Rumtreiber-Nachwuchs
Bevor Professor Dumbledore wieder aus den Flammen verschwand, wies er Harry noch an, seine Sachen von den Dursleys zu holen. Er und Hermine sollten sich dann ab Sonnenuntergang bereithalten, abgeholt zu werden. Bis dahin sollten sie bei Mrs. Figg bleiben.
Inzwischen war der Vormittag bereits weit fortgeschritten und es war sehr heiß geworden. Harry schlenderte den Ligusterweg entlang, in Gedanken darüber, wie er seinen Koffer und Hedwigs Käfig möglichst unbemerkt aus dem Haus der Dursleys schmuggeln sollte. Er hoffte, dass Dudley und Tante Petunia immer noch unterwegs waren.
Harry hatte Glück. Das Wohnzimmerfenster der Dursleys stand sperrangelweit offen. Er hatte darauf gehofft, denn einen Haustürschlüssel hatte er ja nicht. Harry schlich sich gebückt unter das niedrige Fenster. Vorsichtig stand er auf und spähte ins Wohnzimmer.
Onkel Vernon war über einer Zeitung eingeschlafen und schnarchte wie ein Walross. So leise wie möglich stieg Harry zum Fenster hinein. Dabei warf er immer wieder nervöse Blicke auf Onkel Vernon. In dem Moment, als Harry endgültig im Zimmer stand, schrak Onkel Vernon auf.
„Junge, was machst du da am Fenster?" fuhr er ihn an.
„Äh, …Es hat gezogen. Ich wollte es zu machen", antwortete Harry hastig.
Onkel Vernon hatte ganz eindeutig schlechte Laune. „Du willst wohl, dass ich in dieser Hitze ersticke? Wenn es dir zieht, geh gefälligst in dein Zimmer!", schnaubte Onkel Vernon.
Erleichtert beeilte sich Harry, aus dem Wohnzimmer zu kommen. Er rannte die Treppe hinauf, warf seine Sachen ungeordnet in seinen Koffer, schnappte sich Hedwigs Käfig und schlich sich so leise die Treppe wieder hinunter, wie das eben möglich ist, wenn man schwer bepackt ist. Harry war froh, dass er jetzt die Haustür benutzen konnte und nicht noch einmal an Onkel Vernon vorbei musste.
Er hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen und sich auf den Weg zu Mrs. Figg gemacht, als das Auto von Tante Petunia in die Auffahrt einbog.
Sie stieß die Wagentür auf, und schnauzte „Was willst du mit dem ganzen Gerümpel auf offener Straße? Komm sofort wieder ins Haus!"
Doch Harry hörte schon gar nicht mehr hin. In dem Moment, als er das Auto gesehen hatte, sprintete er los und erreichte einige Minuten später unbehelligt das Haus von Mrs. Figg.
Außer Atem klingelte er und diesmal wurde so schnell geöffnet, als hätte Mrs Figg schon hinter der Tür gewartet. „Komm rein Harry. Hermine hat mir alles erzählt, während du deine Sachen geholt hast. Das ist ja alles so schrecklich. Man kann sich ja nicht mehr auf die Straße trauen. Das unsere Zeit noch mal so unsicher wird…" sprudelt es aus ihr heraus.
Harry nahm nur am Rande wahr, was sie sagte. Seine Aufmerksamkeit war auf einen kleinen, circa elf-jährigen Jungen gerichtet, der schüchtern aus der Küchentür herauslugte. Er war für sein Alter relativ groß und schlaksig und hatte dunkelblondes, kurzes Haar. Sein Gesicht kam Harry eigenartig bekannt vor, aber er konnte es nicht zuordnen.
Mrs. Figg folgte seinem Blick und sagte lächelnd „Harry, darf ich dir meinen Enkel Patrick vorstellen? – Komm doch her, Patrick. Das ist Harry Potter. Sei doch nicht so schüchtern."
