Der Fluch der Karibik
So früh er auch an jedem Urlaubstag aufgewacht war, am ersten Arbeitstag verschlief Chris.
Er hatte zwar seinen Wecker gestellt, ihn aber nach dem ersten Klingeln abgestellt, sich noch mal an Eddie gekuschelt und war wieder eingedöst. Als er wieder erwachte, war es schon nach acht.
Mit einem Fluch stand er auf und sprintete ins Bad.
Wenige Minuten später kam er frisch geduscht heraus. Rasieren würde er sich unterwegs.
Während er sich anzog, warf er immer wieder einen Blick auf Eddie, der noch schlief. In diesem Moment beneidete Chris ihn, da er sich als Selbstständiger seine Arbeitszeiten manchmal besser einrichten konnte.
Seine Angestellten erwarteten Eddie erst gegen Mittag.
Bevor sich Chris auf dem Weg zum Dienst machte, nahm er sich die Zeit, sich auf die Bettkante zu setzen und Eddie zu beobachten.
Wie friedlich er doch aussah. Es war nichts Angespanntes mehr in ihm. Vorsichtig wuschelte Chris durch Eddies Haar. Er wollte ihn nicht wecken, sondern einfach nur ansehen.
Wusste Eddie, wie sehr er ihn liebte?
Chris fiel auf, dass er Eddie dies schon lange nicht mehr gesagt hatte. Zum letzten Mal am Morgen jenes verhängnisvollen Einkaufsbummels.
Und dabei waren Eddie solche kleinen Liebesbekenntnisse so wichtig.
Kein Wunder, dass Eddie so seltsam war. Chris hätte sich am liebsten geohrfeigt.
Und dann hatte Eddie noch diese seltsamen Anspielungen auf Amanda gemacht. Wie hatte er nur so blind sein können?
Auch wenn er schon längst auf den Weg zur Arbeit sein sollte, Chris nahm sich jetzt die Zeit, ins Arbeitszimmer zu gehen. Auf ein DIN-A4-Blatt schrieb er mit rotem Edding "Ich liebe Dich" drauf.
Diesen Zettel legte er auf Eddies Nachttisch. Dann beugte Chris sich über ihn, drückte Eddie noch einen Kuss ins Haar und ging. Von Eddie kam nur ein Grummeln als Antwort. Er schwebte noch im Reich der Träume
Auf der Treppe prüfte Chris nach, ob er auch alles hatte.
Schlüssel, Portemonnaie, Handy?
Das Handy hatte er natürlich nicht eingesteckt. Er musste das Teil vor dem Urlaub irgendwo auf der Garderobe abgelegt haben. Und nach einigem Wühlen fand er es auch.
Chris wollte gerade die Haustür öffnen, als er auf der Treppe ein Geräusch hörte. Er drehte sich um und sah da einen ziemlich verschlafenen Eddie stehen, der mit einem ausdruckslosen Gesicht auf ihn hinab schaute.
Es kostete nur einen Moment Zeit und da er sowieso schon viel zu spät dran war, kam es auf diesen Augenblick auch nicht an. Kurz entschlossen ging Chris noch einmal zurück, stieg die Treppe hoch, bis er eine Stufe über Eddie war, und küsste ihn.
"Guten Morgen! Ich bin leider viel zu spät dran, deswegen muss ich jetzt weg. Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?"
Das Leuchten in Eddies Augen war für Chris alles, was er an Belohnung brauchte. Er wusste genau, wie lange er das nicht mehr gesehen hatte.
Bedauernd ließ er Eddie los und machte sich endgültig auf den Weg.
Aber in seinem Hinterkopf flüsterte wieder einmal ein gehässiges Männchen, dass er seine Probleme noch nicht einmal ansatzweise gelöst hatte.
Er saß kaum im Auto, als sein Handy auch schon klingelte. Wie erwartet war es Engin, der wissen wollte, warum er zu spät kam. Zudem schickte er Chris noch ins Bistro, um seinen Lieblingskaffee zu holen. Chris war es recht. So konnte er sich auch noch ein Frühstück besorgen.
Kurz darauf kam er schwer bepackt ins Büro.
Von Engin bekam er statt einer Begrüßung nur ein vorwurfsvolles Kopfschütteln.
"Mann, Chris, was stellst du wieder an? Noch nicht ganz aus dem Urlaub zurück und du hast schon verpennt!"
"Wir hätten wohl doch einen Tag früher zurückfliegen sollen, mir hängt die Zeitverschiebung noch ziemlich in den Knochen. Sorry, hat schon jemand gemeckert?"
"Nö, laut Dienstplan hat man uns für die nächste Zeit zum Innendienst verdonnert. Und Krause hat mir heute Morgen gesteckt, dass wir demnächst von allen anderen Fällen abgezogen werden und uns nur noch um Bechthold kümmern sollen."
