träumen heimgesucht wurde, das Bild seines Bruders, wie er, das Menschenkind noch immer in den Armen, von einem Orkpfeil getroffen, mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenbrach, und es war dies ein Bild, das wie auf seine Netzhaut eingebrannt schien, sich unablässig vor seinem inneren Auge wiederholte und alles andere überlagerte. So erschreckend real war es, dass Legolas immer wieder zu der Hütte hinübersehen musste, in der sich die Orks versteckt gehalten hatten, nur um sich zu vergewissern, dass jene Bilder seiner Erinnerung angehörten, dass Ferêryn am Leben war und alles gut ausgegangen…

Für dieses eine Mal gut ausgegangen…

Ungefragt durchhallte ihn dieser Gedanke, und Legolas biss, wütend auf sich selber, die Zähne zusammen und sah erneut, wie unter Zwang, zu den züngelnden Flammen hinüber.

Die Hütte, die dem Feuer nachhaltig zu trotzen schien (länger jedenfalls als die Orks den Elben!), war eben dabei, in sich zusammenzufallen und endgültig in Staub und Asche verwandelt zu werden, und in Staub und Asche zerfiel auch Legolas' Entschluss, dem Vater die Stirn zu bieten und den Menschen um jeden Preis zu helfen – jetzt, da er sich bewusst war, dass der Preis das Leben seines Bruders hätte sein können.

Und während er so im Staub sass, die aschegeschwängerte Luft atmete und die Hitze des Feuers auf seiner Haut fühlte, den Kopf Ferêryns in seinen Schoss gebettet, da schwor er sich, den Hintergründen der Geschehnisse im Düsterwald auf den Grund zu gehen und einen Weg zu finden, ihren zu verwundbaren, zu zerbrechlichen menschlichen Nachbarn zu helfen, ohne dafür den eigenen Vater ständig hintergehen zu müssen.

III.

Tulusdair, der unter den Elben jener Patrouille die geschicktesten Finger zur Wundbehandlung hatte (Alle Waldelben wussten Verletzungen jener Art, wie sie das Leben im Düsterwald mit sich brachte, zu behandeln, während die Kunst des wirklichen Heilens, wie sich zum Beispiel Elrond darauf verstand, ihnen allgemein fremd war), hatte sich, nachdem endlich der letzte Ork gefallen war, sofort des verletzten Ferêryn angenommen. Ein kurzer, mitleidiger Blick auf das Menschenmädchen hatte ihn zuvor davon überzeugt, dass von dieser Seite seine Hilfe nicht mehr, und überhaupt nie mehr, von Nöten sein würde.

Eben hatte er noch eine letzte Bandage um Ferêryns Verletzung gewunden, die, als der Pfeil erst aus ihr entfernt und das meiste Blut daraus gewaschen war, nach dem aussah, was sie wirklich war, nämlich eine relativ harmlose Fleischwunde, und das sagte er jetzt auch Legolas, der abwechselnd ihn und den Bruder besorgt musterte.

Dann aber setzte er sich neben den jüngsten Sohn des Königs, um wie dieser auf das Erwachen des Verletzten zu warten, und dankte den Valar in Gedanken dafür, dass Ferêryn keine gravierenden Verletzungen davongetragen hatte. Er tat dies schweigend, und dabei liess er seinen Blick zwischen der brennenden Hütte und Ferêryn hin- und herwandern. Ab und zu, da liess er ihn auch auf Legolas ruhen.

Die noch immer züngelnden und immer wieder aufflackernden Flammen, die sich an dem nährten, was einst Menschenhandwerk – und fünf Orks, jetzt gespickt mit Pfeilen – gewesen war, spiegelten sich in des unverletzten Elbenprinzen Augen, als jener zu der jetzt fast völlig von Feuer verzehrten Hütte hinüber sah.