Patrick sah Harry neugierig an, während er ihm die Hand hinstreckte.
„Kommt doch mit in den Garten, Kinder. Wir wollen doch Hermine nicht allein lassen.", sagte Mrs. Figg und schob sie mit diesen Worten zur Verandatür hinaus.
Auf der gedielten Terrasse stand ein kleiner Tisch der mit Tee und Keksen gedeckt war. Ringsum standen vier Stühle und auf einem von ihnen saß Hermine. Im hellen Sonnelicht fielen Harry ihre dunklen Augenringe und ihre Blässe besonders auf. Mrs. Figg, Patrick und Harry setzten sich zu Hermine.
Die gedrückte Stimmung die nun am Tisch herrschte, passte überhaupt nicht zu diesem wunderschönem Sommermorgen. Lustlos rührte Harry in seiner Teetasse herum. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Ereignisse der letzten Nacht und um das Gespräch mit Professor Dumbledore. Er wollte nicht länger hier herumsitzen und warten. Er wollte aktiv werden. Er wollte wenigstens etwas unternehmen. Unruhig schaute er auf seine Uhr. Sie zeigte gerade mal um elf. Noch zehn endlos lange Stunden bis Sonnenuntergang.
Mrs Figg riss ihn aus seinen Gedanken „Kinder, ich muss noch einiges erledigen. Ihr kommt doch alleine klar, oder". Hermine und Harry murmelten zustimmend.
Während Harry weiter über seinem Tee brütete, unterhielten Hermine und Patrick sich leise. Offensichtlich war der Junge vorhin mit dabei gewesen, als Hermine Mrs. Figg von der Entführung ihrer Eltern erzählt hatte. Harry hatte keine Lust, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Immer wieder musste er an seinen besten Freund Ron denken, der auch entführt worden war.
Plötzlich horchte er jedoch auf, als Patrick den Namen Sirius erwähnte. „Was ist mit Sirius?" fragte er schärfer, als er beabsichtigt hatte.
Patrick schaute betreten zu Boden. „Er war einer der besten Freunde von meinem Vater."
Harry starrte Patrick an. Er wusste, dass Siriusnur drei beste Freunde gehabt hatte. James Potter schied aus. James Potter warsein eigenerVater. Er war von Voldemort ermordet worden, als Harry ein Jahr alt war. Peter Pettigrew konnte auch keinen elfjährigen Sohn haben. Er war zwölf Jahre lang verschollen und war erst vor drei Jahren wieder aufgetaucht.
Harry runzelte die Stirn „Willst du damit sagen, dass dein Vater Remus Lupin ist?"
Patrick nickte schüchtern. „Aber, warum hat er mir nie erzählt, dass er einen Sohn hat?"
„Ich habe meinen Vater erst vor einigen Wochen kennen gelernt. Meine Mutter hatte ihn verlassen, als sie herausfand, dass er ein Werwolf ist. Da war ich noch nicht geboren. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht, dass er einen Sohn hat."
Als Patrick nun schweigend zu Boden starrte, meldete Hermine sich zu Wort. „Patrick war gerade dabei, zu erzählen, dass seine Mutter ihn vor die Tür gesetzt hat, am Tag als Voldemort sich im Ministerium gezeigt hat."
„WAS? Aber wieso, das macht doch keine Mutter.", sagte Harry entsetzt.
Als Patrick antwortete sah er unendlich traurig aus. „Mutter hat mich noch nie richtig ernst genommen. Ich war ihr immer nur eine Last. Als Du-weißt-schon-wer zurückgekehrt ist, hat sie ganz hysterisch reagiert. Sie hat geschrieen, dass nun alles aus wäre. Wenn der Dunkle Lord mitkriegt, dass sie sich mit Halbkreaturen abgegeben hat und dann auch noch ein Kind von so jemanden bekommt, könnte sie sich auch gleich begraben. Dann hat sie mich aus dem Haus gejagt und mir gedroht, ich solle mich ja nie wieder blicken lassen."
