Trennungsschmerz
Chris beneidete Engin um seinen tiefen Schlaf, denn er wachte weder auf, als Chris die verschiedenen Zahlstellen anfuhr, noch bekam er mit, wie bei Saarbrücken Chris' Handy klingelte.
Es war Eddie. Nach kurzem Zögern nahm Chris den Anruf über die Freisprechanlage an.
"Mann Chris! Wo steckt ihr denn? Hab ja ewig nichts von dir gehört!"
"Ich habe dir gestern noch einen Abschiedskuss gegeben. Ewig ist für mich was anderes."
Der Rest meines Lebens ohne dich.
Chris hörte Eddies Lachen durch das Telefon.
"Okay Schatz, du hast mich erwischt, aber ich hab mich schon gefragt, warum du dich gestern nicht gemeldet hast."
"Dafür kannst du dich bei Vater Staat bedanken, der die Handys nicht fürs Ausland freischalten lässt. Denn mein Französisch ist so miserabel, dass ich noch nicht mal nach 'ner Telefonzelle fragen kann."
"Für mich ist dein Französisch gut genug."
Warum tut er mir das an? Es ist doch so schon schwer genug.
Die Versuchung, das Ende noch um einige Tage aufzuschieben, war groß. Noch einmal Eddies Lächeln zu sehen, seine starke Schulter zu fühlen, sich einfach fallen zu lassen. Aber Chris wusste, dass jeder weitere Tag den Schmerz verstärken würde.
"Eddie. Aus. Schluss. Engin sitzt neben mir und ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Sonst baue ich noch einen Unfall."
"So, so, auf den Verkehr musst du dich konzentrieren… was macht Engin denn gerade? Sonst höre ich ihn doch immer im Hintergrund lachen."
"Der ist diese Nacht mit Vincent um die Blocks gezogen und schläft gerade seinen Kater aus."
"Und du hast einsam und verlassen im Hotel rumgesessen und dich gelangweilt? Das glaube ich dir nicht."
Dieser spöttische Kommentar gab Chris die Chance, die er brauchte.
"Dann lass es eben", schnappte er zurück.
Chris wusste, dass Eddie von seiner Antwort und von seinem Tonfall verletzt wurde.
Dementsprechend patzig kam auch Eddies Stimme aus dem Lautsprecher.
"Wann sehe ich dich denn wieder? Kommst du zurück, bevor ich ins Bett gehe?"
"Ich weiß nicht, wie viel noch auf den Straßen los ist, aber wenn alles klappt, dann sind wir gegen drei wieder in Frankfurt. Wir werden wohl im Bistro noch einen Kaffee trinken und dann komm' ich nach Hause. Früh genug?"
"Ja, das reicht. Ich sehe dich dann."
"Bis nachher."
Klack.
Chris ging jede Wette ein, dass Eddie um drei Uhr im Bistro auftauchen würde. Er wollte bestimmt herausbekommen, warum er sich so seltsam benahm. Sein Freund war wesentlich neugieriger als manchmal gut für ihn war. Und heute würde Chris es gegen ihn verwenden. Es ging doch nichts über einen spontanen Plan und die Hoffnung, dass Engins Gästezimmer frei war. Denn wenn alles klappte, dann würde er es heute brauchen.
Frankfurt, Anfang Februar 2004
Chris' Zeitplan ging trotz starken Berufsverkehrs auf. Um kurz vor drei parkte er den Wagen in der Tiefgarage, weckte Engin und schleppte ihn zum Bistro. Ihr Stammtisch, in einer Ecke vom restlichen Raum durch Blumen abgetrennt, war frei.
Der Platz war ideal, um ungesehen zu bleiben, aber genauso ideal, um belauscht zu werden. Jedenfalls, wenn Chris es zuließ und die Deko nicht die ganze Zeit im Auge behalten würde.
Nachdem Engin seinen ersten Kaffee inhaliert hatte, war er auch wieder aufnahmebereit und ansprechbar.
"Du schuldest mir eine Erklärung, Chris!"
Eine Gnadenfrist gab es für Chris nicht, denn Engin sah ihn auffordernd an und aus dem Augenwinkel sah er, dass Eddie das Restaurant betrat.
"Ich habe mich überschätzt!"
"Das ist nichts Neues. Wie kommt es, dass du es auf einmal freiwillig zugibst?"
"Weil ich mich schon zu lange damit rumplage."
Wenn Eddie sich normal verhalten würde, dann würde er erst mal einen Moment warten und versuchen, das Gesprächsthema mitzubekommen, denn er hasste nichts mehr, als in ein dienstliches Gespräch zu platzen.
Er würde nur dann an den Tisch kommen, wenn sie über private Sachen quatschen würden.
"Nun spuck schon aus. Oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Wenn du mir nicht sagst, was mit dir los ist und was letzte Nacht passiert ist, dann wird Eddie alles von mir erfahren. Ich werde nichts decken, was ihn verletzen würde."
"Das brauchst du nicht, ich weiß nur nicht, wie ich es Eddie beibringen soll."
"Was? Dass du letzte Nacht eine Französin flachgelegt hat? Das kann ich mir gut vorstellen."
