Nienna: Hihi, freut mich, dass dir das Kapitel gefallen
hat. Das mit der Pfeife war so ziemlich ein Spontaneinfall, das musste ich
einfach einbauen. =)
Gekämpft wird noch nicht in diesem Kapitel, aber schon bald.
Und ob Dorlas oder Núneth stirbt, das verrate ich doch nicht! =) Lass dich
überraschen!
Ich entschuldige mich für die etwas längere Wartezeit, ich war noch in den Ferien. Hier kommt nun also das nächste Kapitel.
Kapitel 6 – Entdeckungen
Der Morgen kam allzu schnell und nach einem kurzen Frühstück setzte sich das Heer wieder in Bewegung. Denethor hatte zuvor verkündet, dass sie morgen die Stadt erreichen würden und sie deshalb am heutigen Tag das Tempo halten mussten.
Die Sonne brannte heiss an diesem Tag im Frühsommer, aber Thorongil bemerkte die Hitze kaum. Die Umgebung hatte ihn ganz in ihren Bann geschlagen. Fasziniert bewunderte er die hügelige Landschaft von Lossarnach mit ihren vielen Blumen. Das Gras auf dem sie liefen, war hoch und kein lebendiges Wesen schien diesen Boden je betreten zu haben. Etwas weiter südwestlich lag ein kleiner Mischwald, aus dessen Mitte ein Fluss sich seinen Weg bahnte. Thorongil war weit herumgekommen, aber noch nie war er so weit in den Süden gereist.
Auf einmal hielt das Heer an und Thorongil schaute angestrengt nach vorne. Sie waren etwa in der Mitte der Heerschar, aber er konnte trotzdem deutlich sehen, wie Denethor abstieg und etwas am Boden genauer zu betrachten schien. Anscheinend waren schlussendlich Anzeichen des vergangenen Kampfes aufgetaucht. Unruhe machte sich unter den Männern bemerkbar und auch Thorongil hätte gerne gewusst, welche Art von Spuren der Heerführer gefunden hatte. Als Denethor wieder auf sein Pferd stieg, konnte Thorongil in seiner Hand einen abgebrochenen Pfeil erkennen.
Das Heer setzte sich erneut in Bewegung und bald sahen alle die Anzeichen des Kampfes. Das Gras war niedergetrampelt, Blut klebte an den Halmen und vereinzelt lagen Bruchstücken von Waffen auf dem Boden. Leichen aber waren keine zu sehen, weder von Menschen noch von anderen Kreaturen.
Thorongil versuchte, sich die Spuren genauer anzusehen, was aber schwierig war während dem Gehen. Ausserdem war die Wiese hier von Spuren nur so übersät und es grenzte ans Unmögliche, etwas Einzelnes daraus herauszulesen. Trotzdem fielen ihm einige der Abdrücke besonders auf, da eine grosse Anzahl von Halmen in eine Richtung zeigte, als hätte jemand etwas Schweres über die Wiese geschleift. Alle Halme zeigten in Richtung Wald, an dem sie gerade vorbeigingen. Niemand anderem schienen diese Spuren aufzufallen.
Thorongil wusste, dass sie in grosser Eile waren und dass Denethor bestimmt keinen Halt einlegen würde, damit ein übereifriger Soldat einer spannenden Fährte nachgehen konnte, aber dennoch spürte er, dass die Spur wichtig war. Zu wichtig um ihr nicht zu folgen.
Er kämpfte sich durch die Reihen der Männer neben sich, bis er am Rand angekommen war. Dort kniete er sich hin, ungeachtet der Blicke, die ihm die anderen Soldaten zuwarfen. Eine besonders grosse Blutlache färbte die Erde rot zu seinen Füssen und Thorongil wusste mit Sicherheit, dass es Menschenblut war.
Bevor er die Spuren genauer untersuchen konnte, hörte er Hufgetrappel hinter sich und er drehte sich um. Denethor hatte vor ihm sein Pferd zum Stehen gebracht und schaute mit finsterer Miene auf ihn herab.
