Godrics Hollow

Das Innere von Godrics Hollow stand in krassem Gegensatz zu seinem Äußerem. Lupin, Harry, Hermine und Patrick befanden sich in einem geräumigen, fast quadratischen Vorsaal, der ein wenig an die Eingangshalle von Hogwarts erinnerte. Natürlich war er viel kleiner als diese. Von jeder Wand führten drei Türen in angrenzende Räume und zwischen den Türen standen entweder alte Rüstungen oder hingen Portraits. Im Gegensatz zu den Portraits im alten Hauptquartier des Phönixordens sahen die dargestellten Personen aber wesentlich freundlicher aus.

Während Harry und Hermine sich noch staunend umschauten, öffnete sich die große schwere Eichentür gegenüber der Eingangstür und Molly Weasley rauschte den Neuankömmlingen entgegen. Harry schnappte überrascht nach Luft als Mrs. Weasley ihn überschwänglich umarmte. „Harry, ich bin so froh, dass es dir gut geht". Dann wendete sie sich Hermine zu. „Hermine, es tut mir so furchtbar leid, was passiert ist" und drückte Hermine genauso fest an sich, wie Harry zuvor. Schließlich begrüßte sie noch Patrick und Lupin. „Es ist schon ganz schön spät. Ihr werdet sicherlich Hunger haben. Ich hab das Abendbrot gleich fertig. Patrick, sei doch so gut und zeig Harry und Hermine ihre Zimmer", und mit diesen Worten verschwand sie wieder in der Küche.

Patrick nahm seinen Rucksack und bedeutete Harry und Hermine, ihm zu folgen. „Hermine, du schläfst mit Ginny in dem Zimmer", sagte er und zeigte auf die mittlere Tür auf der rechten Seite der Halle. „Harry, wir teilen uns mit Fred und George das Zimmer neben an." Harry hievte seinen Koffer durch die Tür links von Ginnys und Hermines Zimmer.

Der Raum, in dem er jetzt stand, war etwas kleiner, als das Jungenschlafzimmer in Hogwarts. Er konnte von der Tür aus nicht das ganze Zimmer einsehen, denn es war nicht quadratisch, sondern machte einen Knick nach links. Im Zimmer standen fünf Betten, vier davon waren bezogen. Patrick zeigte auf das Bett beim Fenster. „Dort kannst du schlafen." Harry stellte seinen Koffer ans Kopfende des Bettes und ließ sich auf die Matratze fallen. Sein Blick wanderte zu dem unbenutzten Bett und in sein Herz verkrampfte sich. Normalerweise sollte Ron in diesem Bett schlafen. Wütend schlug Harry auf sein Bett und stand wieder auf. Er hielt es nicht aus, untätig herum zu sitzen, während sein bester Freund in Gefahr schwebte. Er wollte etwas unternehmen. Seufzend verließ er das Zimmer um Mrs. Weasley bei der Zubereitung des Abendbrotes zu helfen. So würde er wenigstens für einige Zeit von seinen Gedanken abgelenkt werden.

Die Küche war ein langer schmaler zweigeteilter Raum. Der erste Teil wurde von einer langen Tafel vollständig ausgefüllt. Am Ende des Raumes trennte eine kleine Bar den Ess- vom Kochbereich.

Als Harry die Küche betrat, stand Mrs Weasley mit dem Rücken zu ihm und summte vor sich hin, während sie gedankenverloren die Rührlöffel in den Töpfen und die Messer, die das Gemüse schnitten mit ihrem Zauberstab dirigierte. Mrs Weasleys jüngste Tochter Ginny, die gerade damit beschäftigt war, den Tisch zu decken, schaute überrascht auf. Als sie Harry erblickte, legte sich ein dunkler Schatten auf ihr Gesicht. Sie starrte ihn einige Augenblicke an, dann fuhr sie herum und verließ fast fluchtartig die Küche.

Harry schaute ihr völlig perplex hinterher. Er wurde durch Mrs. Weasley aus seiner Erstarrung gerissen. „Ginny, könntest du bitte noch die Melone aufschneiden?" Harry drehte sich langsam herum. „Ginny ist gerade rausgegangen, Mrs Weasley. Kein Problem, ich mach das.", sagte er mit etwas tonloser Stimme und nahm ihr die Melone aus der Hand.

„Oh, ich habe dich gar nicht kommen gehört, Harry. Vielen Dank.", sagte Mrs. Weasley freundlich.

Nun, da Harry sich mit dem Essen beschäftigte, bemerkte er, dass sie nur sehr wenig zubereiteten.

