Kapitel 6

Es war unnatürlich still in der Küche des Hauptquartiers. Harry saß am Tisch und hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Er hatte sich seit fast einer Stunde nicht bewegt. Ginny und Hermine, die links und rechts von ihm saßen, wussten nicht, ob er nur grübelte, oder eingeschlafen war. Patrick war tatsächlich an der Schulter seines Vaters eingeschlafen, während dieser immer wieder hilflose Blick in die Runde warf.

Das Klicken der Türklinke drang ungewöhnlich laut in diese nervöse Stille. Ruckartig schoss Harrys Kopf nach oben und erwartungsvoll schaute er die Tür an, durch die in diesem Moment Albus Dumbledore trat.

Dumbledore sah erschöpft aus und hatte tiefe Ringe unter den Augen, doch ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ronald Weasley ist in Sicherheit. Er ist arg zugerichtet worden und liegt jetzt in St. Mungos, aber er wird keine bleibenden Schäden davontragen. Er ist noch nicht ansprechbar und kann auch noch nicht besucht werden", sagte er zur Enttäuschung der Anwesenden. "Aber die Heiler sind optimistisch, dass er in zwei bis drei Wochen wieder auf den Beinen ist und nach Hogwarts kommen darf", verkündete er.

Während Harry noch versuchte, die Worte seines Schulleiters zu verarbeiten, hatte Ginny sich ihm schon schluchzend an den Hals geworfen. Völlig verblüfft sah er sie an, doch dann breitete sich ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht aus und er erwiderte ihre Umarmung.

Nach wenigen Augenblicken jedoch löste er sich wieder von ihr und wandte sich Hermine zu. Tränen der Erleichterung glänzten in ihren Augen und auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein Kampf zwischen Lachen und Weinen ab. Harry grinste sie breit an und nahm sie in den Arm.

Professor Dumbledore stand mit funkelnden Augen in der Küche und beobachtete und genoss die gelöste Atmosphäre. Dann seufzte er und wandte sich an Harry.

„Harry, es tut mir Leid, deine Freude zu unterbrechen. Wir müssen uns über deine Vision von letzter Nacht unterhalten."

Harry sah ihn einen Moment lang entsetzt an. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken, was er in der letzten Nacht gesehen hatte. Was spielte es auch für eine Rolle, jetzt wo Ron in Sicherheit war. Konnte er die Schreckensbilder nicht einfach vergessen?

Dumbledore, der Harrys Gedanken vermutete, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte leise, „Ich weiß, dass es dir schwer fällt, darüber zu reden, aber es muss sein."

Harry nickte stumm und ließ sich von dem älteren Zauberer hinter den Tresen der Küche führen.

„Harry", sagte er ernst, „nachdem, was du mir gestern abend erzählt hast, müssen wir annehmen, dass Voldemort nun über seine Verbindung mit dir direkt Kontakt mit dir aufnehmen kann. Du sagtest, er hätte dich direkt angesprochen?" Harry nickte dumpf. Er ahnte, was Dumbledore gleich sagen würde.

„Unter diesen Umständen ist es notwendiger, denn je, dass du deine Okklumentikstunden fortsetzt", bestätigte er Harrys Befürchtungen.

„Professor", begann Harry verlegen, „Ich glaube nicht, dass Professor Snape bereit wäre, mich weiterhin zu unterrichten. Wir hatten im letzten Schuljahr einige …äh…Meinungsverschiedenheiten"

Das Funkeln kehrte in Dumbledores Augen zurück, als er verschmitzt lächelte. „Nun Harry, der Meinung bin ich auch. Deshalb habe ich beschlossen, dein Training selbst in die Hand zunehmen. Bitte melde dich morgen nach dem Willkommensfest bei mir."

Harry konnte sein Grinsen nicht zurückhalten. „Danke Professor. Bis morgen dann."

Der restliche letzte Ferientag wirbelte nur so an den Bewohnern von Godrics Hollow vorüber. Dass Ron nun in Sicherheit war, machte sie optimistisch, dass es auch bald Nachrichten von Hermines Eltern geben würde. Harrys Narbe prickelte zwar immer wieder, aber da er keine Emotionen, wie Ärger oder Zorn über Rons Rettung von Voldemort empfing, sorgte er sich nicht darum.

Als am Abend alle Koffer gepackt bereitstanden und das leckere Abendessen, das Molly Weasley hergezaubert hatte, bis auf den letzten Krümel aufgegessen war, verkrochen sich die vier jungen Hexen und Zauberer in ihre Betten und schliefen voller Hoffnung auf ein gutes neues Schuljahr ein.

