Umziehen ist nicht einfach

Am Samstagmorgen ging er los. Durch Engin hatte er vier Besichtigungstermine bekommen und aus der Zeitung hatte er noch fünf weitere Wohnungsangebote gefischt.

Nach der dritten Besichtigung hatte er eigentlich schon die ideale Wohnung gefunden. Weder zu klein, noch zu groß, mit einem kleinen Balkon und einer Einbauküche, die er übernehmen konnte. Sie war sogar bezugsbereit. Aber Chris war unschlüssig.

Deswegen schaute er sich auch die restlichen Angebote an.

Den letzten Besichtigungstermin hatte Chris am späten Nachmittag. Lust hatte er gar keine und ein Schauer überlief ihn, als er die Außenfassade betrachtete. Es war ein sehr heruntergekommener Altbau in Eschborn. Da der Vermieter Verspätung hatte, überlegte Chris, ob er nicht einfach abhauen und bei der anderen Wohnung zusagen sollte. Bis sein Blick auf eine kleine Gedenktafel an der Wand fiel.

Als er sie gelesen hatte, wusste er, dass dies, egal, wie die Wohnung auch aussehen würde, die ideale Bleibe für ihn war. Denn das Gebäude stand auf den Überresten eines mittelalterlichen Friedhofs.

Heiliger Boden.

Doch als er bei der Besichtigung sah, in welch abgewrackten Zustand die Wohnung war, überkam ihn ein Ekelgefühl. Dreck und Schimmel überall. In der Küche und im Bad hatte sich ein lebendiger Überzug auf die Fliesen gesetzt, so dass die ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Chris musste an sich halten, um sich nicht zu würgen. Dafür hatten die Wände keine Tapeten und Farbe hatten sie auch noch nie gesehen. Die Wohnung war etwas größer, als er gedacht hatte, aber ohne Balkon. Dafür waren die dreckigen Fenster, die wenig Licht durchließen, sehr groß. Aber die Aussicht auf ein Industriegelände war nicht besonders schön.

Aber hier war er vor Unsterblichen sicher. Das war einiges wert. Selbst der Zustand dieser Wohnung. Dafür handelte er die Miete runter. Billiger hatte er noch nie gewohnt. Der Vertrag war schnell geschlossen und die Schlüssel bekam er auch direkt. Jetzt musste er nur noch schauen, dass er sein neues Heim gründlich putzte, bevor ihm jemand half.

Chris rief bei Engin an und informierte ihn, dass er ab sofort eine Wohnung hatte. Da Engin nichts anderes vorhatte, bot er sich an zu helfen, aber Chris schaffte es, ihm die Idee auszureden.

Sein nächster Weg führte in den Supermarkt, wo er einen Großeinkauf an Reinigungs- und Desinfektionsmitteln tätigte.

Während der Putzorgie fragte er sich, warum eigentlich alle glaubten, dass ihm das Spaß machen würde. Es machte absolut keinen Spaß, aber er hasste nichts mehr als eine dreckige und ungepflegte Umgebung, also musste er sauber machen.

Am Sonntagabend war er dann endlich fertig. Die Wohnung war sauber. Er hatte sogar alle Wände und Decken abgeschrubbt und dementsprechend schmerzten seine Arme, aber das würde schnell vergehen. Die Unsterblichkeit sorgte dafür, dass er noch nicht mal einen Muskelkater bekommen würde. Die Fliesen waren jetzt dunkelblau und erstaunlicherweise war keine einzige kaputt. Jetzt machte die Wohnung einen wesentlich besseren Eindruck und Chris war mit seiner neuen Bleibe zufrieden.

Am Zustand des Hausflurs konnte Chris dagegen nichts ändern und seine Nachbarn waren einfach nur schrecklich. Aber wenn sie meinten, ihn terrorisieren zu können, dann würden sie bald einen hübschen kleinen Krieg im Haus haben. Chris war sicher, dass er ihn nicht verlieren würde. Wozu war er Polizist und der Rest scheinbar arbeitslos?

Jetzt musste er nur noch tapezieren, Teppiche verlegen, Türen und Rahmen streichen, neue Fußleisten anbringen und Möbel organisieren. Denn bei Eddie standen nur einige wenige Stücke, den Rest hatte er damals Engin überlassen.

Wieso mach' ich mir die Arbeit? Ohne Eddie ist es doch eh egal.

Doch Chris hatte für seine gehässige kleine Stimme im Hinterkopf eine Antwort: Weil es auffallen würde, wenn er es lassen würde. Und sobald irgendjemand auf die Idee kommen könnte, dass etwas nicht stimmt…. Nein, an die Konsequenzen wollte er lieber nicht denken.