Wenn sein Freund nicht bereits lauschen würde, jetzt würde er bestimmt zuhören.
"Das ist eine Auswirkung, aber nicht die Ursache. Und da liegt mein Problem."
"Welches Problem?"
Chris rührte in seinem Kaffee. Das war seine letzte Chance, um alles rückgängig zu machen. Er konnte Engin erzählen, dass er nichts mit Amanda hatte, und irgendetwas anderes auftischen. Dann musste er sich nur noch Eddie schnappen und ihm die Wahrheit erzählen. Und dann?
Es ging nicht. Er konnte Eddie nicht dieser Gefahr aussetzen, nicht solange Bechthold auf freiem Fuß war. Nicht solange er ein schlechter Kämpfer und für alle anderen Unsterblichen eine leichte Beute war.
Ein trauriges Lächeln umspielte Chris' Lippen.
"Ich bin nicht schwul genug. Oder anders ausgedrückt: Ich liebe Eddie nicht so, wie ich es müsste, um den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen. Vielleicht hat die Beziehung nur deswegen so lange gehalten, weil wir so lange gebraucht haben, um zusammenzukommen. Ich weiß es nicht."
Wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, dann hätte Chris über Engins entgeistertes Gesicht lachen können.
"Chris, das glaube ich nicht. Wenn man euch zwei zusammen sieht… wie soll ich es sagen… es passt. Ihr seid für mich ein Traumpaar. Das kann doch nicht sein. Seid wann zweifelst du denn?"
"Seit unserem Urlaub in San Fransisco. Ich hab' dir nichts davon erzählt, aber ich habe da an einem Tag ziemliche Scheiße gebaut und eine Französin hat mir da raus geholfen."
"Du hast…"
"Nein, ich bin nicht mir ihr ins Bett gestiegen, wenn du das denken solltest, aber allein schon ihr Parfüm zu riechen und zu sehen, wie sie sich bewegte, hat gereicht. Es hat mich nachdenklich gemacht. Und ich habe gemerkt, was ich in der Beziehung mit Eddie vermisse. Es lässt sich halt nicht ändern, dass er ein Mann ist."
Chris zögerte. Lauschte, wollte wissen, ob von Eddie, der hinter der Botanik stand, irgendeine Reaktion kam. Aber da war nichts. Also musste er zum letzten Mittel greifen.
"Ich habe die ganzen Bedenken wieder auf die Seite schieben können, bis Amanda dann Weihnachten wieder angerufen hat."
"Amanda? Du willst doch nicht etwa sagen, dass diese Amanda mit unserer Amanda identisch ist?"
"Du bist ein Schnellmerker. Was meinst du, warum ich gestern so durcheinander war, als wir bei ihr waren? Ich war ja schon froh, dass sie ihre Klappe gehalten hatte, damit du nichts merkst."
"Verdammt, und was soll ich jetzt in dem ganzen Spiel machen? Du kennst die Lady, steigst mit ihr ins Bett und dir ist scheißegal, was mit Eddie passiert. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Arschloch bist?"
Engin war eindeutig sauer. Das mit dem Gästezimmer konnte Chris dann wohl abhaken. Also musste er sich für diese Nacht nach einem Hotelzimmer umsehen. Hoffentlich fand er eins. Denn um im Auto zu schlafen, war er zu alt.
"Das musst du mit deinen ganzen Frauengeschichten gerade sagen. Komm, ich will mich nicht mit dir streiten. Wenn Amanda nicht heute Morgen ins Hotel gekommen wäre, dann hättest du nichts erfahren. Ich weiß, dass ich dringend mit Eddie reden muss, aber ich wollte noch einige Tage Zeit haben, um mir zu überlegen, was ich ihm erzählen soll. Und die Sache mit Amanda wollte ich wirklich nicht, aber es ist einfach passiert. Aber ich werde es heute noch hinter mich bringen. Ich weiß einfach nur nicht, wie ich damit anfangen soll. Ich weiß ja selbst noch nicht mal, wie das Ganze angefangen hat. Es ist ja nicht so, dass er mir gleichgültig ist."
"Vielleicht damit, dass du mir sagst, dass du dein Versprechen nicht halten konntest. Wie war das noch Weihnachten? ‚Selbst wenn du dieser Frau nicht traust, solltest du wenigstens mir trauen.' Oder dein Versprechen, mich niemals wegen einer Frau zu verlassen. Du hast gelogen. Weißt du, wie weh das tut?"
Eddie war aus dem Schatten herausgetreten und stand jetzt hinter Chris. Auch wenn Eddie sich noch so sehr bemühte, Chris konnte das Zittern in seiner Stimme hören.
Er stand auf, drehte sich um und mimte den Überraschten.
"Was machst du denn hier?"
"Ich wollte wissen, was mit dir los ist. Schließlich hast du dich in der letzten Zeit seltsam genug verhalten, denk nur an deine Albträume… aber irgendwie hatte ich mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was ich gerade gehört habe. Wie stellst du dir jetzt den Rest vor?"
In seinen Plänen hatte diese Szene anders ausgesehen. Er hatte damit gerechnet, dass Eddie ihm Vorwürfe machen würde, toben würde, aber nicht, dass er so ruhig bleiben würde. Es machte ihm Angst.