„Ich habe mir schon gedacht, dass ich noch von dir hören würde, Thorongil. Es wäre auch zuviel von dir verlangt gewesen, einfach zu gehorchen."
Thorongil zählte innerlich bis auf zehn und stand dann auf.
„Es war nicht meine Absicht, mich Euch zu widersetzen, aber diese Spuren…"
„Ja, ja, wir alle können erkennen, dass sie von einem Kampf stammen", schnitt Denethor ihm ungeduldig das Wort ab. „Das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, deinen angestammten Platz zu verlassen, um dich wichtig zu machen. Wir haben eine Aufgabe zu erledigen und das duldet keinen Aufschub."
„Mit Eurer Erlaubnis, mein Herr", redete Thorongil eindringlich auf den Heerführer ein und betete in Gedanken darum, dass der andere ihn ausreden lassen würde. „Diese Spuren sind wichtig. Ich verstehe ein wenig vom Spuren lesen und ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie dort drüben in den Wald führen."
„Wie willst du dir dabei sicher sein?", fragte Denethor misstrauisch, jedoch etwas weniger feindlich. „Der ganze Platz hier ist mit Spuren übersät, und es ist unmöglich, eine klare Richtung zu erkennen."
Thorongil schüttelte den Kopf und liess sich wieder auf die Knie nieder, den Blick auf die Spuren vor ihm gerichtet.
„Nicht unmöglich, aber schwierig. Doch seht Euch die Halme an, sie zeigen alle in eine Richtung. Ausserdem erkennt man hier eine Mulde, als wäre hier etwas Schweres gelegen, dass dann in den Wald geschleppt wurde. Das „etwas" hat jedenfalls geblutet."
Thorongil fuhr mit der Hand leicht über das getrocknete Blut an den Gräsern. Dann blickte er auf, um Denethors Reaktion abzuwarten. Der Heerführer schaute nachdenklich auf die zertrampelte Erde vor seines Pferdes Hufen. Seine Züge festigten sich, als er seine Entscheidung traf und abstieg.
„In Ordnung, Thorongil, wir werden uns deine Spuren ansehen. Aber ich warne dich: Falls du uns nur unnötig aufhältst, wird dieses Vergehen bestraft werden. Ruf deine Truppe zu dir, sie soll mitkommen. Der Rest der Männer bleibt hier."
Denethor liess sein Pferd bei seinen Hauptmännern zurück und folgte Thorongil und dessen Truppe über die Wiese und auf den Wald zu. Als sie etwas vom Kampfplatz wegkamen, sahen auch die anderen, was Thorongil bereits am Anfang entdeckt hatte. Die Spur wurde breiter und deutlicher zu erkennen.
Thorongil ging ihnen voran in den Wald. Die Kühle des Waldes war angenehm und tief atmete er die frische Luft ein. Sofort jedoch nahm er noch einen weiteren Geruch wahr, der neben der Frische und des Waldes nur fein in der Luft hing. Aber Thorongil erkannte ihn sofort und schloss in Trauer seine Augen, denn er wusste, was sie weiter im Wald erwarten würde. Wer einmal den süsslichen, verwesten Geruch des Todes wahrgenommen hatte, vergass ihn so schnell nicht wieder.
Als sie etwas weiter hineingingen und der Geruch stärker wurde, sah Thorongil in den Gesichtern seiner Männer die ersten Anzeichen von Nervosität und Angst.
„Was ist das für ein Gestank?", fragte Dorlas mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Ich denke, du weißt was es ist, Dorlas. Verwesung", antwortete Thorongil leise und drehte sich dann zu Denethor um.
„Ist es nötig, dass wir das alle sehen müssen?", fragte er, denn er wollte seinen Männern den Anblick wenn möglich ersparen.
„Früher oder später werden sie sowieso mit dem Tod in Berührung kommen, Thorongil. Besser sie lernen es jetzt als erst in der Schlacht."
Thorongil nickte einmal kurz. Was blieb ihm anderes übrig?