Ob er es überhaupt mit seinen zwei linken Händen schaffen würde, die Wohnung in einen akzeptablen Zustand zu versetzen?

Aber erst einmal musste er ein Telefongespräch führen, eins, das nicht über sein Handy laufen durfte.

Da er noch bei Engin übernachtete und dort auch nicht telefonieren wollte, musste er es auf dem Heimweg erledigen.

Nach einigem Suchen fand er eine funktionierende Telefonzelle, die auch Münzen annahm.

Die Nummer war schnell gewählt. Aber dafür klingelte es ewig. Chris wollte schon aufgeben, als doch noch jemand abhob.

"Myers! Hallo!"

Verdammt, sie hat ja noch einen Partner!

"Hallo, hier spricht Chris Schwenk. Kann ich bitte Amanda sprechen?"

"Einen Moment bitte."

Der Moment schien sich zur Ewigkeit auszudehnen und Chris befürchtete, dass sein Münzvorrat nicht ausreichte, bis er mit Amanda gesprochen hatte.

"Amanda Monrose! Guten Tag!"

"Hallo Amanda! Chris hier, ich muss mich kurz fassen, sonst ist mein ganzes Geld durchgerasselt, ich stehe in einer Telefonzelle. Kannst du für mich etwas machen?"

"Kommt darauf an, was du von mir willst. Wie geht es dir denn?"

"Ich lebe und organisiere gerade meinen Umzug. Aber da ich eh schon genug Stress habe, wollte ich dich bitten, noch einmal bei den Franzosen anzurufen und denen zu sagen, dass du noch weitere Informationen hast, die du aber nur mir persönlich geben willst. Würdest du das bitte machen?"

Amandas amüsiertes Lachen verriet, dass sie ganz genau wusste, warum er den Gefallen bei ihr einforderte.

"Tanzen sie dir auf der Nase rum?", kam auch direkt ihre Frage.

"Die tanzen nicht nur, die steppen da rum wie die Verrückten. Bitte Amanda, bevor Mike mich verprügelt, wenn er rausbekommt, dass ich deinetwegen nach Paris fahre, sollen die lieber denken, dass ich mich opfere."

"Ah, ja. Bin ich denn das Opfer wert?"

Ich hasse Frauen! Warum müssen die immer so zickig sein?

Und nun piepte auch noch das Telefon und er hatte kein Kleingeld mehr.

"Amanda bitte, gleich habe ich kein Geld mehr. Machst du es?"

"Du verlangst, dass ich mich freiwillig noch einmal bei der Polizei melde? Weißt du, was das für mich bedeutet? Ich werde…"

Klack.

Scheißtelefon! Mistding!

Chris war versucht, den Apparat mit seinen Fäusten zu bearbeiten, ließ es aber, da sich so etwas nicht gut in seinen Akten machen würde.

So schluckte er seine schlechte Laune runter und machte sich auf den Weg zu Engin.

Unterwegs bekam er einen Anruf von seinem Partner, der ihn fragte, wann er denn wieder zurückkommen würde. Als er erfuhr, dass Chris schon unterwegs war, legte er schnell auf.

Im Hausflur angekommen wusste Chris, warum Engin angerufen hatte. Alles stank nach Knoblauch. Engin kochte nicht oft und schon gar nicht gerne. Aber wenn er es denn tat, war der Hauptbestandteil Knoblauch. Das Wasser lief Chris im Mund zusammen. Bei der Putzaktion hatte er mal wieder vergessen, sich etwas zu essen zu besorgen.

Engin stand wirklich in der Küche und rührte in einem Topf. Chris begrüßte ihn, ging kurz duschen und deckte dann den Tisch.

Als das Essen vor ihm stand, konnte selbst Engin das Knurren von Chris' Magen hören.

Dementsprechend groß war auch die Portion, die Chris von Engin verpasst bekam.

Und Chris aß alles auf. Er nahm sich noch einen Nachschlag und verschlang auch diesen.

Er sah das amüsierte Grinsen auf Engins Gesicht, aber es interessierte ihn nicht weiter.

Dann war der Teller leer und Chris lehnte sich satt zurück.

Engin räumte den Tisch ab und verschwand für einige Minuten in der Küche. Als er zurück kam, brachte er zwei Tassen Mokka mit.

Er setzte sich wieder zu Chris und wartete, bis er etwas getrunken hatte.

"Und wie weit bist du gekommen?"