"Ich weiß es nicht. Ich bin mir letzte Nacht nur endgültig darüber klar geworden, dass ich so nicht weiterleben kann. Es tut mir leid, Eddie, ich wollte nicht, dass du es so erfährst."
"Wann ist dir das klar geworden? Als du diese Französin gefickt hast? War sie so gut, dass du alles andere vergessen hast? Dann bleibe bei ihr, aber lass dich nie wieder bei mir blicken! Du hast mir oft genug weh getan und ich will nicht, dass es noch mal passiert. Ich gehe sonst daran kaputt. Verschwinde aus meinem Leben."
Bevor Chris noch etwas sagen konnte, drehte Eddie sich um und rannte aus dem Bistro. Aber er war nicht schnell genug. Chris hatte die Tränen in seinen Augen gesehen.
Aus, vorbei. Nie wieder.
Chris drehte sich um und setzte sich wieder an seinen Tisch. Er stützte seinen Kopf in seine Hände und verharrte so mehrere Minuten. Er bekam zwar mit, dass Engin auf ihn einsprach, aber es war ihm egal.
‚Verschwinde aus meinem Leben.' Das war es, was Chris erreichen wollte, aber es tat so weh. Er bezweifelte, dass dieser Schmerz jemals vergehen würde.
Aber es musste weitergehen. Den Oscar für die beste schauspielerische Leistung würde er nur bekommen, wenn er jetzt auch noch Engin überzeugen konnte.
Es war nicht einfach, sich wieder aufzuraffen, aber Chris schaffte es. Er ließ seine Hände sinken und blickte Engin mit einem missratenen Lächeln an.
"Sorry, jetzt hast du auch noch das Ende einer Beziehung mitbekommen. Ich frag' mich nur, warum ich einfach nicht in der Lage bin, so etwas ohne Streit und Ärger hinzukriegen. So sollte es nicht enden!"
Als Antwort bekam er von Engin ein Glas rüber geschoben, das Chris in einem Zug leerte. Guter schottischer Whiskey. Es half zwar nicht, wärmte aber sein Inneres.
"Hast du schon Pläne für die Nacht? Ich glaube nicht, dass du dich im Moment bei Eddie sehen lassen solltest."
Chris schüttelte den Kopf.
"Nein, das werde ich ihm auch nicht antun. Für ihn ist es so schon schlimm genug. Bleibt mir nur zu hoffen, dass diese Woche keine Messe ist und ich noch ein Hotelzimmer erwische. Auch wenn ich keinen Golf mehr fahre, bei dem Wetter will ich in keinem Auto übernachten."
"Lass das Suchen, du kannst bei mir schlafen. Schließlich habe ich es dir zu verdanken, dass ich nicht mehr bei Mutter wohne. Vorausgesetzt du kommst damit klar, dass mein Arbeitszimmer nicht aufgeräumt ist. Das Sofa habe ich ja damals von dir übernommen."
"Danke, ich dachte, du bist so sauer, dass du mich im Regen stehen lässt."
"Wegen Eddie, ja, da bin ich sauer. Aber wir sind Partner und ich lass dich nicht so einfach im Stich. Und außerdem merke ich, dass dir das Ende der Beziehung mehr an die Nieren geht, als du zugeben willst."
Ja, damit hatte Engin Recht, viel zu recht.
"Du, ich möchte darüber nicht weiter reden. Lass uns ins Büro gehen, unseren Bericht tippen und dann hole ich mir irgendeine Flasche Hochprozentiges. Morgen sieht die Welt dann für mich wieder besser aus."
Doch Engins skeptischer Blick brachte Chris dazu, noch etwas zu sagen.
"Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich es hasse, auf Wohnungssuche zu gehen?"
Darauf erntete er nur ein Kopfschütteln.
Den restlichen Tag verbrachten sie so, wie Chris gesagt hatte. Sie gingen auf ins Büro schrieben ihren Bericht, gaben ihn bei Krause ab und fuhren zu Engin. Dort richteten sie das Arbeitszimmer für Chris her. Als das erledigt war, wollte Engin Chris noch etwas Gesellschaft leisten, aber Chris ließ es nicht zu. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben und gab vor, sich hemmungslos besaufen zu wollen.
Doch als er allein in seinem Zimmer war, ignorierte er die Whiskeyflasche und holte sein Schwert aus seiner Reisetasche. Lange blickte Chris auf die Klinge, die er auf seinen Knien liegen hatte.
Es war es nicht wert. Aber man hatte ihn nie vor eine Wahl gestellt.
Lange saß er so. Irgendwann raffte er sich auf, ging ins Bad, machte sich bettfertig und schüttete den Whiskey in die Toilette. Die leere Flasche stellte er wieder in sein Zimmer.
Als er dann im Bett lag, wartete Chris vergeblich darauf, einschlafen zu können. Er fragte sich, was Eddie in diesem Moment machte. Er hoffte, dass die Wut und die Enttäuschung den Schmerz überlagerten. Und ob Eddie es wirklich schaffen würde, sich ein neues Leben aufzubauen. Er wünschte ihm alles Gute und hoffte, über Mike wenigstens am Rande zu erfahren, was er machen würde.