Patrick schluckte schwer und konnte seine Tränen kaum noch zurückhalten. Hermine legte tröstend den Arm um ihn und wechselte hilflose und entsetzte Blicke mit Harry.
Wieder spürte Harry Wut in sich aufsteigen. Es war kaum zwei Monate her, dass Voldemort sich öffentlich gezeigt hatte und schon verbreiteten er und seine Anhänger Angst und Elend über das Land.
Durch seine Wut hindurch hörte er, wie Hermine die Frage stellte „Und wie bist du dann hier her gekommen?"
Neugierig lenkte Harry seine Aufmerksamkeit wieder auf Patrick. „Als ich klein war, hatten wir Oma einige Male besucht, leider ist das im Laufe der Zeit immer seltener geworden. Oma war immer lieb zu mir. Nachdem meine Mutter nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, hab ich mich irgendwie bis hierher durchgeschlagen. Ich hab anderthalb Tage dafür gebraucht. Als ich dann hier angekommen war, hat sich Oma gleich um mich gekümmert. Ich hab ihr erzählt, warum Mutter mich rausgeschmissen hat. Da ist sie furchtbar böse geworden. Sie hat sich sehr darüber aufgeregt, wie Mutter nur so über Remus reden konnte. Offensichtlich kannte Oma meinen Vater und ein paar Tage später hat sie uns dann bekannt gemacht. Vati ist wirklich ein toller Kerl, aber ist immer so traurig. Als ich ihn dann letzte Woche mal gefragt habe, warum, hat er mir von Sirius erzählt…"
Wieder herrschte betretenes Schweigen zwischen den dreien. Harry´s Gedanken wanderten zu Sirius, seinem Patenonkel. Harry hatte Sirius in seinem dritten Jahr in Hogwarts kennen gelernt. Sirius war nach zwölf Jahren Haft aus dem Zaubergefängnis Azkaban geflohen. Er war unschuldig wegen Mord an 12 Muggeln und dem Zauberer Peter Pettigrew verurteilt worden. Doch das schwerste Verbrechen, das ihm vorgeworfen worden war, war Verrat an Harrys Eltern. Als Sirius und Harry sich vor mehr als zwei Jahren begegnet waren, hatte sich gezeigt, dass Sirius unschuldig war und die ihm vorgeworfenen Verbrechen in Wirklichkeit von seinem angeblichen Mordopfer Pettigrew begangen worden waren. Doch noch in derselben Nacht entkam Pettigrew und so konnte Sirius´ Unschuld nie offiziell bewiesen werden. Zwei Jahre lang hatte er sich verstecken müssen. Dann im letzten Sommer hatte Voldemort Harry und seinen Freunden eine Falle gestellt. Sirius, der mit zu ihren Rettern gehörte, wurde beim Kampf gegen Voldemorts Todesser getötet. Immer wenn Harry an Sirius dachte, überkamen ihn furchtbare Trauer und Schuldgefühle.
Wieder riss Hermine ihn aus seinen Gedanken. „Wo ist denn Remus jetzt?", fragte sie Patrick.
„Oh, er hat wieder etwas für den Orden des Phönix zu tun. Aber er sagt mir nie, was genau er macht. Er spricht nicht viel über seine Arbeit"
Hermine und Harry lächelten schwach. Auch sie hatten im vorigen Jahr immer wieder darauf gebrannt, Neuigkeiten vom Orden zu hören. Doch die Mitglieder des Phönixordens hatten stets darauf geachtet, dass nicht zu viele Informationen an ihre Ohren drangen.
„Heißt das, dass du heute abend mit uns zum Hauptquartier kommst?", wollte Harry wissen.
„Ja, ich bleibe tagsüber gerne hier bei Oma, wenn Vati unterwegs ist, aber nachts bleibe ich immer im Hauptquartier."