"Wow, werden die oberen Etagen doch mal wach und merken, was für einen dicken Fisch wir da an der Angel haben? Dann haben wir ja gute Chancen, in der nächsten Zeit ein Aktenzeichen zu bekommen."
Zum ersten Mal seit Tagen schmeckte Chris das Essen wieder, auch der Kaffee war in Ordnung, obwohl er mit dem vom Starbuck's, den sie in San Francisco regelmäßig zum Frühstück heimgesucht hatten, nicht wirklich konkurrieren konnte.
Engin klaute sich einen Muffin und für Chris war die Welt in diesem Moment wieder in Ordnung.
"Stimmt, es wird in der nächsten Zeit ziemlich international werden. Einige Spuren führen nach Rom, da hat sich Schröder schon hintergeklemmt, und einige andere Tipps weisen nach Paris."
Allein das Wort Paris und der darauf folgende Gedanke an Amanda, führte bei Chris schon wieder zu Bauchschmerzen. Frustriert ließ er sein angebissenes Muffin auf den Schreibtisch fallen.
"Gott, dann müssen wir uns mit den Franzosen auseinandersetzen. Ich hasse es, mit denen zusammen zu arbeiten. Die wollen ja noch nicht mal Englisch oder gar Deutsch sprechen. Jemand, der kein Französisch spricht, ist bei denen unten durch!"
"So wie es sich anhört, hast du ja schon mal sehr erfolgreich mit denen zusammengearbeitet."
Chris schnaubte verächtlich.
"Das behaupten jedenfalls die Franzosen. Es ist schon einige Jahre her und Mike und ich arbeiteten mit denen im Bereich der Ersatzteilschieberei, besser gesagt, wir wurden von denen links liegen gelassen. Frag mal Mike, was der von Franzosen hält!"
Engins amüsierter Gesichtsausdruck nervte Chris nur ein wenig, er wusste, was Engin jetzt hören wollte.
"Okay, dann erzähl mal, was du bei denen erreicht hast."
Engin lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück.
"Bechthold ist, während du faul in der Sonne gelegen hast, drei Mal für einige Tage nach Paris geflogen, und da hat Krause mir den Auftrag gegeben, Interpol Paris zu kontaktieren und herauszufinden, was die denn von unserem guten Georg Bechthold halten. Weißt du, was das bedeutet?"
Chris war sich dessen zu gut bewusst. Sie hatten lange genug darauf hingearbeitet. Engin ließ ihm aber keine Zeit für einen Kommentar und gab selbst die Antwort.
„Wir haben endlich unseren Chef weich gekocht. Er war ja schon seit längerem überzeugt, dass Bechthold ein hohes Tier in der organisierten Kriminalität ist. Jetzt ist er überzeugt, dass wir es auch nachweisen können. Und wir sind jetzt drin!"
Natürlich legte Engin jetzt eine kleine Pause ein, um einen Schluck zu trinken. Doch Chris kannte seinen Partner zu gut und lies sich von ihm nicht auf die Palme bringen. Stattdessen as er ganz genüsslich sein Brötchen. Er brauchte gar nicht lange zu warten, da fuhr Engin auch schon fort.
„Er hat mir die Telefonnummer von den Jungs gegeben, mit denen Retzlaff und Schiller gearbeitet haben, du weißt schon, das Ding mit der Massenproduktion von DVDs. Und diesen Auftrag habe ich dann auch ausgeführt."
"Jetzt rede doch nicht so rum. Sag schon, wie ist es gelaufen?"
Manchmal erinnerte ihn Engin mit seinem weitschweifenden Stil an einen orientalischen Märchenerzähler. Deswegen brauchte er auch hin und wieder eine kleine Ermunterung, um beim Thema zu bleiben.
Es musste ja eine ziemliche Story sein, wenn Engin schon so anfing. Dieser ließ sich auch nicht lange bitten.
"Ich habe mitbekommen, dass Schröder mit einigen anderen netten Kollegen gewettet hatte, dass ich nichts erreichen würde. Und das hat mich doch schon sehr gewurmt.
Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Magen habe ich dann bei den Jungs auf dem Boulevard Palais angerufen. Zum Glück habe ich als erstes Vincent am Apparat gehabt
"Ja und?" Seitdem Schröder wieder im Dienst war, wurden sie ständig von ihm angefeindet. Chris verstand zwar nicht warum, aber sie hatten sich daran gewöhnt.
"Vincent ist algerischstämmiger Franzose. Als ich mich mit HLKA Frankfurt, Gruppe drei meldete, fing er direkt an, französisch mit mir zu reden. Und als er merkte, dass ich kein Französisch spreche, wollte er mich wohl ärgern und hat angefangen, arabisch zu reden. Als er dann begriff, dass ich etwas Arabisch kann, war der Damm gebrochen."