Chris bedauerte es, dass es Anfang Februar war. Sein Wecker würde gehen, bevor die Sonne aufging. So konnte er noch nicht einmal darauf warten.
Irgendwann gab er auf. Er stand auf und schuf sich etwas Platz. Dann nahm er das Schwert und ging die Übungen durch, die er von Amanda gelernt hatte. Wieder und wieder. Bis ihn das Klingeln des Weckers erlöste.
Wie er den nächsten Tag überstand, ohne auszuflippen, konnte Chris später nicht mehr sagen. Engin hatte am Morgen nur einen Blick auf die leere Flasche geworfen und nachsichtig gelächelt. Auf der Arbeit hatte Chris sich hinter seinen Akten verschanzt und war für niemanden ansprechbar. Engin war so nett und nahm sogar sämtliche Telefongespräche für ihn an.
Chris war froh, dass Mike und Carola für die Observation von Bechthold eingeteilt waren. Denn heute war er nicht in der Lage, die Standpauke, die ihm Mike garantiert halten würde, so über sich ergehen zu lassen, wie es von ihm erwartet wurde.
Am schlimmsten war die Mittagspause. Da fuhr er zu Eddies Haus - vor ein paar Tagen war es noch ‚ihr' Haus gewesen , um einige seiner Sachen zu holen. Der Rest musste warten, bis er eine neue Wohnung hatte.
Er brauchte gar nicht groß zu packen, denn im Hausflur erwarteten ihn zwei gepackte Koffer. Auf einem thronte ein kleiner, ziemlich abgenutzter Teddy.
Es war ‚der Teddy'. Dieses eigentlich kitschige Etwas, das Chris vor etlichen Jahren gekauft hatte, um sich bei seiner damaligen Verlobten zu entschuldigen. Geendet hatte es mit einem Rausschmiss aus der gemeinsamen Wohnung. Bei dem anschließenden Besäufnis hatte er Eddie kennengelernt und war am nächsten Morgen in seinem Bett erwacht – ohne Erinnerung, was nun wirklich in der Nach passiert war. Zu einer Beziehung hatte es bei Chris nicht gereicht, obwohl Eddie sehr interessiert gewesen war. Doch der Teddy hatte seit dieser Nacht über all die Jahre eine Heimat in Eddies Bett gefunden und war schon lange nicht m
Dass der Teddy nun heimatlos war, zeigte mehr als alles andere, dass Eddie die Beziehung für beendet hielt. Und Chris musste bei dem Anblick die Tränen zurückhalten.
Hör' auf, es ist die beste Lösung. Auch wenn es noch so schmerzt.
Er packte die Koffer in seinen Wagen und fuhr wieder zur Arbeit. Dort saß er die restliche Zeit ab und es ging wieder zu seiner provisorischen Bleibe. Mit Engin, der ihm helfen und mit ihm reden wollte. Dabei wollte Chris doch nur seine Ruhe haben. Doch er bezweifelte, dass er sie bekommen würde. Um endlich wenigstens etwas Frieden zu finden, schlug er Engin vor, das Kochen zu übernehmen. Dieser stimmte zu und ließ ihn auch die nächste Stunde in Ruhe, nachdem ihn Chris zweimal aus der Küche geworfen hatte.
Erstaunlicherweise schaffte es Chris sogar, anschließend auch zu essen, was er gekocht hatte. Vielleicht lag es daran, dass er schon seit zwei Tagen nichts in den Magen bekommen hatte. Und nur vom Kaffee zu leben war wirklich keine gesunde Ernährung. Gleichzeitig hallte auch noch Amandas in seinen Ohren.
Um Engin zufrieden zu stellen, schauten sie sich später noch zusammen eine DVD an, aber Chris bekam den Inhalt nicht wirklich mit, er war einfach in Gedanken versunken.
Dann war es spät genug und Chris zog sich in sein Zimmer zurück. Er war wirklich müde und hoffte, diese Nacht wenigstens einige Stunden schlafen zu können.
Der Teddy wartete schon auf ihn.
Mitten in der Nacht wachte Chris schreiend aus einem Albtraum auf. Obwohl es eigentlich keinen Grund mehr gab, hatte er wieder davon geträumt, dass ein Unsterblicher Eddie töten wollte.
Er wälzte sich auf der Couch und konnte nicht weiterschlafen, denn es war kein Eddie mehr da, der ihn einfach nur tröstend in die Arme nahm.
Chris war auf einmal klar, dass sich genau so ein alter Oktopus fühlen musste, der sich gerade seine Arme ausgerissen hatte.
Aber er konnte sich den Luxus nicht leisten, Eddie hinterher zu trauern, das Überleben war wichtiger.
War es das wirklich? Willst du wirklich so weiterleben?
Die kleine Stimme aus seinem Hinterkopf meldete sich wieder bei ihm.
Chris stand lange am Fenster und dachte über diese Alternative nach.
Er kam zu dem Schluss, dass Selbstmord für ihn nicht in Frage kam. Er wollte immer noch leben. Selbst wenn es nur war, um in sicherer Entfernung über Eddie zu wachen. Und wenn Eddie irgendwann nicht mehr sein sollte, dann konnte er noch einmal darüber nachdenken.