Der Gestank wurde immer stärker und es wurde schwierig, normal zu atmen. Thorongil hörte, wie Núneth hinter ihm nur kurze Atemzüge nahm und er selbst kämpfte mit der aufsteigenden Übelkeit, die der Verwesungsgeruch hervorrief.
Vor ihm blieb Denethor auf einmal stehen. Thorongil trat neben ihn und schaute mit angehaltenem Atem auf das ihm gebotene Bild.
Die Körper von nahezu hundert Soldaten lagen vor ihnen in einer Mulde, achtlos auf einen Haufen geworfen. Der Verwesungsprozess war bei dieser Hitze schon ziemlich weit fortgeschritten und es war schwierig, überhaupt Einzelheiten auszumachen. Trotzdem erkannte man klar die Rüstungen der gondorianischen Soldaten und zuoberst auf dem Haufen steckte wie zum Hohn ein zerschlissenes Banner mit dem weissen Baum darauf.
Hinter Thorongil kamen die jüngeren Soldaten hervor und einige würgten schwer als sie die Leichen ihrer Kameraden sahen. Núneth fiel auf die Knie und übergab sich. Schwer schluckend trat Thorongil an ihre Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Denethor aber wandte sich angewidert von der jungen Frau ab.
„Das ist der Grund weshalb ich keine Weiber in den Heeren haben wollte."
Mit einer ungeduldigen Handbewegung rief er Thorongil zu sich.
„Komm, wir gehen näher. Wir müssen wissen, ob Calmacil, der zweite Heerführer, unter ihnen ist. Schick deine Truppe aus, sie sollen die nähere Umgebung absuchen. Vielleicht finden sie noch mehr unangenehme Überraschungen."
Thorongil nickte und erteilte seiner Truppe die Befehle, dann folgte er dem Heerführer zum Leichenhaufen. Denethor wies ihn an, nach Calmacil zu suchen, während der Heerführer selber etwas abseits stand, einen Stofffetzen vor Mund und Nase haltend.
Es kostete Thorongil Überwindung, in dem Leichenhaufen herumzuwühlen. Glücklicherweise dauerte es nicht lange bis er gefunden hatte, wonach sie suchten. Auf Thorongils Ruf hin kam Denethor näher und besah sich den Leichnam des Heerführers.
„Ich bin mir sicher, dass er ehrenvoll gestorben ist", sagte Denethor leise und senkte respektvoll seinen Kopf vor Leichnam Calmacils. „Wir haben keine Zeit, ihnen ein rechtes Grab zu schaffen. Es gefällt mir gar nicht, die Leichen einfach hier zurückzulassen, um den Waldtieren als Frass zu dienen, aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen weiter."
„Wie viele Männer sind mit Calmacil ausgerückt?", fragte Thorongil.
„Etwa hundertfünfzig Soldaten."
„Dann müssen wir uns umso mehr beeilen, denn mit so wenigen Leuten und ohne ihren Heerführer werden die restlichen Männer nicht lange aushalten."
Denethor nickte etwas widerwillig und gemeinsam gingen sie zurück. Der Rest von Thorongils Truppe stiess auf sie und meldete keine weiteren solcher grauenvollen Haufen in der näheren Umgebung.
Zurück beim Heer erklärte Denethor seinen Hauptmännern kurz, was vorgefallen war, dann ging er auf sein Pferd zu. Bevor er aber wieder aufstieg, hielt er kurz inne und drehte sich dann langsam zu Thorongil um.
„Du hattest Recht, Soldat", sprach er leise und es war klar auf seinem Gesicht geschrieben, wie schwer es ihm fiel, die Worte zu äussern. „Wir wissen nun, dass nicht alle in diesem Kampf gestorben sind, dass noch Hoffnung besteht. Gute Arbeit."
Sobald Denethor zu Ende gesprochen hatte, drehte er Thorongil abrupt den Rücken zu und bestieg sein Pferd. Mit einem unsanften Ruck riss er es herum und ritt dann wieder an die Spitze des Zuges.