Der nächste Morgen war vom typischen Gewusel erfüllt, das der Fahrt mit dem Hogwartsexpress immer vorausgeht. Harry versuchte im ganzen Haus, seine DA-Aufzeichnungen zusammen zu sammeln. Patrick klagte, dass er seinen Kessel nicht finden konnte, während Hermine im ganzen Haus nach Krummbein rief. Ginny heftete mehrmals ihren Vertrauensschüleranstecker an ihren Umhang, nur um ihn danach immer wieder abzunehmen, ihn sicher in ihrem Koffer zu verstauen. Molly Weasley, die nach der Rettung ihres jüngsten Sohnes immer noch in einer sehr emotionalen Verfassung war, machte so viele Sandwichs für die Fahrt, dass es für eine ganze Quidditschmannschaft gereicht hätte und umarmte jeden, der ihr in den Weg kam auf Herzlichste.

Doch schließlich standen alle Gepäckstücke und Hogwartsschüler transportbereit in der Vorhalle. Remus Lupin gesellte sich mit einer Blumenvase in der einen und einem alten Bettlaken in der anderen Hand dazu.

„So, habt ihr alles dabei? Dann können wir ja los. Hermine, die Blumenvase bringt uns beide direkt zur Heulenden Hütte. Wir haben aber noch ein bisschen Zeit.

Das Laken bringt Molly, Harry, Ginny und Patrick nach Kings Cross", sagte er und legte das Bettlaken auf Hedwigs Käfig.

Lupin schaute noch mal auf seine Uhr, dann nickte er. „Fertig? Auf drei. Eins-zwei-drei"

Vier Hände griffen gleichzeitig nach dem Bettlaken und einen Moment später waren Molly und Ginny Weasley, Harry Potter und Patrick Lupin verschwunden.

Nachdem das vertraute Ziehen am Bauchnabel nachgelassen hatte, stolperten sie auf den Bahnsteig 9 ¾. Harry schaute sich verblüfft um.

„Warum müssen wir heute nicht durch die Absperrung?", fragte er verwundert.

„Nun, mein Lieber", antwortete Molly, „Nachdem Du-weißt-schon-wer jetzt offiziell wieder auferstanden ist, hat das Ministerium größtmögliche Vorsicht empfohlen und Sondergenehmigungen für Port-Schlüssel direkt auf den Bahnsteig 9 ¾ erteilt. – Sehr vernünftig kann ich da nur sagen", fügte sie noch hinzu.

Dann schaute sie auf die Uhr. „So Kinder, nun macht aber das ihr einsteigt, der Zug fährt gleich ab. Passt gut auf euch auf und macht keinen Unsinn", sagte sie.

„Irgendjemand muss doch das Erbe von Fred und George antreten", murmelte Ginny, so dass nur Harry sie hören konnte und zwinkerte ihm listig zu. Glücklicherweise umarmte Molly ihn in diesem Moment, so dass sie sein Grinsen nicht sehen konnte.

In diesem Moment stieß die Lokomotive ein langanhaltendes Pfeifen aus und Ginny, Patrick und Harry beeilten sich, an Bord zu kommen.

„Ich muss ins Vertrauensschülerabteil", verabschiedete sich Ginny von den beiden Jungen. „Ich komm dann vorbei, sobald ich fertig bin. Haltet mir einen Platz frei."

„Ja gut, bis dann", sagte Harry und machte sich mit Patrick auf die Suche nach einem freien Abteil. Harry sah Luna alleine sitzen und ging schnell an ihrem Abteil vorbei. Er fand Luna Lovegood zwar ganz in Ordnung, besonders nach dem Kampf im Ministerium am Ende des letzen Schuljahres, aber die acht-stündige Zugfahrt neben ihr verbringen wollte er nun doch nicht unbedingt.

Schließlich fanden Harry und Patrick noch ein leeres Abteil am Ende des Zuges und machten es sich darin gemütlich. Den ersten Teil der Fahrt verbrachten sie schweigend.

Es war schon seltsam. Das war das erste Mal, dass Harry ohne Ron und Hermine nach Hogwarts fuhr. Wehmütig schaute er aus dem Fenster und ließ dann seinen Blick auf Patrick wandern. Ihm fiel auf, dass er so gut wie nichts über den Sohn vom besten Freund seines Vaters wusste, obwohl sie drei Wochen unter dem selben Dach gewohnt hatten. Er war in Gedanken ständig bei Ron gewesen, so dass er kaum ein Wort mit Patrick gewechselt hatte.

Harry spürte, wie der Junge ihn nachdenklich anschaute.

„Ähh…ich wollte nur sagen, es tut mir leid, dass ich dich in den letzten drei Wochen so ignoriert habe", sagte Harry etwas plump.