Obwohl es mitten in der Nacht war, hielt Chris es nicht mehr in seinem Zimmer aus. Er zog seine Laufsachen an und verließ leise die Wohnung, um Engin nicht zu wecken.
In den frühen Morgenstunden, kurz bevor normaler Weise sein Wecker klingen würde, kam er schweißgebadet zurück.
Und er fühlte sich wesentlich besser. Er wusste nicht, wie viele Kilometer er in dieser Nacht zurückgelegt hatte, aber Chris hatte das Gefühl, dass er fast einen Marathon gelaufen war. Und das tat seinem Ego sehr gut und es war irgendwie berauschend.
Es geht doch nichts über körpereigene Drogen.
Dazu kam noch die Tatsache, dass er in dieser Nacht die Weichen für seine Zukunft gestellt hatte. Irgendwie hatte er deswegen gute Laune.
Auf dem Weg zur Dusche begegnete er einem sehr verschlafenen Engin, den er mit einem fröhlichen "Guten Morgen!" in die Flucht schlug.
Falls Engin in der Nacht gehört hatte, wie Chris aus dem Albtraum erwacht war, dann wusste er jetzt bestimmt nicht mehr, was er denken sollte. Aber das war Chris nur recht.
Leise und schief vor sich hinsummend stieg Chris unter die Dusche.
Seine gute Laune wurde erst gedämpft, als er im Amt Mike über den Weg lief, besser gesagt, als Mike ihn packte und gegen die Wand schleuderte.
Chris erinnerte sich an Mikes Boxtraining und an dessen berüchtigten Schwinger und beschloss, alles auf sich zukommen zu lassen und sich nicht zu wehren.
"Du dreckiger Mistkerl! Du verdammtes Machoschwein! Hat es dir Spaß gemacht? Weißt du, was du angerichtet hast?"
Mike war nicht nur auf hundertachtzig. Er war stinksauer. Chris wusste, wie sehr Mike damals – bevor Klaus in sein Leben getreten war - Eddie geliebt hatte und dass er sich immer noch um ihn sorgte. Mike hatte ihm sogar einmal anvertraut, dass er Klaus kennen gelernt hatte, als er für Eddie, lange nach ihrer Beziehung, eine Bürgschaft übernommen hatte, ohne dass dieser jemals etwas davon erfahren hatte.
"Okay, da es dir scheinbar scheißegal ist, werde ich dir mal sagen, was los ist. Gestern stand Eddie vor meiner Tür. Er war fix und fertig, weil er deine Klamotten gepackt hatte. Nach und nach hat Klaus dann die ganze Story aus ihm rausgelockt."
Oh, oh, das ist gar nicht gut. Scheiße!
Jetzt packte ihn Mike am Kragen und drückte Chris die Luft ab. Mit seinem aktuellen Trainingstand wäre es für Chris einfach gewesen, Mike abzuwehren, aber er ließ es.
"Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht, als du ausgerechnet mit dieser Tussi ins Bett gestiegen bist? Du hattest ihm versprochen, nichts mit ihr anzufangen. Hoch und heilig und er hat dir geglaubt. Hast du auch nur einen Augenblick überlegt, was du Eddie damit antust? ER IST FERTIG! Er will niemanden sehen. Wenn wir nicht gewesen wären, dann hätte er wahrscheinlich irgendetwas Unüberlegtes angestellt. Du Schwein. Und mit dir muss ich noch zusammenarbeiten! Du widerst mich an."
Chris sah die Faust, die auf ihm zukam. Er wich nicht aus. Ließ zu, dass sie mit voller Wucht gegen seinen Kiefer knallte und seinen Kopf schmerzhaft gegen die Wand prallen ließ.
Mike schien nach diesem Schlag wieder von seiner Palme runterzukommen. Er stand mit hängenden Armen vor Chris und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
"Darf ich jetzt auch etwas sagen? Okay, ich bin das Arsch, das sein Versprechen gebrochen hat und mit der falschen Frau ins Bett gestiegen ist. Aber ich denke, ich habe doch noch das Recht, mich zu verteidigen."
"Glaubst du wirklich, dass du das irgendwie entschuldigen kannst?"
"Nein!" Chris schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht entschuldigen. Ich habe Scheiße gebaut. Aber ich glaube nicht, dass das ganze Gebäude mitbekommen muss, was ich dir jetzt erzähle."
Denn sie waren nicht mehr allein. Die lieben Kollegen standen im Halbkreis um Chris und Mike und warteten gespannt auf die Fortsetzung. Wann prügelten sich schon zwei Beamte von der Zollfahndung und der Kripo auf dem Flur?
Mike schien einzusehen, dass ein einsames Büro ein besserer Ort für ihre Auseinandersetzung war. Er packte Chris' Jacke und zerrte ihn hinter sich her, bis sie in dem Büro waren, das er sich im Rahmen der Ermittlungen mit Kallenbach, Deichsel und Carola teilen musste. Nur Carola war anwesend. Sie tippte gerade etwas in ihren Computer ein.
"Kannst du uns bitte allein lassen? Ich muss was mit Chris besprechen."