Thorongil blieb stehen wo er war und schaute dem Heerführer nachdenklich nach. Denethor war ein fähiger Führer, aber sein Stolz war nicht zu unterschätzen. Aber er schien ein gerechter Mann zu sein und vielleicht würden sie ja doch noch gemeinsam auskommen. Der erste Ast über den Abgrund war jedenfalls gelegt, auch wenn es noch ein langer Weg sein würde, bis daraus eine Brücke entstand.
Der Heereszug setzte sich erneut in Bewegung und das Tempo wurde noch etwas gesteigert. Thorongil reihte sich wieder in seinen angestammten Platz ein. Núneth lief neben ihm und er sah, dass sie noch immer sehr blass war. Das Gesehene schien sie schockiert zu haben und es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie es verarbeitet hatte.
Thorongil nahm es ihr nicht übel, im Gegenteil. Er fühlte sich mit ihr verbunden, er konnte sie verstehen. Seine erste Begegnung mit dem Tod kam ihm ihn den Sinn. Zusammen mit Elladan und Elrohir war er auf ein völlig zerstörtes Dorf gestossen. Orks hatten es überfallen. Männer mit simplen Waffen lagen auf der trockenen Erde, so wie auch Frauen und Kinder. Sie hatten nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt.
Noch jetzt fühlte er die gleiche Wut und gleichzeitig Hoffnungslosigkeit und Abscheu in sich aufsteigen, wenn er daran zurückdachte. Er war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen. Aber seine Brüder waren für ihn da gewesen, sie hatten ihn getröstet und lange mit ihm geredet, so dass die schrecklichen Bilder in seinem Kopf schliesslich verblasst waren.
Núneth hatte im Moment niemanden von ihrer Familie um sich und sie musste sich sehr alleine vorkommen. So übertrug Thorongil sich selbst die Aufgabe, sich um sie zu kümmern.
Er trat an sie heran und legte ihr sachte die Hand auf die Schulter.
„Núneth, bitte sieh mich an."
Sie gehorchte und hob langsam ihren Kopf. Tränen glitzerten in ihren Augen und Schatten hatten sich über ihr zierliches Gesicht gelegt.
„Es… es tut mir leid… dass ich vorhin versagte. Der… der Anblick war einfach… grauenvoll", flüsterte sie stockend und sehr beschämt.
Thorongil schüttelte traurig den Kopf.
„Nein, du musst dich nicht entschuldigen, denn du hast keinen Fehler begangen. Du hast nur menschliche Gefühle gezeigt und das ist bestimmt nicht verwerflich."
Núneth nickte leicht und Tränen rollten ihr über die Wangen.
„Es… es waren so viele. So viele Tote und auf so grässliche Art ermordet. Weshalb? Welche Art von Kreatur bringt so etwas zu Stande? Was ist der Sinn von all dem Töten?"
Eine neue Woge von Mitgefühl durchflutete ihn, denn er sah in ihren Augen eine Dunkelheit und Trauer, die ihn zutiefst berührte. Es war als halte man ihm einen Spiegel vor seine Seele. Die genau gleichen Fragen hatten auch ihn fast aufgefressen, als er das erste Mal die schützenden Mauern von Imladris verlassen hatte.
„Das sind Fragen, auf die man so schnell nicht antworten kann. Ich weiss nicht, weshalb es soviel Elend und Schlechtes auf dieser Welt gibt. Es kommt mir manchmal so vor, als gäbe es nur Schlechtes in dieser Welt, nur Gewalt und Morden. Aber jetzt wirst du denken, weshalb ist er dann der Armee beigetreten? Vielleicht weil es doch noch Dinge in dieser Welt gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und weil ich fest daran glaube, dass es irgendeinmal möglich ist, in Frieden nebeneinander zu leben. Ohne Gier, Hass und Streit. Gondor soll bessere Zeiten erleben als es sie jetzt hat und ich bin bereit, alles dafür zu geben, dass es verwirklicht wird."
Thorongil hielt inne und liess den letzten Satz ausklingen, bevor er wesentlich sachlicher fortfuhr.