„Wo sind denn all die anderen vom Orden?" fragte er neugierig.

Mrs. Weasley seufzte: „Durch die vielen Entführungen ist hier in den letzten Tagen die Hölle los. Die meiste Zeit bin ich mit Ginny allein."

„Was ist denn los mit Ginny?" wollte Harry wissen. „Als sie mich vorhin gesehen hat, ist sie weggerannt, als hätte sie Angst vor mir."

„Seit Ron weg ist, ist Ginny das reinste Nervenbündel. Sie vermisst ihren Bruder wirklich sehr. Und dass sie die einzige ist, die an der morgigen Versammlung nicht teilnehmen darf, verbessert ihre Laune auch nicht gerade."

In diesem Moment ging die Küchentür auf und Hermine, Patrick und Lupin kamen herein.

„Ich glaube nicht, dass Ginny mit essen möchte. Sie hat sich ohne ein Wort in ihrem Bett verkrochen. Ich glaube sie weint", sagte Hermine während sie sich setzte.

Mrs. Weasley warf Harry einen vielsagenden Blick zu und seufzte.

Sie aßen schweigend und in gedrückter Stimmung, und als schließlich alle Teller leer waren und Patrick sich gähnend zurücklehnte, schickte Mrs. Weasley sie alle zu Bett.

Hermine nahm noch einige Reste vom Abendessen für Ginny mit. Als sie ihr Zimmer betrat, saß Ginny mit verweinten Augen und wirren Haaren auf ihrem Bett. Sie hielt ein Bild von Ron in der Hand, doch ihr Blick war abwesend und die aufmunternden Gesten von Ron auf dem Foto hatten keinerlei Wirkung auf sie. Ginny hatte Hermines Eintreten nicht bemerkt und zuckte heftig zusammen als diese sich nun neben sie aufs Bett setzte.

„Er fehlt dir wirklich sehr", sagte Hermine leise und legte ihren Arm um Ginnys Schulter.

Ginny starrte weiterhin auf das Foto und sagte mit tonloser Stimme „Es ist alles meine Schuld. Es ist meine Schuld, dass er entführt worden ist."

„So ein Unsinn. Natürlich ist es nicht deine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können", sagte Hermine sanft aber nachdrücklich.

„Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen. Weißt du, wir sind mit unseren Besen in dem kleinen Wäldchen in der Nähe vom Fuchsbau geflogen und haben uns mit irgendwelchen Kleinigkeiten geneckt." Ginny wurde rot während sie das sagte.

„Dann hat Ron mich gejagt. Als ich mich nach einer Weile umgedreht habe, war er verschwunden. Ich bin zurückgeflogen, und hab nur noch gesehen, wie zwei vermummte Gestalten ihn in ihrer Mitte hatten und mit ihm disappariert sind…"

Sie verstummte und wandte sich Hermine zu. Aus ihrem Gesicht sprach die pure Verzweiflung.

Hermine fasste sie nachdrücklich an den Schultern und zwang sie, sie anzusehen. „Ginny, du bist nicht schuld, an dem was geschehen ist. Wenn du dabei gewesen wärst, hätten sie dich auch entführt. Hör auf, dir etwas einzureden. Wir werden alles versuchen, Ron zu befreien. Und dabei kannst du uns am besten helfen, wenn du einen klaren Kopf hast, in Ordnung?"

Ginny nickte schwach „Danke Hermine."

Hermine fühlte sich nun plötzlich sehr erschöpft. „Schon gut", sagte sie matt. „Lass uns jetzt schlafen."

Harry nahm sich absichtlich sehr viel Zeit dabei, sich bettfertig zu machen. Er hoffte, dass Patrick schon schlafen würde, wenn er ins Zimmer kam. Er hatte keine Lust, jetzt mit irgendjemandem zu reden. Er wollte einfach nur mit seinen Gedanken allein sein.

Als Harry nun endlich sein Zimmer betrat, schlief Patrick tatsächlich schon. Doch Harry hatte keine Ruhe, jetzt schon zu schlafen. Zu viele Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher. Wie automatisch setzte er sich auf sein Bett und starrte ins Leere.

Harry wusste nicht, wie lange er nun schon regungslos dagesessen hatte, als ein leichtes Ziehen an seinem Hosenbein ihn aus seinen düsteren Gedanken riss. Erschrocken schaute er nach unten.

Ein Hauself mit einer sauberen weißen Schürze und einem Paar gestreiften Socken, das viel zu groß für seine winzigen Füße war, saß neben seinem Bett und schaute vorsichtig zu ihm hoch.