"Dann muss ich also jetzt Arabisch lernen, um mit den Franzosen zu sprechen?"
"Nö, seine Kollegen sprechen kein Arabisch und waren wohl ziemlich angenervt und so haben wir uns auf ein englisch-deutsch-französisches Kauderwelsch geeinigt und wir kommen prima zurecht."
Da konnte Chris nur den Kopf schütteln. Engin war manchmal ein Genie, wenn es darum ging, irgendwelche Kontakte aufzubauen. Entweder gab es da eine entfernte Cousine seiner Mutter, oder er erkundete, wer in dem entsprechenden Laden auch ein Immigrant war und nahm dann mit diesem Kontakt auf. So hatte er schon viele Informationen besorgt. Einzig Chris' Expartner bei der Kripo, Mike, war bei der Informationsbesorgung noch besser gewesen.
Aber Mike hatte seine Quellen, weil er schwul ist; stockschwul und verheiratet.
Doch bevor er sich noch weiter ablenken ließ, konzentrierte sich Chris wieder auf das, was Engin gesagt hatte.
"Und was wissen die über Bechthold?"
"Noch nicht viel. Vincent hat sich aber mal für mich in den verschiedenen Abteilungen umgehört und herausgefunden, dass Bechthold einige gute Beziehungen, viel Geld und eine große Privatsammlung wertvoller Kunstgegenstände hat. Einige dieser Stücke verleiht er an die exotischsten Museen und kein Mensch kontrolliert diese Stücke, wenn sie wieder nach Frankreich zurückkommen."
"Das hört sich ja sehr interessant an."
"Ja, find ich auch. Wir werden eine kleine Dienstreise nach Paris machen, wenn Vincent mehr Beweise hat."
Chris hatte inzwischen sein Frühstück auf und nippte nun genüsslich an seinem Kaffee. Was fanden die Leute nur so interessant an dieser Stadt? Sie war dreckig, laut und eine Unsterbliche gab es dort auch. Er schüttelte den Kopf, als könnte er so diesen unangenehmen Gedanken los werden. Hilfreicher war es, Engin zu necken.
"Oh, du willst in die Stadt der Liebe fahren? Dabei bist du doch schon ewig solo."
"Ich mag zwar solo sein, das heißt aber nicht, dass ich jede Nacht allein verbringe. Und die Mädchen bekommen halt immer ein Leuchten in ihre Augen, wenn man von Paris erzählt. Apropos, wie war es denn in San Francisco? Das ist doch eure Stadt der Liebe! Du hast davon noch kein Wort erzählt!"
"Wie denn auch? Du lässt mich ja kaum zu Wort kommen. Es war schön, sehr schön!"
Jetzt hatte Chris kein Erbarmen mit Engin. Er erzählte ihm jedes Detail aus ihrem Urlaub und zeichnete alles in leuchtenden Farben.
Nur über seine Dummheit, alleine ins Tenderloin zu laufen, und die weitreichenden Folgen schwieg er sich aus.
Nach Feierabend fuhr Chris noch kurz an einer Blumenhandlung vorbei. Er redete sich ein, dass es ihm nicht um das Beschwichtigen eines sehr schlechten Gewissens ging, sondern darum, Eddie zu zeigen, wie viel er ihm bedeutete.
Nachdem er sich lange umgeschaut hatte, entschied er sich für eine einzige langstielige rote Rose. Chris fand es zwar ziemlich kitschig und schon gar nicht originell, aber Eddie würde es verstehen.
Es sollte der Auftakt sein, Eddie die ganze Wahrheit zu erzählen. So konnte es nicht mehr weitergehen; ihre Beziehung würde früher oder später Risse bekommen. Und nichts fürchtete Chris mehr. Aber tief in ihm nagte die Angst, dass Eddies Wissen um seine Unsterblichkeit alles nur noch schlimmer machen würde. Als er zu Hause ankam, war sein Freund noch nicht da. Chris rief kurz in der Werkstatt an und erfuhr von Eddie, dass er noch an einem Oldtimer basteln und in etwa zwei Stunden Feierabend machen würde.
Um sich abzulenken, kochte Chris in der Zwischenzeit das Abendessen. Nichts Romantisches oder extrem Aufwendiges, dabei würde Eddie misstrauisch werden. Und das konnte er nicht gebrauchen, nicht wenn er Eddie von seiner Unsterblichkeit erzählen wollte.
Um noch einmal ganz sicher zu gehen, dass er auch wirklich nicht träumte, schnitt er sich kurz in den Finger. Wie befürchtet verheilte auch diese Wunde innerhalb weniger Minuten.