Die Hitze, die von ihr ausging, verlieh seinen Wangen etwas Farbe, doch noch war sein Gesicht grau aufgrund des eben durchlittenen Schreckens. Es nahm einen weichen Ausdruck an nur dann, wenn er den Blick auf seinem Bruder ruhen liess, den sie sorgsam auf den Boden gebettet hatten, zugedeckt mit ihren Mänteln, und dessen Kopf nun in seinem Schoss ruhte, und wurde sofort wieder hart und auf eine unbestimmte Art kantig, wenn er wieder zu dem Feuer hinüber sah.

Es wäre keine Art, einen Bruder in einem solchen Hinterhalt zu verlieren." dachte Tulusdair. „Kein Wunder, dass Legolas noch immer ziemlich durcheinander aussieht. Selbst mir steckt der Schreck noch in den Knochen, obwohl ich „nur" einen Freund zu verlieren hatte! Ob auch er darüber nachdenkt, dass Thranduil mit seinem Verbot, unsere Patrouillengänge auszuweiten, vielleicht doch nicht ganz Unrecht hatte? Fast scheint mir, als hätte er Ereignisse wie diese vorhergesehen, bevor sie noch passiert sind!"

Mochte Tulusdair auch im Bezug auf Thranduil dichter an der Wahrheit sein, als er selbst ahnen konnte, den Kern von Legolas Gedanken erriet er nicht.

Es war nicht Thranduils mögliche Reaktion auf ihren missglückten „Ausflug", über die Legolas nachdachte. Nein, Legolas dachte darüber nach, wie gerecht das Ende der Orks gewesen war, das unzählige Pfeile ihnen gebracht hatten, oder, falls ihr Leben dann noch nicht entflohen war, das erstickende Feuer.

Gerecht, weil es genau das Ende war, wie es die Menschen aus dem Dorf hier (Wie viele Kinder waren wohl von ihren Eltern in den Hütten versteckt worden und dem anfänglichen Gemetzel entgangen, nur um dann lebendigen Leibes verbrannt zu werden?) gefunden hatten, grausam, doch schon fast auf eine poetische Art und Weise gerecht…

Der Gedanke, Zeuge einer grausamen, rächenden Gerechtigkeit gewesen zu sein, gefiel Legolas (Er entsprach dem Denken der Waldelben) und liess ein wildes Lächeln auf seinen Lippen erscheinen, das nichts freundliches an sich hatte, seinen Widerhall aber auf Ferêryns Lippen fand, als dieser die Augen aufschlug und die Gestalt seines Bruders über sich gebeugt sah.

IV.

„Keine Spaziergänge, diese Patrouillen, nicht wahr, Ferêryn?" sagte Legolas, als er seinem Bruder (der ernsthaft Anstalten dazu machte, von alleine auf die Füsse zu kommen, sobald er wieder einigermassen bei Sinnen war) auf die Beine half, und er lächelte noch immer, ein starres Lächeln, dass er kaum auf seinem Gesicht halten konnte aufgrund der Angst, die er eben noch empfunden hatte, die ihn noch immer durchzitterte wie ein Windhauch die Wasseroberfläche eines Teichs, die ihn steif und linkisch werden liess (Ferêryn erhob sich wohl eher aus eigenen Kräften denn mit seiner Hilfe) und die seine Mimik hatte gefrieren lassen.

„Alles andere als, Bruder.." sagte Ferêryn reuevoll, während seine Rechte sich schützend über die Wunde in seiner linken Seite legte, eine Bewegung, die ihn aufstöhnen liess, und sein marmorblasses Gesicht, seine zitternden Knie, die fest zusammengepressten Lippen – all dies sprach Bände über des Elben wahren Zustand, auch wenn Ferêryn bei weitem zu störrisch war, um Schmerzen jeglicher Art (seien sie körperlicher oder seelischer Natur) zuzugeben.

Leg dich wieder hin!" wollte Legolas sagen, und „Wie viel Blut, meinst du, hast du denn noch zu verlieren?" doch dann folgte er dem Blick seines Bruders, der auf tote kleine Menschenmädchen gerichtet war, und er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Ferêryn aufzuhalten, als dieser schwankend zu dem Kind hinüberging und auf sie nieder sah, einen bitteren Zug um den Mund.