„Hallo Harry Potter, Sir. Verzeihen Sie Dobbys Störung", sagte der Hauself, verzog dabei den Mund zu einem schüchternen Lächeln und sah Harry von unten herauf an.

Erstaunt beugte sich Harry herunter. „Hallo Dobby, was machst du denn hier?"

„Harry Potter traurig, Sir. Dobby weiß was, das Harry Potter glücklich machen kann."

Harry spürte ein wenig Hoffnung in sich hochsteigen. „Weißt du etwa was von Ron?", fragte er aufgeregt.

Der Hauself schüttelte traurig den Kopf „Dobby weiß nichts von Harry Potters Freund." Doch dann leuchteten seine großen Augen plötzlich auf. „Dobby möchte Harry Potter etwas zeigen."

„Dobby, es ist mitten in der Nacht, und ich hatte einen sehr langen Tag", sagte Harry enttäuscht und müde.

„Es ist nicht weit weg, Harry Potter, Sir. Es ist gleich in diesem Zimmer", sagte Dobby geheimnisvoll und zupfte an Harrys Hosenbein.

Harry, der wusste, wie stur Dobby sein konnte, seufzte und stand auf. Dobby lächelte ihn breit an und ging in die dunkle Nische, die durch den Linksknick des Zimmers entstand. Neugierig ging Harry ihm nach, doch noch bevor er etwas sagen konnte, sah er an der hinteren Wand der Nische eine Tür. Sie war nicht auf den ersten Blick zu erkennen, denn sie

Hatte die selbe Farbe wie die Wand rundherum. Doch jetzt, wo Harry nur eine Armlänge von ihr entfernt stand, sah er sie deutlich.

Mit klopfenden Herzen berührte Harry die Klinke, drückte sie vorsichtig herunter und öffnete die Tür einen Spalt breit. Der Raum dahinter war stockdunkel. Unsicher drehte Harry sich zu Dobby um.

„Geh nur hinein, Harry Potter, Sir", wisperte der Hauself ehrfürchtig.

Harry nahm seinen Zauberstab aus seiner Tasche, atmete tief ein und betrat zögerlich den Raum.

Es war unmöglich, etwas in dieser Dunkelheit zu erkennen. „Lumos", flüsterte er und sah sich neugierig um. Der kleine Raum war bis auf einen großes Bild, das an der Wand hing, komplett leer.

Langsam ging er darauf zu. Auf dem Bild war ein junger Mann mit wirrem schwarzem Haar zu sehen. „Oh, wieder mal ein geheimnisvoller Spiegel", murmelte er belustigt.

Der Mann im Spiegel grinste ihn an. „Nun, du siehst mir tatsächlich ähnlich, aber das hast du sicher schon oft gehört."

Harry starrte das Bild an. Sein Blick flog hoch zur Stirn. Da war keine Narbe! Die Augen waren nicht grün, sie waren braun!

Fassungslos starrte Harry in dieses Gesicht, das dem seinen so ähnlich war. Der Mann auf dem Bild war kaum älter als er selbst. „D…dad?" brachte er schließlich ungläubig hervor.

James Potter lächelte seinen Sohn breit an. Verwirrt trat Harry einen Schritt näher an das Portrait von seinem Vater heran. „Ist Mom auch hier?" fragte Harry völlig überwältigt.

James´s Gesicht wurde traurig. „Wir sind angegriffen worden, bevor ihr Bildnis fertig gestellt worden ist. Ich bin nur hier, weil meine Eltern ein Portrait von mir malen lassen haben, nachdem ich Hogwarts beendet hatte."

„Aber warum hat mir nie jemand davon erzählt, dass du hier bist?", wollte Harry wissen.

„Niemand hat davon gewusst. Du bist seit 15 Jahren, der erste, der diesen Raum betreten hat. Nur Mitgliedern der Familie Potter ist es überhaupt möglich diesen Raum zu finden"

„Aber Dobby hat von diesem Raum gewusst", sagte Harry verwirrt.

„Als ehemaliger Hauself unserer Familie weiß Dobby auch von diesem Raum", erklärte James.

Harry hatte vor Überraschung runde Augen. „Aber Dobby war bis vor etwa drei Jahren der Hauself der Familie Malfoy"

„Ich weiß", sagte James bitter. „Kurz nach Voldemorts Angriff auf unser Haus haben die Malfoys sich Dobby unter den Nagel gerissen. Wie sie das geschafft haben weiß ich nicht, aber offensichtlich hatte es nicht vollständig geklappt, denn Dobby fühlte auch unter der Herrschaft der Malfoys noch Loyalität zu dir."