Als Chris dann endlich hörte, dass sich Eddies Schlüssel in der Haustür drehte, war das Essen fertig und Chris' Nerven lagen ziemlich blank.
Er ließ es sich aber nicht anmerken.
Eddie bemerkte natürlich sofort die Rose und wusste auch das Essen zu würdigen, indem er wie ein hungriger Wolf darüber herfiel.
Erst als sie nach dem Essen zusammen gemütlich auf der Couch saßen, versuchte Chris, sich dem Kern seines Problems zu nähern.
Aber Eddie kam ihm zuvor.
"Trittst du mich bitte, wenn ich mich noch mal so dämlich verhalte wie in den beiden letzten Wochen?"
"Du hast dich nicht dämlich verhalten, ich war der Hornochse. Statt mir ständig Vorwürfe zu machen, dass ich so dumm gewesen bin, und mich in Selbstmitleid zu wälzen, hätte ich merken müssen, was mit dir los war!"
"Ach, und was glaubst du, was mit mir los war?"
Chris überlegte einen Moment, wie er es Eddie sagen konnte, ohne ihn zu verletzen. Dann entschied er sich für die Wahrheit.
"Hmm, wie soll ich's sagen? Ich würde es als ‚Ich leide still vor mich hin, denn du verlässt mich, weil du hetero bist'-Zustand bezeichnen. Mensch Eddie! Schmink dir ab, dass du mich so einfach los wirst! Das funktioniert so nicht!"
"Weißt du, wie ich mich fühle, wenn du immer den ganzen Frauen hinterher schaust?"
Ja, Eddie war verletzt. Bei diesem Blick wäre Chris fast schwach geworden, aber das Ganze musste jetzt gesagt werden, da er bezweifelte, jemals wieder den Mut dazu aufbringen zu können.
"Genauso, wie ich mich fühle, wenn du den ganzen Jungs hinterher guckst. Glaubst du wirklich, dass ich dich verlasse, nur weil ich einer Frau hinterher schaue?"
Liebevoll knuffte Chris Eddie in die Seite. Dieser zuckte aber nur mit den Schultern.
"Manchmal komme ich mir halt so vor, als ob ich, genauso wie damals, nur von dir träume. Es kann doch einfach nicht wahr sein, schließlich bist du doch hetero."
Innerlich verdrehte Chris die Augen.
Wieso musste Eddie nur diesen Komplex haben?
"Süßer, kapier' es endlich! Mit dir komm' ich besser zurecht als mit irgendeiner Frau! Wenn ich mir jetzt einen Turbo für mein Auto kaufen wollte, dann sagst du mir ‚Lass mich den Turbo kaufen, du besorgst doch eh nur Schrott'. Eine Frau würde mich doch nur vor die Wahl stellen ‚Ich oder der Turbo!' Also vergiss allen anderen Scheiß! Ich bin glücklich mit dir und ich liebe dich. Und wenn du willst, dann kriegst du es auch noch schriftlich!"
Nachdem Chris dies sagte, wusste er, dass es schwer würde, noch etwas mit Eddie zu besprechen. Denn der kicherte in sich hinein.
"Das mit ‚Ich oder der Turbo', das war doch Uschi gewesen? Und in der nächsten Nacht bist du in meinem Bett gelandet!"
"Und du hast mir immer noch nicht gesagt, was damals gelaufen ist."
Nicht, dass es immer noch an Chris nagte. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, niemals herauszufinden, ob er nun in jener Nacht mit Eddie ins Bett gestiegen war oder nicht.
Aber es war bei ihnen ein altes Spiel, sich gegenseitig damit aufzuziehen.
"Werde ich auch nicht," kam auch prompt der Kommentar von Eddie. Dafür bekam er von Chris ein Kissen an den Kopf geworfen.
Aber dann wurde Eddie mit einem Mal wieder ernst. Sein Gesichtsausruck zeigte Chris, wie wichtig es ihm war.
"Für mich ist die Welt auf- und wieder untergegangen, als du mit der schönen Französin im Hotel aufgetaucht bist. Du verschwindest spurlos, lässt mich einfach so in einem der wildesten Viertel von San Fran stehen, ich erlebe in der Nacht die Hölle, und dann tauchst du auf und die schaut dich auf eine Art und Weise an… als ob sie dich…als ob du sie… ach ich weiß auch nicht."
Eddie schlug frustriert auf das Kissen ein und drehte dabei, als ob er ihn abwehren wollte, Chris den Rücken zu.
"Jedenfalls bin ich froh, dass du ihre Einladung, sie noch mal während unseres Urlaubs zu besuchen, ausgeschlagen hast. Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn ich daran denke, dass sie dich in ihre Klauen bekommen könnte."