Er besah sie sich nur einen Augenblick, dann wischte er sich über die Augen mit der linken Hand, die wohl von seinem wie auch ihrem Blut noch besudelt war, und senkte den Kopf, erschüttert, plötzlich erschöpft wirkend und müde in einer Art, wie ein Elb nie müde werden sollte.

Sie hatten ihr die Augen geschlossen (Sie hatten von dieser menschlichen Sitte gewusst) und sie in einen ihrer Mäntel gewickelt, sorgsam, als wäre sie noch immer ein lebendiges Wesen und nicht etwas, das leblos und längst zerbrochen war und jetzt für immer geschützt gegen alle Schmerzen und jegliches Böse in dieser Welt, die sie so unendlich kurz nur getragen hatte.

„Es ist besser für sie…" hörte Legolas plötzlich seinen Bruder sanft sagen. „Ihr Bein wäre vielleicht für immer verkrüppelt geblieben, und sie hat ihre ganze Familie verloren. Es wäre zuviel Leid für sie gewesen, all dies zu ertragen…"

Seine Stimme klang, als würde er dies vor allem sich selbst versichern, ohne dass es ihm jedoch gelingen würde, aus seinen eigenen Worten Trost zu schöpfen, und Legolas hob den Kopf, den er ebenfalls gesenkt hatte, fast schuldbewusst jetzt – war es nicht er es, der dem Bruder Trost hätte bieten müssen, da sich dieser, wie er nur zu gut wusste, nicht nur die Schuld am Tod des Menschenmädchens, sondern auch an dem ihres Begleiters gab?

Seltsam steif (selbst seine Glieder schienen vor Trauer zu schmerzen) ging er zu Ferêryn herüber und legte ihm einen Arm um die Schulter, in einer Geste, die ihm selbst linkisch vorkam und die ihm mindestens ebensoviel Wärme spendete wie jenem, der sie empfing, und für einige Sekunden standen sie so und warteten, bis die Angst, die sie eben noch erduldet hatten, und die schlimmste Trauer aus ihnen verebbte wie das Meerwasser, zurückgerufen von den Kräften des Mondes.

„Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun." sagte Ferêryn schliesslich, womöglich noch blasser, grauer im Gesicht als vorher. „Lass uns zum Höhlenpalast zurückkehren."

„Wir werden niemals rechtzeitig – so wie Vater uns erwartet – zurückkehren." erwiderte Legolas resigniert und musterte besorgt seinen Bruder, den ein Zittern überlief, das er nicht zu unterdrücken vermochte. „Nur einige Gewaltritte würden uns jetzt noch rechtzeitig zurückbringen – und einen solchen wirst du nicht auf dich nehmen, solange ich es irgendwie verhindern kann."

„Die Menschen müssen begraben werden." sagte Ferêryn, ohne auf Legolas' Worte einzugehen, und kein Wort des Protests über das beschützerische Gehabe des jüngeren Bruders kam über seine Lippen, etwas, das diesen zutiefst beunruhigte, genauso wie der Blick, den Ferêryn auf dem toten Mädchen hatte ruhen lassen.

Jetzt warf er warf einen weiteren Blick auf Legolas, lächelte sein unverkennbares spöttisches Lächeln , dieses Mal nicht frei von einer oberflächlichen Zärtlichkeit (Mach dir keine Sorgen um mich, kleiner Bruder, wir haben überlebt, meinte es) und wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders, als er womöglich noch blasser wurde und seine Knie einknickten unter ihm nachzugeben drohten wie die Halme von überreifem Roggen. Nur der rasche Zugriff seines Bruders rettete ihn vor einem neuen Sturz zur Erde.