„Sicher ist, dass Saurons Schergen dahinterstecken. Ich denke nicht dass es Orks waren, denn dafür haben sie zu überlegt gehandelt. Wahrscheinlich waren es die Haradrim, das Volk aus dem Süden."
Als Núneth nur weiterhin starr vor sich hinblickte, fügte er leise hinzu: „Es wird alles gut werden, Núneth. Manchmal ist Krieg der einzige Weg, den wir noch übrig haben. Aber es werden andere Zeiten kommen, in denen wir vielleicht auch mit den Haradrim in Frieden werden leben können."
Endlich schienen die Worte bis zu Núneth hindurchzudringen und sie schaute auf, eine merkwürdige Kombination von Bitterkeit und Hoffnung in ihren Augen.
„Ich trat in diese Armee ein, um Ruhm zu erlangen und das erste Mal in meinem Leben frei zu sein", sagte sie leise. „Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. All die grossen Heldensagen beschreiben den Krieg als etwas Ruhmreiches und Ehrenvolles. Warum erzählte mir nie jemand vom Leid und der Angst?"
„Hättest du dann deine Entscheidung anders getroffen?", fragte Thorongil nachdenklich.
Die junge Frau schwieg kurz und schüttelte dann leicht den Kopf, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
„Ich denke nicht. Vielleicht war es auch das, was mich reizte. Ein Abenteuer bestehen, die Welt sehen. Ich weiss es nicht."
Sie lachte bitter auf.
„Wie naiv ich doch war!"
Wieder legte sich Stille zwischen die beiden, als sie mit zügigem Schritt in ihren Reihen blieben.
„Ich war noch nie in einer wirklichen Schlacht, Thorongil, aber ich verabscheue den Krieg schon jetzt. Wie wird es erst nachher aussehen?"
Thorongil schwieg für eine Weile. Núneths erwägender Blick sagte ihm, dass die Frage nicht rhetorisch gemeint war, sondern dass sie von ihm eine Antwort erwartete.
„Du musst dir immer dein Ziel vor Augen halten, ansonsten zerbrichst du daran", antwortete Thorongil nachdenklich. Doch sobald er das gesagt hatte, stiegen bereits Zweifel in ihm auf. Wusste er selbst noch, wofür er kämpfte? Ja, er hatte vorhin gesagt, dass er an eine Zeit des Friedens glaubte, aber war das noch wirklich so? Bestand überhaupt noch Hoffnung, dass es je Frieden geben würde? In den letzten paar Jahren war Sauron immer stärker geworden, die Zeiten düsterer. Die Aussicht auf einen Sieg immer kleiner. Weshalb also das Kämpfen und Töten? Konnte er sich selbst einreden, dass er nur für die Sicherheit von Mittelerde in den Krieg zog?
Es war eine Sache, Orks und Warge zu töten, aber es war eine völlig andere, wenn es um Menschen ging.
In Rohan hatte er gegen die Dunländer gekämpft, jetzt hatte er es vermutlich mit den Haradrim zu tun. Die Menschen beider Völker waren lebende Wesen, die fähig waren zu denken und zu fühlen. Stand es überhaupt in seiner Macht, ihr Leben so brutal zu beenden? Vielleicht gab es in ihren Reihen auch Männer wie ihn, die nur in den Krieg zogen, um das Land vor Feinden zu schützen und weil sie sich den falschen Bündnispartner ausgesucht hatten. Und vielleicht gab es auch Freunde und Familie, die im Heimatland sehnsüchtig auf die Rückkehr der geliebten Menschen warteten. Vielleicht würden sie alle auch lieber zu Hause bleiben, in Ruhe und Frieden.
Thorongil schüttelte den Kopf, um die aufwallenden Zweifel abzuhalten. Er war nicht ganz ehrlich gewesen, als er Núneth gesagt hatte, dass man den Krieg nur ertragen konnte, wenn man sich sein Ziel vor Augen halte. Es gab da noch eine zweite Methode.
Verdrängen.