Das Kissen hielt Eddie jetzt vor den Bauch gepresst und die Beine angezogen. Er schien komplett auf Abstand zu gehen.
Warum konnte denn nie etwas so laufen, wie Chris es wollte? Noch nicht einmal ein Gespräch mit Eddie konnte er lenken, wie er es sich zurecht gelegt hatte.
Jetzt hatte Eddie sich in sich zurückgezogen. Da kam er nicht mehr ran.
Da brachte es nichts mehr, wenn er versuchte, Eddie alles zu erklären. Trotz überzeugender Beweise würde Eddie ihm jetzt nicht glauben.
Auch würde er es mit Worten nicht schaffen, die Mauer niederzureißen, die Eddie gerade aufgebaut hatte.
Deswegen nahm er Eddie in den Arm, zog das Kissen weg und kitzelte ihn gnadenlos durch. Als Eddie dann endlich um Gnade bettelte, zogen sie ins Schlafzimmer um.
Zwei Wochen später warf Chris ziemlich frustriert eine Aktenmappe auf seinen Schreibtisch. Es war nicht die einzige, die dort lag, und alle hatte Chris in den letzten Tagen von vorne bis hinten mehrfach durchgearbeitet. Und trotzdem waren sie keinen Schritt weitergekommen.
"Na, reicht's für heute? Hast du den Kampf gegen die Windmühlen aufgegeben?"
"Nein, Sancho! Ich habe nur entschieden, dass ich ganz dringend einen Kaffee brauche."
Engin legte die Akten, in denen er geblättert hatte, zur Seite.
"Gut, dann geh ich uns einen holen."
Bevor Engin aufstehen konnte, war Chris aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür.
"Lass mal, ich geh schon. Ich will die Rauchwolken über meinem Kopf vertreiben. Und etwas Bewegung brauch' ich auch."
"Dann komm' ich mit."
Es war an diesem Tag das siebte oder achte Mal, dass Chris aus dem Büro flüchtete, und jedes Mal schloss sich Engin an.
Und immer wenn Chris auf die Uhr schaute, schien sich der Zeiger nur um wenige Zentimeter bewegt zu haben. Er wusste, dass er nicht für den Innendienst geeignet war. Aber so schlimm wie jetzt hatte er es noch nie empfunden.
Er wusste, woran das lag. Einmal an der Gewissheit, dass es noch mindestens ein bis zwei Jahre dauern würde, bis sie im Fall Bechthold zuschlagen konnten. Sie hatten zwar schon genügend Beweise, um Bechthold für einige Zeit hinter Gitter zu bringen, aber sie wollten nicht nur ihn, sondern alle. Aber wenigstens hatte Krause schon einmal beim Staatsanwalt wegen eines Aktenzeichens vorgefühlt. Und der hatte signalisiert, dass noch einige Kleinigkeiten fehlten, damit sie offiziell ermitteln konnten. Und das war ein mühsames Puzzlespiel.
Normalerweise mochte Chris solche Spiele, aber diesmal hatte er das Gefühl, dass das Puzzle mindestens hunderttausend Teile hatte und das war einfach zuviel für ihn.
Zum anderen war da immer noch sein Unfall und Eddie. Er hatte bisher nicht den richtigen Dreh gefunden, Eddie über seine Veränderung aufzuklären. Und langsam bezweifelte er, dass er es jemals schaffen würde.
"Woran denkst du?"
Chris wurde von Engin aus seinen Grübeleien gerissen.
Er stand im Aufenthaltsraum, hielt die Kaffeetasse zwischen seinen Fingern und starrte aus dem Fenster.
Wieder in die Realität zurückgekehrt drehte Chris sich zu seinem Partner um.
"An Puzzlespiele und ob wir wirklich gut genug sind. Es ist zum Verzweifeln. Wir glauben, inzwischen zu wissen, was Bechthold getan hat. Wir wissen, dass viele Menschen leiden werden, wenn wir jetzt nicht zugreifen, und doch lassen wir es, weil wir die ganze Bande bekommen wollen! Ich will wieder zurück auf die Straße. Da brauche ich mir keine Gedanken über solche Sachen zu machen!"
"Willst du das wirklich?"
Chris trank von dem Kaffee und überlegte einen Moment.
"Nicht wirklich, aber das Gedankenspiel ist ganz interessant. Und was ist mit dir?"
"Ich überlege, ob ich mit dem Rauchen anfangen sollte. Angeblich soll es ja beruhigen. Auf der einen Seite macht mir die Recherche unheimlichen Spaß. Das ist genau das, was ich immer bei der Polizei tun wollte. Und dann, dann denke ich, dass doch hinter diesen ganzen Aktenbergen Menschen stecken und dann habe ich Angst. Ob ich nicht zu kalt werde."