„Genug jetzt." sagte Tulusdair, der der älteste Elb unter ihnen war und manchmal zu vergessen neigte, wer offiziell das Kommando in der Patrouille hatte. „Du wirst deine Heilung verzögern, wenn du weiterhin so herumzappelst wie ein Fisch, der aufs Trockene gezogen werden soll! Leg dich wieder hin, bis du wieder etwas mehr Farbe hast als…"

Er hatte wohl etwas Unpassendes sagen wollen, verschluckte dies aber noch rechtzeitig und verfiel zurück in sein für ihn charakteristisches Schweigen. Zu seiner Erleichterung aber sah er, wie der Sohn des Königs seinem Rat gehorchte.

Mehr als erleichtert bin ich." dachte er bei sich selber. „Denn lieber würde ich gar den Düsterwald für immer verlassen, als Thranduil vom Tod eines seiner Kinder berichten müssen!" Und er beschloss dafür zu sorgen, dass man Legolas' Ratschlag ausführen würde, mochte auch Thranduil dadurch von ihrem Ungehorsam erfahren.

V.

Es waren in der Tat einige Gewaltritte, die Legolas und seine Begleiter (ihre Truppe war auf die Hälfte zusammengeschrumpft, da ein Teil der Elben mit Ferêryn im Dorf geblieben war) zum Höhlenpalast zurückzulegen hatten, und trotz all ihrer Eile geschah es, dass sie sich am Tag, an dem sie zurückerwartet wurden, noch immer einige Wegstunden davon entfernt fanden.

Diese Tatsache liess Legolas' Laune, um die es ohnehin nicht besonders gut bestellt gewesen war (Die Sorge um den Bruder nagte noch immer an ihm, und noch hatte er sich die Worte nicht zurechtgelegt, mit denen er den unzweifelhaft wütenden Thranduil zu beschwichtigen gedachte, ohne die wahren Gründe für ihre Verspätung und Ferêryns Verletzung an den Tag zu legen) fast so tief sinken wie die Temperatur, die um sie herum herrschte. Die Nacht begann sich um sie zu senken und machte einen unangenehmen Ritt damit noch unangenehmer.

Die Elben sprachen nicht, fühlten sie sich doch alle so niedergedrückt wie Legolas, und eine Stille, untermalt nur vom leisen Heulen des Nordwindes (er würde am Morgen Schnee mit sich bringen, kalt wie er war) hatte sich über sie gesenkt, die genauso drückend war wie eine tiefe, alles erstickende Schneedecke, so dass sie, wie es selten genug vorkam, keinerlei Trost fanden in aufheiternden Gesprächen oder gar Scherzworten, die sie sich normalerweise zuwarfen, und so kam es denn für Legolas keineswegs überraschend, als der zuvorderst reitende Elb plötzlich sein Pferd innehielt, nach seinem Bogen griff und in die Dämmerung vor ihm starrte.

Es musste ja so kommen!" dachte Legolas düster, was ihn aber nicht daran hinderte, blitzschnell seinen eigenen Bogen zu spannen. „Bis jetzt ist ja noch nicht ganz alles schief gegangen, was hätte schief gehen können!"

Auch er hatte die Geräusche vor ihnen gehört, kaum wahrnehmbare Geräusche, die aber dennoch von der Anwesenheit einer grösseren Gruppe Wesen zeugten, die sich zielstrebig vorwärts bewegten. „Bis jetzt haben uns nämlich noch die Orks oder Spinnen gefehlt. Oder ähnlich attraktive Dinge."

Legolas und seine Elben verharrten, beobachteten die Bäume vor sich, in deren Schatten sich alles Mögliche verborgen halten konnte: Feinde, Wesen, die ihnen gegenüber gleichgültig gesinnt waren, oder aber gar Freunde…

Letzteres war der Fall.

„Was für eine Art, den Bruder über gespannten Bögen zu begrüssen!" erhallte es jetzt vom Ursprung der Geräusche her, unverkennbar spöttisch. „Hat dir die Dämmerung völlig die Sicht geraubt, Legolas? Oder lässt sie dich uns nur noch als Orks wahrnehmen?"