In diesem Moment erschien Mrs Figg mit zwei schweren Einkaufstaschen in der Gartentür. „Na Kinder, ihr habt sicher Hunger. Ich mache gleich etwas zum Tee."
Zum Tee? Harry schaute auf seine Uhr. Es war tatsächlich schon halb fünf. Jetzt spürte er auch, wie er Hunger bekam, schließlich hatte er außer dem kargen Frühstück heute noch nichts gegessen.
Auch der Rest des Tages verging relativ schnell und gegen neun Uhr machten sich Harry, Hermine und Patrick bereit für den Weg zum Hauptquartier. Harry erinnerte sich nun wieder, dass Dumbledore von einem neuen Hauptquartier gesprochen hatte. Er drehte sich zu Patrick um, um ihn danach zu fragen, doch in diesem Moment erschien Lupin mit einer alten Kehrschaufel in der Hand. Offensichtlich war er mit einem Portschlüssel gereist.
Lupin sah müde aus, doch nicht mehr so heruntergekommen, wie er war, als Harry ihn zum ersten Mal getroffen hatte.
„Hallo Harry, Hermine" begrüßte er die beiden. Dann nahm er seinen Sohn in den Arm. „Na Patrick, hattest du einen schönen Tag?"
Mrs. Figg kam aus der Küche getrippelt. „Ah, Remus da bist du ja schon. Du weißt schon Bescheid, wegen Harry und Hermine?"
„Nein, ich bin eben erst im Hauptquartier angekommen. Dumbledore hat mir nur gesagt, dass ich nicht nur Patrick, sondern auch Harry und Hermine abholen soll. Aber er hat mir noch nicht gesagt, was los ist. Ist etwas passiert?"
Lupins Miene verdüsterte sich, als er abwechselnd in Hermine´s und Harry´s Gesichter sah. „Meine Eltern sind von Todessern entführt worden", sagte Hermine dumpf.
In Lupins Gesicht spiegelten sich genau die gleichen Gefühle wieder, die auch Harry hatte, als Hermine ihm davon erzählt hatte. „Das…was nehmen die sich eigentlich heraus?...was glauben die, wer sie sind?... das ist doch…Hermine, es tut mir so leid", fügte er leise hinzu.
Wieder standen Hermine Tränen in den Augen, doch tapfer kämpfte sie sie zurück. „Wir werden sie befreien, und Ron, und alle anderen auch", sagte sie entschlossen.
Lupins Miene wurde noch düsterer. „Ihr wisst es also schon mit Ron. Es ist furchtbar. Molly hört nicht mehr auf zu weinen und Arthur macht sich pausenlos Selbstvorwürfe. Er sagt, wenn er nicht so verrückt nach Muggelsachen wäre, dann wäre das nie passiert"
Mrs. Figg wurde langsam unruhig. „Ihr solltet euch langsam auf den Weg machen, der Portschlüssel gilt doch nur bis neun Uhr zwölf."
„Ja, richtig. Wir werden morgen früh ja auch noch ein Treffen haben, in dem wir unser weiteres Vorgehen besprechen. Harry, Hermine, Patrick, habt ihr alle eure Sachen?"
„Auf drei", sagte Lupin und deutete auf die Kehrschaufel, die nun auf dem kleinem Schuhschrank im Flur lag.
„Eins-zwei-drei" Gleichzeitig berührten sie die Kehrschaufel und fühlten sich hinter dem Nabel emporgerissen. Einige Sekunden später landeten sie unsanft im Hinterhof eines völlig verfallenen Hauses. Das Dach war eingefallen und kein Fenster hatte noch Scheiben. Lupin führte sie eine schmale Treppe hinunter, die mit Sicherheit in einen Kellerraum des Hauses führte. Nachdem er ein Passwort sagte, welches Harry nicht verstand, glühte die Tür kurz bläulich und öffnete sich dann überraschenderweise lautlos.
Lupin winkte die drei herein „Willkommen in Godrics Hollow", sagte er lächelnd.