"Solange du noch Angst davor hast, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Erst wenn du eines Tages feststellst, dass du diese Angst verloren hast, dann hast du die Menschlichkeit verloren, die du für diesen Job brauchst."
"Na toll, danke. Du bist heute unheimlich aufbauend."
Engin klang leicht resigniert. Chris konnte es sehr gut verstehen.
"Mach dir nix draus. Irgendwann hat jeder Polizist diese Gedanken. Man muss es nur schaffen, diese grausame kleine Stimme irgendwo in den Hinterkopf zu verbannen, wo sie nicht mehr stört."
Genauso wie eine andere kleine Stimme, die mich ständig dazu auffordert, Eddie die Wahrheit zu erzählen. Bald habe ich da hinten einen Chor, einen sehr unmusikalischen Chor.
"Schaffst du es, deine mahnende Stimme zu verbannen?"
Engins Kommentar trieb noch einen weiteren Keil in die Kerbe.
"Nö, aber inzwischen ignoriere ich sie. Anders wäre ich wahrscheinlich ein Fall für die Klapsmühle."
Und zwar für die geschlossene Abteilung. Besonders, wenn ich denen noch erzähle, dass ich unsterblich bin.
Ein leises Lachen kam jetzt von Engins Seite.
"Sind wir nicht alle etwas durchgeknallt?"
"Doch, denn das ist hier die Einstellungsvoraussetzung. Aber ich hab jetzt genug Kaffee gehabt. Sollen wir uns noch mal an die Arbeit setzen oder machen wir Feierabend?"
Die beiden schauten gleichzeitig auf die Uhr. Danach schüttelte Engin bedauernd den Kopf.
"Nee, dafür ist es wirklich noch zu früh. Wir halten noch eine halbe Stunde durch, machen dann Feierabend und ich komme heute Abend zu euch. Ich habe da eine neue DVD, die zum Thema durchgeknallt ziemlich passt, und der Film soll absolut genial sein."
"Durchgeknallt und genial ist wie für uns gemacht. Welcher Film ist es denn?"
Engin antwortet nicht sofort, sondern wartete, bis sie wieder in ihrem Büro waren und die Tür geschlossen hatten.
"Sagt dir der Titel ‚Pirates of the Caribbean' etwas?"
"Nein, davon habe ich noch nie etwas gehört."
"Der ist letzte Woche in den Staaten angelaufen. Mit Johnny Depp als total abgedrehtem Piratenkapitän."
"Engin, du weißt, dass das illegal ist?"
Dieser schaute Chris unschuldig an.
"Wenn der Film gut ist, werde ich ihn mir auch noch im Kino anschauen. Aber ich habe keine Lust, bis September zu warten. Jetzt spar dir deinen Moralischen und sag mir, ob ich mich zu euch einladen kann oder nicht. Ihr macht was Leckeres zu essen und schmeißt anschließend den Film bei euch im Heimkino auf die Leinwand. Dafür bring' ich gute Laune, Wein und den Film mit."
Chris unterzog Engin einer gründlichen Musterung. Eigentlich hatte es ihm schon längst auffallen müssen, aber in den letzten Wochen war er einfach zu abgelenkt gewesen.
"Kann es sein, dass du zugenommen hast? Und dann sollen wir dich auch noch bekochen!"
Nachdem Engins Versuch, den Bauch einzuziehen, scheiterte, gab er es zu.
"Seitdem ich in deine alte Wohnung eingezogen bin, werde ich halt nicht mehr von meiner Mutter bekocht. Die hat immer auf meine Ernährung geachtet. Aber so alleine gibt es bei mir viel zu oft Fast Food. Was meinst du, warum ich mich so gerne bei euch einlade? Du kochst einfach nur klasse. Ich gelobe aber Besserung. Da wir ja in absehbarer Zeit nicht aus diesem Bürojob rauskommen werden, werde ich Sport machen."
Dann holte Engin zum Gegenschlag aus.
"Du siehst aber auch nicht wirklich gut aus. Etwas mehr Bewegung würde dir auch gut tun. Und mit zuviel Arbeit kannst du dich bei mir nicht rausreden. Was hältst du davon, wenn wir das gemeinsam machen?"
"Hey, im Gegensatz zu dir gehe ich seit einigen Monaten morgens joggen!"
Chris wusste, dass für ihn als weitere Sportart nur Kampfsport in Frage kam.
Da Amanda als Lehrerin keine Lösung war, weil Eddie sonst vor Eifersucht ausrasten würde, musste er eine andere Alternative suchen.
"Aber wenn wir uns auf eine gemeinsame Sportart einigen können, warum nicht? Was hast du denn gedacht?"
"Ich spiele ganz gerne Fußball."