Fast hätte Legolas gelächelt, als er diesen Zuruf hörte, aber nicht, weil Beldàuil in scherzhaftem Ton gesprochen hatte, sondern weil er die Rüge (eine solche waren des Bruders Worte, unverkennbar) ebenso gut an sich selber hätte gerichtet haben können, denn auch er hatte seinen Bogen gespannt gehabt, aber er hatte ihn etwas schneller als Legolas gesenkt.

Während die Elben, die Legolas begleitet hatten, erleichtert murmelnd ihre Waffen wieder verstauten und leise Begrüssungen mit den Ankömmlingen austauschten, trieb Legolas sein Pferd so an, dass es neben dem Bruder zu stehen kam. Er fühlte keinerlei Erleichterung, Beldàuil hier zu sehen, denn sie waren ja die Patrouille, die diese Gegend hier kontrollieren sollte (Dieses Wissen hatte sie ja auch die Waffen ziehen lassen, als sie die Annäherung der andern Elben bemerkt hatten), und wenn Beldàuil mit anderen Elben hier patrouillierte, hiess das sicherlich, das etwas geschehen war. Etwas Ungutes, das konnte man Beldàuil vom Gesicht ablesen.

Hoffentlich verberge ich die Unbill unseres so unglücklich verlaufenen Ritts etwas besser!" dachte er bei sich, während er nun auch den Bruder begrüsste, trotz allem froh, diesen zu sehen, und auch Beldàuils Worte waren herzlicher als üblich.

Oder besser gesagt, das waren sie, bis Beldàuil seinen Blick über ihre verringerte Zahl wandern liess und seine Augen schmal und berechnend wurden. „Wo sind Ferêryn und seine Begleiter?" fragte er. „Wieso habt ihr euch getrennt? Ihr solltet alle längst zurück sein!"

„Ferêryn und die andern…" sagte Legolas und wunderte sich, dass seine Lügen ihm so glatt und gelassen über die Lippen kamen, ihm, dem das Lügen doch sonst so schwer fiel (Lügen wurden überhaupt von den Waldelben sehr verachtet, während sie Kriegslisten, wie sie es nannten, uneingeschränkt Bewunderung entgegenbrachten) „…sind noch einmal die Grenzen entlang zurück geritten. Sie haben eine ganz Schar Screekers gesehen, und da diese eigentlich immer in der Gegenwart von Orks anzutreffen sind, hielten wir es für klug, uns zu trennen. Ferêryn klärt ab, ob die Screekers eine Bedrohung für uns darstellen, und ich und die meinen sind voran geeilt, um Vater Meldung zu erstatten. Er dürfte auch so schon genügend beunruhigt sein…"

„Das ist er." sagte Beldàuil kurz, während seine scharfen grauen Augen Legolas angespanntes Gesicht musterten. „So besorgt, dass er uns euch entgegengeschickt hat." Sein Ton machte es deutlich, dass er diese Aufgabe für unnötig gehalten hatte, hätten Ferêryn und Legolas bloss genügend Verantwortlichkeit besessen, rechtzeitig zurückzukehren! Was sein Ton aber nicht deutlich machte, war, ob er Legolas' Aussagen Glauben schenkte oder nicht.

Jetzt nickte er nur, um sich dann an der Spitze aller Elben auf den Heimweg zu machen, und normalerweise hätte Legolas sich, wie schon so oft, gewundert, was in aller Welt denn passiert war, ihm den Bruder derart zu entfremden, und was es war, das zwischen ihnen stand und sie daran hinderte, einander zu erreichen, aufeinander einzugehen, anstelle jene Versteckspiele mit Worten zu spielen, wie sie das jetzt taten.

Heute jedoch, da brauchte er sich dies nicht zu fragen, da wusste er es selber, was zwischen ihnen stand: Mehr Lügen, als er sie in seinem ganzen Leben bisher erzählt hatte.