Das war weitaus einfacher und manchmal das einzige Mittel, das ihn am weiter machen erhielt. Er wollte sich nicht an all die Menschen erinnern, denen er den Tod gebracht hatte und schon gar nicht an dessen Familien. Doch auch diese Erinnerungen kamen gelegentlich zurück, in Träumen oder Gedanken. Es waren schmerzhafte Erinnerungen und am liebsten möchte er sie einfach auswischen, sie aus seinem Gedächtnis streichen.
Auf einmal bemerkte er Núneths Blick, der noch immer auf ihm ruhte. Sie hatte den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er wohl schon eine ganze Weile schweigend ins Leere gestarrt hatte. Er zwang sich zu einem Lächeln und schaute dann – um sich von den düsteren Gedanken abzulenken – hinauf in den Himmel, um den Stand der Sonne zu erfahren.
„Es ist bereits später Nachmittag. Wenn wir das Tempo halten, sind wir morgen früh in Harion."
„Du hast auch Mühe mit all dem Krieg und Töten", sagte Núneth leise. „Dir geht es auch sehr nah. Und deine Taktik geht wohl auch nicht immer auf, oder?"
Thorongil wandte seinen Blick ab und schwieg.
„Wie lange machst du das schon, Thorongil? Kämpfen, in den Krieg ziehen?"
Er blickte auf und auf einmal hatte er das Gefühl, dass er vorsichtig mit seinen Antworten umgehen müsse.
‚Sie hat einen schnellen Verstand. Ich hoffe, dass ich nicht schon zuviel verraten habe.'
„Lange genug um zu wissen, dass ich den Krieg nicht mag, aber trotzdem verstehe, dass er geführt werden muss", kam die unergründliche Antwort.
Thorongil schwieg und hoffte, dass sie das als Zeichen auffassen würde, dass ihr Gespräch zu Ende war. Aber Núneth liess sich nicht so leicht abschütteln und bedrängte ihn sofort wieder mit Fragen.
„Weshalb bist du überhaupt hier? Du stammst weder aus Gondor noch aus Rohan, aber trotzdem dienst du beiden Ländern."
„Wer sagt dir, dass ich nicht von hier bin?", fragte er wie beiläufig.
Núneth machte eine ärgerliche Handbewegung.
„Du weichst mir aus. Aber um deine Frage zu beantworten: Man hört und sieht es dir einfach an. Deine Sprache ist etwas anders, du rollst das „R" ein klein wenig, wie es im Norden geläufig ist. Und dann ist dein Gesicht anders. Du hast zwar die hier üblichen dunklen Haare, aber dein Profil ist eckig und deine Wangenknochen stehen hoch. Ausserdem sind deine Augen grau, was auch ziemlich aussergewöhnlich ist. Nur unter Adligen findet man hier Menschen mit diesen grauen Augen und deinem Profil. Und dass du nicht zum hiesigen Adel gehörst, weiss ich mit Bestimmtheit."
„Und woher willst du das ‚mit Bestimmtheit' wissen?", fragte Thorongil mit hochgezogener Augenbraue.
Núneth schaute ihn einen Moment lang verärgert an, setzte dann an, etwas zu erwidern. Sie öffnete ihren Mund einige Male, schien es sich aber dann trotzdem anders zu überlegen und drehte sich ab.
„Siehst du", meinte Thorongil leise, „es gibt Sachen, von denen wir beide nicht gerne erzählen. Weshalb lassen wir es dann nicht einfach so bleiben? Du behältst deine Geheimnisse, ich bewahre meine. In Ordnung?"
Núneth antwortete nicht, sondern blickte nur stur vor sich hin.
TBC
AN: Wenn ihr bis hierhin gekommen seid, dann hinterlasst doch ein Review! Das ist nur fair für den Autor. Mich würden eure Meinungen sehr interessieren, denn nur so weiss ich, ob das was ich schreibe auch wirklich gefällt oder was ich noch besser machen könnte. Konstruktive Kritik ist erwünscht!
Athelas