"Da gehe ich doch lieber ins Stadion und schau mir ein Spiel an. Aber ich glaube, dass wir das heute Abend besprechen. Vielleicht will Eddie ja auch mitmachen."
"Wenn du meinst. Ich freu mich schon drauf."
Der Abend wurde ein Erfolg. Chris hatte nicht gedacht, dass man einen Piratenfilm mit so einem schwuchteligen Johnny Depp drehen konnte. Und Engin erzählte dann auch noch, dass dieser Film in Amerika ein Kassenschlager war.
Engin und Eddie waren während des Films von einem Lachkrampf in den nächsten gestürzt, nur Chris war das Lachen vergangen.
Die Tatsache, dass die Piraten unsterblich waren, hatte ihn schon nachdenklich gemacht. Als Chris auch noch mitbekam, wie sehr sie sich die Sterblichkeit wünschten, da fand er den Film überhaupt nicht mehr witzig.
Besonders die Szene, als Jack Sparrow zum Geist/Unsterblichen wurde, ging ihm ganz schön an die Substanz.
Um nicht weiter aufzufallen, lachte Chris einfach auch bei den Szenen, die Eddie und Engin für lustig hielten.
Und jetzt saß er hier und wartete, dass sie sich von diesem Film erholten.
"Wann hattest du noch mal gesagt, dass dieser Film ins Kino kommen soll?"
Eddie hatte sich etwas schneller erholt.
"Er soll Anfang September in Deutschland anlaufen!"
"Dann werde ich reingehen. Der Film ist einfach klasse. Dieser Jack… Mein Gott, wenn ich nicht mit Chris zusammen wäre, dann wäre er eine echte Versuchung für mich!"
Vielleicht war das die Chance, auf die Chris so lange gewartet hatte. Er musste es nur vorsichtig angehen.
"Ich weiß nicht, ein Typ, der so durchgeknallt ist? Der stand doch garantiert unter Drogen!"
"Nein, der ist einfach ein guter Schauspieler. Ich habe ja gedacht, dass man mich mit Schwulen nicht mehr schocken kann, besonders seitdem ich euch kenne, aber der…"
Engin fing schon wieder damit an. Und Eddie ging auch auf das Spiel ein.
"Was soll das heißen, ‚besonders seitdem ich euch kenne…'? Soll das eine Anspielung sein?"
Eddie schnappte sich die leere Wasserflasche und hielt sie wie ein Schwert in Angriffsstellung.
Dafür nahm Engin die Cola-Flasche und ging in Abwehrhaltung.
"Phh, versuche es nur! Ich bin Jack Sparrow, der furchtlose Pirat! Keiner kann besser kämpfen als ich. Versuche es nur - ich werde dich fertig machen."
"Und ich bin, ähm, ja, ich bin Horatio Hornblower im Dienste Seiner Majestät. Ich bin gekommen, um dich zu besiegen! Du wirst am Galgen enden, du elender Pirat!"
"Komm her und versuch es nur! Du hast keine Chance!"
Engin und Eddie tanzten um den Tisch und versuchten, sich mit den Flaschen tödliche Stiche zu versetzen. Chris hatte sich hinter dem Sessel in Sicherheit gebracht und beobachtete das Ganze.
Als Engin ziemlich aus der Puste aufgab, hatte Chris eine Idee. Aber erst mal holte er eine neue Flasche Wein und wartete, bis beide wieder zu Atem gekommen waren.
Er goss die Gläser voll und setzte sich, den Weinkelch in der Hand haltend, wieder aufs Sofa und schaute die beiden spöttisch an.
"Ihr habt ja überhaupt keine Kondition mehr. So ein kleiner Schwertkampf und schon seid ihr außer Atem. Kann das sein, dass ihr alt werdet?"
"Das musst du schließlich sagen! Schließlich bist du der Älteste in der Runde."
Und doch habe ich leider viel zu gute Chancen, dich zu überleben, Eddie.
"Dafür habe ich mir einen jungen Liebhaber gesucht, der aber scheinbar keine besonders gute Kondition hat! Weißt du, um dich vom kleinen Kajakbootführer zum Admiral des Königs hochzuarbeiten, musst du dich noch ganz gewaltig anstrengen."
Da Eddie jetzt Chris bedrohte, nahm er die Cola-Flasche und hielt sich seinen Freund vom Leib.
Nebenbei balancierte er auch noch sein Weinglas und versuchte, keine Rotweinflecken ins Sofa zu machen.
"Ich bin Kapitän Barbossa und da ich unsterblich bin, hast du keine Chance! Gib auf."
Lachend ließ sich Eddie aufs Sofa fallen.