So wusste er denn nicht, ob er froh darüber sein sollte oder nicht, als Beldàuil nach einer Weile sein Pferd langsamer werden liess, bis er an Legolas Seite ritt, und fragte (in einen wohltuend besorgten Tonfall) : „Alles in Ordnung mit Dir, Legolas?"

Als Antwort nickte Legolas nur stumm.

Schon immer hatte ich von Beldàuil den Eindruck, dass er Gedanken lesen kann. Nur nicht zuviel sagen also! Es wird ihm umso leichter, dich bei einer Unwahrheit zu ertappen, je mehr Worte du verlierst!

Die nächsten Worte Beldàuils hätten ihrerseits wohl sowieso jedes Wort auf seinen Lippen ersterben lassen, und Legolas, der gedacht hatte, dass ihn heute nichts mehr würde erschüttern können, hielt für einen Augenblick überrascht inne, als er sie hörte.

„Gut." sagte Beldàuil. „Vater hat einen Auftrag für uns, dich und mich, kleiner Bruder. Wir sollen nach Bruchtal reiten."

Fortsetzung folgt…

Anmerkung der Autorin: Ha, ein Lebenszeichen! Lang genug hat's gedauert. Ich bin, glaube ich, noch nie so lange vor einem Kapitel gesessen, ohne auch nur eine sinnvolle Zeile zu Papier zu bringen! Nun, da diese Zangengeburt endlich zu Papier gebracht ist, kann ich wenigstens jetzt versprechen, dass die nächsten Updates –grosses Ehrenwort – nicht mehr so lange auf sich warten lassen, weil ich das nächste Kapitel schon fast fertig geschrieben habe. Im März winken mir zudem zwei Wochen Ferien… Danke für die Geduld allerseits! Ich hoffe, ich war nicht zu grausam, das Mädchen sterben zu lassen. Ich hab mir das lange, lange überlegt…

Für Liderphin: Das „U suck" war mein Versuch, in Netspeak zu sprechen, aber das ist auch alles, was ich hinkriegen würde, weil ich eben nicht gerade für meinen kurzen und prägnanten Stil bekannt bin…Ich bin auch froh, dass der Kommentar geklärt ist! Ich will doch meine leidgeprüften Reviewer nicht zusätzlich noch „beleidigen"! Noch froher bin ich allerdings, wenn ich so schöne Reviews wie deine kriege… „Beruhigungstabletten einwerfen" Hehe, das gefällt mir (aus Autorensicht) natürlich ausserordentlich! Danke schön!

Für Elanor: Bei mir ist es schon langsam das schlechte Gewissen, das mir den Schlaf raubt, weil ich so langsam bin! Um dieses Kapitel fertig zu stellen, habe ich mir sogar wieder einmal „The fellowship" auf DVD angesehen, um endlich wieder etwas voranzukommen. Nun, dieses Mittel hat einigermassen gewirkt – viel einfacher wäre es aber gewesen, einfach Deine (oder alle meine Reviews) auszudrucken und nochmals durchzulesen. Dein letztes fand ich ganz besonders inspirierend - ! Ich bin im Übrigen selbst froh, dass die Geschichte langsam etwas actionlastiger wird – die Szenen schreibe ich normalerweise nämlich rascher als die andern. Auf wirklich bald und (wie immer) herzlichen Dank für deine ermutigenden Worte!

Für Melethil: Das Alter Legolas' ist (soviel ich weiss) nirgends festgelegt. Da er sicher älter als Arwen ist, schätze ich ihn auf mindestes 3000 Jahre. Leider wirkt er in meinen Storys immer ziemlich „kindlich", nicht wahr? Er ist jedenfalls sicherlich mehr auf den Buch-Legolas als auf dem Film-Legolas basiert… Ich bin aber gerade dabei, den Mittelteil auszuschreiben, und da zumindest wird er zu kriegerischer Hochform auflaufen, versprochen! Herzlichen Dank auch weiterhin für die Reviewtreue!