„Woher weißt du das alles, wenn du seit 15 Jahren hier allein bist?", fragte Harry verwundert.

James lächelte. „Ich kann dir nichts über das Jenseits erzählen, aber ich kann dir sagen, dass ich nur hierher gerufen werde, wenn jemand die Tür zu diesem Raum öffnet. Vielleicht tröstet es dich, wenn du weißt, dass deine Mutter und ich alles über dein Leben wissen und sehr stolz auf dich sind."

James sah seinen Sohn einige Augenblicke lang stolz und väterlich an. Dann wurde er plötzlich ernst.

„Harry, ich weiß auch was im letzten Jahr passiert ist und ich weiß von der Prophezeiung."

Harrys Herz begann sehr schnell und heftig zu schlagen. Er hatte viel und oft über die Prophezeiung, die über ihn und Voldemort gemacht worden war nachgedacht, doch die Ereignisse in den letzten beiden Tagen, haben sie vorerst aus seinen Gedanken verdrängt. Sie besagte, dass Harry eine Kraft besaß, die der dunkle Lord nicht kannte und dass schließlich einer der beiden durch die Hand des anderen sterben müsse."

Unfähig zu sprechen starrte Harry seinen Vater an. Harry und Professor Dumbledore waren die einzigen Personen die die vollständige Prophezeiung kannten. Harry hatte sich oft gewünscht mit jemanden über sein Schicksal reden zu können, doch er hatte sich bis jetzt nicht überwunden, selbst seinen engsten Freunden über den Inhalt der Prophezeiung zu berichten.

„Als Professor Dumbledore die Prophezeiung über dich gehört hatte, hat er deine Mutter und mich sofort gewarnt. Das war einer der Gründe, warum wir untergetaucht sind und Peter als Geheimnishüter für unser Versteck benannt haben", begann James zu erzählen.

„In der Prophezeiung ist von einer Kraft die Rede, die ich haben soll", sagte Harry, „aber ich weiß nichts von einer Kraft, die ich habe und andere nicht."

James zuckte leicht mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht genau um welche Kraft es sich dabei handelt, doch wir haben seit Generationen ein Medaillon in unserer Familie und Lily und ich vermuten, dass es etwas mit dieser Kraft zu tun haben muss. Wenn du mein Portrait umklappst, wirst du dahinter einen kleinen Wandschrank finden. Dort drin befindet sich das Medaillon."

Mit zittrigen Fingern klappte Harry vorsichtig das Bildnis seines Vaters zur Seite. Tatsächlich sah er nun in Augenhöhe ein kleines Türchen, was mit goldenen Ornamenten verziert war. Mit klopfendem Herzen öffnete er es. Drinnen lag auf einem dunkelroten Polster ein etwa faustgroßes Medaillon an einer Kette. Ehrfürchtig nahm Harry das Stück aus dem Schrank heraus. Es fühlte sich schwer und warm in seiner Hand an. Auf der Oberfläche waren ein Löwe und ein Phönix eingraviert, die so angeordnet waren, als würden sie sich gegenseitig schützen.

Während Harry fasziniert das Medaillon betrachtete, schloss er wie automatisch die Schranktür und klappte das Portrait zurück.

Als er seinen Blick wieder auf seinen Vater wenden wollte, erschrak er. James lächelte ihn immer noch freundlich an, doch er war kaum noch zu sehen und seine Stimme klang sehr flach und leise.

„Harry, ich bin sehr stolz darauf, dich als Sohn zu haben. Ich weiß, dass du deinen Weg finden wirst. Ich werde jetzt zu deiner Mutter zurückkehren. Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst.

Wir werden uns wieder sehen, Harry. Deine Mutter und ich lieben dich. Machs gut."

Und mit diesen Worten verschwand James Potter aus dem Portrait.

Geschockt und hilflos stand Harry in dem kleinen Raum und starrte den leeren Rahmen an. Hatte er sich alles eben nur eingebildet, oder hatte er tatsächlich mit seinem Vater gesprochen? Langsam sah er an sich herab und fand das Medaillon von seiner Hand herabbaumeln. Tränen schossen in seine Augen. Es war, als hätte er seinen Vater zum zweiten Mal verloren. Er fühlte, wie Trauer und neue Entschlossenheit, gegen Voldemort zu kämpfen in ihm aufstiegen. Doch gleichzeitig erfüllte ihn ein unendliches Glücksgefühl. Seine Eltern liebten ihn, so wie er war und sie konnten an allem teilhaben, was er erlebte.

Harry setzte sich vor das leere Portrait und weinte leise, bis er eingeschlafen war und Dobby ihn in sein Bett trug.