"Mein Ordnungshüter will Piratenkapitän sein! Chris, du bist gemein zu mir! Morgen hab ich noch Muskelkater vom ganzen Lachen! Ich gebe auf!"
Auch Chris setzte sich wieder hin, kuschelte sich dabei aber an Eddie.
Jetzt musst du ganz vorsichtig sein. Sag nur nichts Falsches!
Warum musste er immer diese kleine Stimme in seinem Hinterkopf hören, wenn er sie überhaupt nicht brauchen konnte?
"Der Barbossa war aber auch gut. Mein Gott, weißt du, was man alles machen könnte, wenn man unsterblich ist?"
"Der Typ war verflucht!" Engin wirkte nachdenklich.
"Ach, die haben das einfach nur falsch angepackt! Was glaubst du, welche Möglichkeiten man als Unsterblicher hat? Du würdest nie altern und egal, wo man dich verletzt, es würde innerhalb von Minuten verheilen. Das wäre doch ein Segen! Besonders bei meinem Job! Überleg mal, was letztens Mike passiert ist! Auch wenn er sich beim Autounfall nur das Bein gebrochen hatte, ich war nach der Nacht bedient."
"Wenn ich unsterblich wäre, müsste ich zusehen, wie meine Freunde altern und sterben. Nein, ich will nicht unsterblich sein und ich will auch nicht, dass das du es jemals würdest. Denn dann würdest du mich irgendwann verlassen, weil ich dir zu alt werde. Vorteile hin oder her."
Verdammt, Eddie!
Damit die anderen nicht mitbekamen, was mit ihm los war, trank Chris seinen Wein in einem einzigen Zug aus. Doch der Kloß in seinem Hals wurde immer größer statt kleiner.
"Wisst ihr eigentlich, dass der Polizeisportverein auch eine Abteilung Fechten hat?"
Brutal wurde Chris von Engin aus seinen trüben Gedanken gerissen.
"Bitte?"
"Ja, die nennen es historischen Schwertkampf und wie ich uns heute Abend erlebt habe, wäre das doch genau der richtige Sport für uns! Die trainieren montags und donnerstags. Was haltet ihr davon?"
Begeistert blickte Engin in die Runde.
Chris riss sich zusammen. Niemand durfte mitbekommen, was mit ihm los war, also musste er auch so tun, als ob er einen lustigen Abend verbringen würde. Zudem war Schwertkampf genau das, was wer brauchte.
"Schwertkampf? Bist du sicher?"
"Ja, die bieten zweimal die Woche Unterricht an und bringen einem die Grundlagen bei. Sie arbeiten sowohl nach heutigen Standards als auch nach Büchern aus dem Mittelalter."
"Montag und Donnerstag? Das kannst du vergessen! Montag abends kommt immer Frau Hölter, die mich bei der Buchhaltung unterstützt, und alle zwei Wochen treffe ich mich donnerstags mit einigen Freunden zum Stammtisch."
Eddie wirkte in dem Moment richtig betrübt.
"Aber nimm Chris mit. Dann weiß ich wenigstens, wo er ist, und habe keinen Grund, eifersüchtig zu sein!"
"Seit wann gebe ich dir einen Grund, eifersüchtig zu sein? Du bist der hübsche, gut aussehende Mechaniker, der ständig von seinen Kunden Blumen geschenkt bekommt. Ich hab schon graue Haare und bin deswegen uninteressant!"
Wieso musste es nur so weh tun? Musste er seine Unsterblichkeit wirklich vor Eddie verbergen und so tun, als ob alles in Ordnung war? Chris fühlte sich entzweigerissen.
"Ach, da denken die Frauen aber anders. Die finden Männer mit grauen Schläfen interessant!"
"Ja, aber warte mal ab, wenn zu den grauen Schläfen dann auch noch Halbglatze und Bierbauch kommen, dann hast du keine Chance mehr."
"Soweit wird es bei mir nie kommen!"
"Abwarten!"
Eddie schlief schon lange, als Chris wartete, dass er irgendwann zur Ruhe kam. Er hatte sich dicht an seinen Freund gekuschelt und hoffte, dass sein Herzschlag einen beruhigenden Einfluss hatte. Aber es half nichts.
Chris wurde in dieser Nacht bewusst, warum er es nicht über sich gebracht hatte, Eddie von seiner Unsterblichkeit zu erzählen. Er hatte Angst vor genau dieser Reaktion gehabt. Und diese Angst war so berechtigt gewesen. Chris nahm sich vor, seine Zeit mit Eddie zu genießen. Denn wenn Eddie von seiner Unsterblichkeit erfahren würde, dann würde er gehen.
Er würde gehen und Chris würde dann allein sein. Bis ans Ende seines Lebens. Und das konnte, wenn er Pech hatte, verdammt lang dauern.
tbc