Mikes Tonfall war ziemlich aggressiv und Chris rieb sich seinen schmerzenden Kiefer. Deswegen blickte Carola fragend Chris an und zögerte, den Raum zu verlassen.
Erst als auch Chris sie mit einem Nicken aufforderte zu gehen, stand sie auf und verließ das Büro.
Mike lehnte sich gegen die Tischkante und schaute Chris an.
"Schieß los, du hast fünf Minuten, um es zu erklären."
"Ich weiß nicht, ob fünf Minuten reichen und wo ich überhaupt anfangen soll."
"Dann fang mit dem an, was in Paris gelaufen ist."
Chris sah die Falte in Mikes Stirn. Wenn er es jetzt nicht schaffte, Mike zu überzeugen, dass er nicht ganz so ein Mistkerl war, wie es wirkte, dann hatte er bei ihm ausgespielt. Und er brauchte ihn bei den aktuellen Ermittlungen.
"Du kennst wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit. Es ist nicht nur so, dass ich Amanda zum ersten Mal in San Fransisco getroffen habe. Sie war auch die Informantin, mit der Engin und ich das Date hatten!"
Das schien Mike nun doch zu überraschen.
"Bitte? Sag, dass das nicht wahr ist. Wie kannst du dann mit der ins Bett steigen?"
"Ich weiß es nicht, vielleicht weil ich mich schon eine ganze Weile fragte, ob ich wirklich schwul genug war, um den Rest meines Lebens nur mit Eddie zu verbringen, vielleicht weil ich zuviel getrunken hatte. Oder aus welchem Grund auch immer. Gott, wie soll ich es erklären?"
Wie sollte er es erklären, ohne sich zu verheddern? Er hatte noch nie eine Affäre vorgetäuscht. Und es musste jetzt auch noch glaubhaft rüberkommen.
"Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn Klaus eine Frau wäre. Das mit mir und Eddie ist ähnlich. Aber ich schaff es einfach nicht mehr. Ich wünsche es mir so sehr, aber es geht nicht mehr. Ich wollte es ihm erzählen, aber ich wusste nicht wie. Er ist doch immer noch wichtig für mich. Aber es geht einfach nicht mehr als feste Beziehung. Bitte glaube es mir."
Chris sah Mike in die Augen, hoffte, dass die Botschaft rüber kam. Doch dieser wandte sich ab und schaute aus dem Fenster.
Nach einigen Minuten, in denen Chris nur das Ticken der Wanduhr hörte, drehte Mike sich wieder um.
"Wann ist dir klar geworden, dass das mit dir und Eddie keine Zukunft mehr hat?"
"Irgendwann nach Weihnachten."
"Und warum hast du es ihm nicht da schon gesagt, sondern abgewartet, bis es eskalierte?"
"Weil ich Angst hatte."
"Ach, der Superbulle Christoph Schwenk hat Angst gehabt! Wovor hatte er denn die Angst? Sonst hatte er doch auch nie Angst, wenn er mal wieder seine Freundinnen betrog. Die Mädels waren dir doch alle scheißegal. Wieso sollte es jetzt anders sein?"
Die Ironie triefte nur so aus Mikes Worten.
Er glaubt mir nicht.
"Weil das zwischen Eddie und mir was ganz anderes ist, als ich jemals mit einem Mädel hatte."
Ich wollte den Rest meines Lebens mit ihm verbringen.
„Ach, ja?"
„Glaubst du, wir wären sonst überhaupt zusammen gekommen? Ich steh sonst nicht auf Männer. Doch ich kenne Eddie inzwischen zig Jahre. Verdammt, wie du es damals wahrscheinlich mitbekommen hast, hat Eddie es irgendwie nie richtig geschafft, sich von mir zu lösen. Ich war ja, nachdem ich damals bei ihm ausgezogen bin, für ihn zu einer Art Traumprinz geworden. Und bevor wir doch noch ein Paar geworden sind, ist einiges schief gelaufen, was ihm sehr weh getan hat. Es ist ein Wunder, dass es doch noch geklappt hat. Und jetzt zerstöre ich es."
Chris hatte sich von Mike weggedreht und stand nun vor dem Fenster. Es war nicht das, was er Mike eigentlich erzählen wollte, doch es war die Wahrheit. Und es tat so weh. Es fühlte sich an, als ob ihm jemand mit einem Löffel das Herz aus der Brust reißen würde – mit einem kleinen Teelöffel.
Der Schmerz ließ nicht nach, doch Chris hatte das Gefühl, Mike noch etwas erklären zu müssen, auch wenn es jetzt eine Lüge war. Er überwand den Kloß im Hals und redete weiter.
"Als ich vorgestern im Bistro mit Engin gesprochen habe, da habe ich nicht im Traum daran gedacht, dass Eddie da sein konnte. Schließlich hatte er die Steuerprüfer in seiner Werkstatt. Als er dann vor mir stand, wusste ich einfach nicht, was ich sagen sollte. Ich weiß es immer noch nicht. So, jetzt bist du dran. Verprügle mich, mach mich zur Sau. Tu, was immer du für richtig hältst, ich habe es verdient."