„Ach, das ist schon in Ordnung", antwortete Patrick mit einer wegwischenden Handbewegung. „Du hast dir Sorgen um deinen Freund gemacht. Das ist doch ganz normal."

Harry war erstaunt. Von einem Elfjährigen hätte er solche Worte nicht erwartet. „Freust du dich schon auf Hogwarts?", fragte er in dem Versuch, das Versäumte nachzuholen.

„Ja, ich hoffe, dass ich nach Gryffindor komme, so wie du, Hermine und Ginny. Gryffindor ist das beste Haus. Mein Dad war ja auch da.", erzählte Patrick begeistert.

Harry schmunzelte. „Magst du Quidditch?", fragte er.

„Oh ja, ich liebe Quidditch!", rief er begeistert aus. So drehte sich das Gespräch während der nächsten Stunde um Besen, Mannschaften und die Chancen, in diesem Jahr den Hogwarts-Quidditch-Pokal nach Gryffindor zu holen.

Nach einer Weile ging die Abteiltür auf. Harry schaute auf und seufzte genervt. „Was willst du, Malfoy?"

Ein schmieriges Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht von Draco Malfoy ab, der zwischen seinen beiden strohdummen Kumpanen Crabbe und Goyle in der offenen Abteiltür stand.

„Sieh an, Potter, der große Held in bester Gesellschaft. Sind wir jetzt von einem Schlammblut und einem armen Wiesel schon zum Sohn eines Monsters abgerutscht?", fragte er, während er Patrick abfällig musterte

„Na wenigstens gibt sich Harry nicht mit zwei hirnlosen Gorillas ab", sagte eine männliche Stimme hinter Draco auf dem Gang. Dieser fuhr herum und sah sich plötzlich Neville Longbottom und Ginny Weasley gegenüber, die gerade von der Besprechung der Vertrauensschüler wiederkamen.

Neville sah Draco herausfordernd an. „Ich würde dir empfehlen zu verschwinden, Frettchen", sagte er fest, obwohl Harry sehen konnte, dass er ein wenig nervös war.

Draco sah Neville für einen Moment geschockt an, dann verfinsterte sich sein Gesicht. „Hör zu Longbottom, mir gefällt dein Ton nicht. Wenn du nicht aufpasst, leistest du deinen Eltern schneller Gesellschaft, als dir lieb ist."

Neville wurde hochrot im Gesicht und wollte sich auf Draco stürzen, doch Ginny hielt ihn kraftvoll am Arm fest. „Ich dachte du hättest genug vom Flederwichtfluch, aber offensichtlich bettelst du nach einer Zugabe", sagte sie liebenswürdig, doch ihre Augen sprühten Funken.

Draco schaute Ginny träge von oben herab an. „Schon wieder ein Wiesel-Vertrauensschüler. Aber wie man sieht, kann man sich davon auch nichts kaufen", schnarrte er. Crabbe und Goyle grinsten stupide.

„Andererseits konnte man sich offensichtlich bis letztes Jahr die Vertrauensschülerposition kaufen", imitierte Ginny Dracos Blick und Tonfall fast perfekt. Tatsächlich fiel Harry erst jetzt auf, dass das Abzeichen an Dracos Umhang dieses Jahr fehlte. Dafür war ein kleiner silber-grüner Anstecker an dessen Stelle getreten. Doch Harry konnte nicht genau erkennen, was darauf stand.

Dracos Augen verengten sich zu Schlitzen und sein rechter Arm flog an seinen Gürtel, doch bevor er seinen Zauberstab ziehen konnte, sah er sich schon mit drei Zauberstäben konfrontiert.

„Wir sprechen uns noch", fauchte er, drehte sich auf dem Absatz herum und stolzierte davon. Crabbe und Goyle folgten ihm, wie zwei begossene Pudel.

Ginny und Neville ließen sich auf zwei leere Sitze im Abteil fallen. Harry grinste beide breit an. „Wow, saubere Leistung", sagte er.

Auch Patrick sah begeistert aus. „Denen habt ihr es aber gezeigt. Wer war das überhaupt?" fügte er noch hinzu.

„Das waren Draco Malfoy und seine beiden Bodyguards Crabbe und Goyle. Sie sind im sechsten Jahr in Slytherin und wahrscheinlich der größte Abschaum, den du in ganz Hogwarts finden kannst", erklärte Ginny hasserfüllt.

„Wie kommt es, dass Malfoy kein Vertrauensschüler mehr ist, und wer ist der neue Vertrauensschüler von Slytherin?" fragte Harry, nachdem er wieder ernst geworden war.