Das Zucken seiner Schulter verriet ihn, aber Chris wollte es nicht zulassen. Er konnte nicht einfach vor Mike anfangen, wie ein kleines Kind zu heulen. Er wartete auch gar nicht auf eine Reaktion, sondern verließ fluchtartig das Büro.
Erst auf der Toilette kam Chris wieder zu sich. Aber da war es schon zu spät. Eine Fliese zeigte Risse und seine Hand war eine blutige Masse. Als er hörte, wie sich die Türe öffnete, zog sich Chris in eine Toilette zurück und wartete, dass seine Wunden verheilten.
"Chris?"
Nicht, Mike, ich kann nicht mehr.
"Ich wollte mich bei dir entschuldigen."
Dann kam erst mal nichts. Nur Mikes Schritte waren zu hören, wie er unruhig auf und ab lief, dann seufzte er und sprach weiter.
„Ich kenne dich schon so lange und hab dich doch falsch eingeschätzt. Du warst halt immer der Weiberheld, der keine Gelegenheit ausließ. Und du hast da deine jeweils aktuelle Flamme nicht geschont. Und als man mir erzählt hatte, dass da was zwischen dir und Eddie war, konnte ich es einfach nicht glauben. Ich konnte einfach nicht glauben, dass du mit Eddie zusammen warst. Schließlich hattest du ein ganz anderes Beuteschema."
Wieder Pause. Schritte, die unruhig auf und ab liefen und dann Mikes Stimme.
„Ich muss jetzt wohl akzeptieren, dass das mit euch beiden jetzt zuende ist. Das soll nicht heißen, dass ich dein Verhalten in Ordnung finde und dass wir direkt wieder Freunde werden können. Das geht nicht so einfach. Aber ich denke, dass ich doch wieder mit dir arbeiten kann, ohne ständig mit dir im Clinch zu liegen."
Endlich heilte diese verdammte Wunde. Chris sah die kleinen Energiezungen, die über seine Hand liefen und auch der körperliche Schmerz ließ nach.
Als er die Kabine verließ, war Mike schon wieder gegangen. Chris war froh darüber, denn es gab nichts mehr, das sie zu besprechen hatten.
In seinem Büro angekommen, wartete Engin schon auf ihn. Sie hatten sich am Eingang getrennt, weil Engin noch in die Kantine wollte. Auf Chris' Tisch standen ein großer Becher Kaffee und mehrere Muffins. Auch vor Engin stapelte sich das Gebäck.
"Nun greif schon zu. Der Kaffee ist ausnahmsweise mal frisch und in der Kantine hatten sie besonders gute Laune. Sonst hätten sie mir nicht die Muffins gegeben."
Chris schluckte. Der Geruch des Gebäcks bereitete ihn Bauchschmerzen. Alles, was er am Morgen überwunden glaubte, war nach dem Gespräch mit Mike wieder da. Doch er zwang sich, eine unverbindliche Antwort zu geben.
"Du bist verfressen. Die anderen wollen doch auch noch welche haben."
"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und du kannst es vertragen. Du hast dich in der letzten Zeit fast ausschließlich von Kaffee ernährt. Seit vorgestern weiß ich ja, was für ein Problem du hast."
"Oh, man kann so einfach erkennen, was mit mir los ist?"
"Nö, aber wenn du persönliche Probleme hast, dann schlägt's dir auf den Magen. Aber jetzt setz dich und trink, sonst wird es kalt."
Chris folgte Engins Anweisung. Der Kaffee war gut. Sehr stark und heiß. Die Muffins schob er erst mal zur Seite. Vielleicht würde er später Hunger haben.
"Was ist passiert?"
"Ich bin auf dem Flur mit Mike zusammengestoßen."
"War es so schlimm?"
Chris zuckte mit seinen Schultern.
"Nicht schlimmer als ich erwartet habe. Mein Kiefer schmerzt immer noch wie Hölle und ich denke, dass inzwischen sämtliche Abteilungen über unseren Streit informiert sind. Aber irgendwie habe ich es geschafft, Mike zu überzeugen, dass ich nicht ganz so ein Arschloch bin, wie er dachte. Wir haben uns darauf geeinigt, Kollegen zu sein."
"Ich dachte, ihr wärt Freunde?"
"Vergiss es und lass uns arbeiten. Mit Reden kann ich eh nichts mehr ändern. Hast du dir schon die Unterlagen angeschaut, die uns Amanda mitgegeben hat?"
"Ja, und sie sind sehr interessant."
Engin nahm die Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch lagen, und reichte sie Chris.
"Was ist denn? Komm, erzähl schon."
"Naja, ich habe den Eindruck, dass nicht Amanda die Papiere zusammengestellt hat, sondern Jade Lesage. Das Mädel hatte wohl eine Ahnung, dass ihre Zusammenarbeit mit Bechthold nicht ganz reibungslos verläuft."
"Und wo ist das Problem?"
"Ich frag mich nur, wie diese Amanda an die Unterlagen gekommen ist."
"Vielleicht waren die beiden befreundet. Ich habe keine Ahnung. Aber ist das alles?"
"Nein, das Schönste ist eine Aufstellung, welche Kunstgegenstände wann Europa verlassen haben und zu welchem Zeitpunkt sie wieder zurückgekommen sind. Das Interessante ist ein kleiner Vermerk, der darauf schließen lässt, dass beim Zoll am Flughafen Charles de Gaulle einige Schichtdienstleiter kräftig geschmiert werden, damit die Sachen ohne Kontrolle durchgelassen werden."
"Und somit Tür und Tor öffnen, um Drogen nach Europa zu schmuggeln."
"Genau, das ist das, was uns bisher in unserem Puzzlespiel fehlte. Jetzt muss ich mit Vincent quatschen, dass die die Leute am Flughafen überprüfen."
"Glaubst du, dass Vincent noch mit dir spricht? Du hast ihm doch einen Korb gegeben."
Engin verzog das Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hätte.
"Erinnere mich nicht daran. Ich hoffe nur, dass er einen Filmriss hat, sonst können wir die Zusammenarbeit wirklich vergessen. Und über die offiziellen Kanäle dauert es immer ewig."
"Das stimmt, die können sich nie einigen, wer dann für uns zuständig ist. Und da es Franzosen sind, werden die uns einfach am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Dazu habe ich viel zu viel Zeit investiert. Gott, wenn ich daran denke, wie oft wir sonntags unterwegs waren, obwohl wir eigentlich keinen Dienst hatten. Naja, das kann mir ja jetzt nicht mehr passieren."
"Stimmt, wir sind jetzt die Stubenhocker und machen die Recherchearbeit, während die anderen auf der Straße sind. Dafür haben wir auch jedes Wochenende frei. Apropos Wochenende. Hast du Lust, etwas zu unternehmen?"
Lust hatte Chris nicht, aber er wusste, was auf ihm zukam.
"Oh ja, ich habe riesige Lust, sämtliche Zeitungsanzeigen zu studieren und auf Wohnungssuche zu gehen. Ich will dir nicht länger auf die Nerven fallen als unbedingt notwendig."
"Du gehst mir nicht auf den Geist, schon gar nicht, wenn du regelmäßig so kochst wie gestern."
Engin lehnte sich bequem zurück und verschränkte seine Arme hinter den Kopf.
"Ach ja, du wirst dabei dick und rund."
Chris warf einen deutlichen Blick auf Engins Bauch. Prompt hielt Engin die Luft an.
"Und dann bekomme ich eines Tages noch einen Heiratsantrag von dir, damit ich dich nicht verlasse. Vergiss es. Ich brauch erst mal etwas Abstand und eigene Räume."
Wenn Chris nicht derart deprimiert gewesen wäre, hätte ihn Engins bettelnder Hundeblick bestimmt zum Grinsen gebracht. So nahm er nur einen Stift und schmiss ihn nach Engin. Lachend fing Engin den Bleistift auf und legte ihn auf seinen Schreibtisch.
"Hast ja Recht. Ich frag mal bei mir im Bekanntenkreis rum, ob die weiter helfen können. In der letzten Zeit sucht da immer jemand einen Nachmieter. Warum haben die das nicht gemacht, als ich eine Wohnung gesucht habe? Ich muss auch dringend etwas für meine Figur tun. Kommst du heute Abend mit zum Schwertfechten?"
Nach dem Training mit Amanda wusste Chris, was er von dieser Kampftechnik zu halten hatte. Er schüttelte den Kopf.
"Ich glaub' nicht. Seit ich auch noch mit dem asiatischen Fechten angefangen habe, macht mir das keinen Spaß mehr. Aber komm du doch mit zum Kampfsportcenter, dann merkst du den Unterschied."
"Ich komm nicht mit, weil du mir im Training weit voraus bist. Nein danke. Dann gehe ich lieber schwimmen."
"Du meinst, Fett schwimmt oben?"
Jetzt flog nicht nur ein Stift auf Chris, sondern auch ein ganzer Aktenordner. Chris tauchte unter den Schreibtisch, bis Engin sich wieder beruhigt hatte.
Dann schnappte er sich die Berichte der letzten Tage und fing an, sie durch zu arbeiten. Besonders interessierten ihn die Unterlagen, die sie von Amanda bekommen hatten.
Denn das Leben ging weiter und es hatte keinen Zweck, trüben Gedanken nachzuhängen, dafür hatte er seine schlaflosen Nächte.
Als sie Feierabend machten, war Chris ein Stück weitergekommen: Wieder ein kleines Teilchen, das er dem großen Puzzle hinzufügen konnte. Nicht viel, aber für den heutigen Tag mehr als erwartet.
Den Abend verbrachte Chris im Kampfsportcenter. Er war überrascht, wie sehr die wenigen Tricks, die Amanda ihm gezeigt hatte, seine Technik verbessert hatten.
Seinem Trainingspartner war er haushoch überlegen.
Er musste so schnell wie möglich wieder nach Paris und weiteren Unterricht nehmen. Die Frage war nur, wie er es bewerkstelligen konnte, ohne dass Engin und Mike ihm den Kopf abreißen würden.
Aber ein anderes Problem beschäftigte ihn auch noch. Er brauchte dringend eine neue Wohnung, denn er war eine Gefahr für Engin, wenn er zu lange bei ihm bleiben würde.