„Ich hab keine Ahnung, warum er kein Vertrauensschüler mehr ist, ich denke es hat was mit seinem Vater zu tun. Jedenfalls hat Blaise Zabini ihn abgelöst. Ich weiß noch nicht so ganz, was ich von ihm halten soll. Aber auf den ersten Blick scheint er ganz in Ordnung – für einen Slytherin", antwortete Ginny.

„Das ist doch der kleine unscheinbare mit den dunklen Haaren, oder?", fragte Harry, „Ich finde ihn eigentlich ganz okay, aber kann er sich als Vertrauensschüler gegen Malfoy und seine Bande durchsetzen?"

„Auf jeden Fall ist er viel besser als Malfoy", stellte Neville fest.

„Habt ihr das Abzeichen an Malfoys Umhang gesehen?", fragte Harry. „Ich habe nicht erkannt was drauf steht."

Ginny und Neville schüttelten den Kopf. „Nein, ich musste mich schwer zurückhalten, dieses arrogante Miststück nicht zu verhexen. Da hab ich nicht auf seinen Umhang geachtet", presste Neville hervor.

„Es stand ‚SH' darauf, ich weiß aber nicht, was das bedeutet", meldete sich Patrick zu Wort.

„SH? – hmm, S könnte für Slytherin stehen und H?", sinnierte Harry. „Vielleicht ist es irgendein Club."

„Wir sollten Ausschau halten, wer noch so ein Abzeichen trägt", schaltete Ginny sich ein. „Und wenn es wirklich ein Club ist, steht bestimmt am Schwarzen Brett etwas darüber."

„Nicht, wenn es so geheim bleiben soll, wie die DA", wandte Neville ein.

„Es bringt nichts, ohne weitere Informationen darüber zu spekulieren", beendete Harry das Thema. Den Rest der Fahrt redeten sie über belanglose Dinge und spielten Zauberschach und Snape explodiert.

Harry war überrascht, wie sehr Patrick ihm ähnelte, als er selbst in dem Alter war und er fühlte einen seltsamen Drang, den kleinen Jungen zu beschützen.

„Wir sind gleich da. Wir sollten uns langsam umziehen.", sagte Ginny schließlich, als es draußen schon dunkel wurde. So zogen sie in Gedanken versunken ihre Schulumhänge an.

Schließlich kam der Hogwartsexpress am Bahnhof von Hogsmeade zum stehen und die vier stiegen aus.

Auf dem Bahnsteig hörte Harry eine sehr vertraute Stimme rufen „Erstklässler! Erstklässler zu mir!". Ein breites Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er sich durch die Menge am Bahnsteig bahnte um seinen großen Freund Hagrid zu begrüßen.

„Hallo Hagrid, alles in Ordnung?", sagte er strahlend. „Sind Professor Lupin und Hermine gut angekommen?", fügte er leise hinzu, um von den umstehenden Schülern nicht gehört zu werden.

„Ja Harry, alles prächtig", und umarmte Harry herzlich, wobei Harry ernsthaft um seine Rippen fürchtete. „Hallo Ginny, Neville. Und du bist doch der kleine Lupin junior, oder", richtete er sich an Patrick. Dieser nickte ehrfürchtig im Angesicht des über drei Meter großen Mannes.

Hagrid lächelte ihm aufmunternd zu. „Ich bring dich und die anderen Erstklässler zum Schloss."

Bevor er sich abwandte flüsterte er Harry, Ginny und Neville noch zu „Remus und Hermine haben sich schon gut eingerichtet." Lauter rief er „Ich muss los, wir sehen uns dann beim Fest", und stapfte mit einer Gruppe etwas verängstigt aussehender Erstklässler in Richtung See.

Harry sah ihnen nach und schmunzelte. Er erinnerte sich daran zurück, wie er sich damals als Erstklässler gefühlt hatte. Vor seinem elften Geburtstag hatte er noch nie etwas von der Zauberwelt gehört, geschweige denn davon, dass er dort sehr bekannt war. Nur wenige Zeit später hatte er seine Ausbildung an Hogwarts Schule für Hexerei und Zauberei begonnen. Das war mittlerweile fünf Jahre her und Harry fühlte sich in der Zauberwelt mehr zu hause, als er sich in den ersten zehn Jahren seines Lebens bei den Dursleys je gefühlt hatte.

Harry verdrängte diese Gedanken und er, Neville und Ginny beeilten sich nun noch eine der von Thestrals gezogenen Kutschen zu erwischen, die sie zum Schloss hoch brachten. Durch die Auseinandersetzung mit Malfoy im Zug hatten sie die Hexe mit dem Essenswagen verpasst und hatten jetzt ziemlich großen Hunger. So dass sie nun mit Vorfreude dem Willkommensfest entgegen blickten, bei dem die Erstklässler in ihre Häuser eingeteilt wurden und bei dem es immer hervorragendes Essen gab.