Da Chris den wahren Zustand der Wohnung verschwiegen hatte, flunkerte er jetzt bei der geleisteten Arbeit. Engin brauchte wirklich nicht zu wissen, wie er die Wohnung geschrubbt hatte.

"Die Tapeten und alten Teppiche sind raus. Jetzt muss ich morgen nur noch Farbe für die Decken, Tapeten und Teppiche holen und dann geht's weiter."

Chris fühlte sich dabei nicht wohl. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie er damals bei Uschi ein Zimmer tapezieren wollte. Nach der dritten Bahn hatte er aufgegeben und einen Fachmann gerufen. Aber wenn er jetzt die Arbeit an Fachleute übergeben würde, dann wäre kein Geld mehr für neue Möbel übrig.

"Du siehst aber nicht besonders glücklich aus. Was ist los?"

Chris fuhr mit seinen Händen durch seine Haare.

"Ich bin nicht besonders talentiert dabei. Genau genommen habe ich für Renovierungsarbeiten zwei linke Hände. Aber ich kann es mir nicht leisten, Handwerker zu bezahlen, denn ich muss mir auch noch eine neue Küche und ein Schlafzimmer zulegen. Seit ich mir letzten Herbst den neuen Audi geleistet habe, sieht es in meiner Kasse nicht wirklich rosig aus."

"Ich dachte, du hättest damals renoviert, als Helen hier eingezogen ist."

Kopfschüttelnd antwortete Chris.

"Nein, das war Eddie. Gott, das waren noch Zeiten…"

Doch bevor er in Erinnerungen versinken konnte, unterbreitete ihm Engin einen Vorschlag.

"Du kennst die Jungs aus meiner Verwandtschaft, denen du in der letzten Zeit regelmäßig bei den diversen Umzügen geholfen hast."

"Jaaaa", kam es sehr gedehnt von Chris zurück. Er erinnerte sich nicht nur an die Umzüge.

"Jeder Umzug endete mit einer Einstandsfeier. Das Schädeldröhnen am nächsten Morgen war immer schlimmer als die Möbelschlepperei. Nach der ersten Feier wusste ich, dass ihr das mit eurem Glauben nicht so ernst nehmt. So von wegen kein Alkohol. Und ich hätte nie gedacht, dass jemand eine so große Verwandtschaft haben kann."

"O ihr, die ihr glaubt! Berauschendes, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein Greuel, das Werk Satans… Koran, Sure 5:90... Eigentlich dürften wir wirklich nichts trinken, aber in Deutschland leben nur noch radikale Islamisten nach diesen Grundsätzen. Ich halte mich ja noch nicht mal an den Ramadan."

Engin trank noch etwas Mokka

"Naja, wie Mutter mir erzählt hat, waren es damals vier Familien gewesen, aber da sie aus demselben Dorf stammen und gemeinsam nach Deutschland gegangen sind, sind wir zu einer Familie verschmolzen. Es gab ja sonst niemanden, auf den wir uns verlassen konnten. Kurden, die sich ein neues Leben aufbauen wollten, hatten es damals nicht einfach. Unser Glaube ist dabei nicht über Bord gegangen, aber sehr viele Rituale, die in Deutschland das Leben erschweren. Ich bin Deutscher, die Türkei und meine Ursprünge kenne ich nur von den Erzählungen meiner Eltern und von Fotos. Ich habe noch nicht einmal dort Urlaub gemacht."

Jetzt schien Engin in Gedanken zu versinken. Erst ein Räuspern von Chris brachte ihn zurück.

"Ich habe mit den Jungs gestern telefoniert und ich soll dir 'nen Deal anbieten."

"Oh, oh, das hört sich gar nicht gut an. Was habt ihr vor?"

"Du zeigst irgendwann die Woche meinem Bruder die Wohnung und gehst dann mit ihm einkaufen. Er rechnet dir aus, welche Mengen benötigt werden, du zahlst. Freitagnachmittag und Samstag wird dann renoviert und Sonntag holen wir deine Sachen bei Eddie ab und dann bist du Sonntagabend in deinem neuen Heim. Dafür brauchst du noch nicht einmal einen Tag Urlaub zu nehmen. Was hältst du davon?"

"Das hört sich soweit ganz gut an. Aber ein Deal bedeutet auch, dass ihr eine Gegenleistung haben wollt, und da habe ich so ein komisches Gefühl. Also was wollt ihr von mir?"

"Och, da waren wir uns einig. Du lässt dich weder Freitag noch Samstag in deiner Wohnung blicken, sondern bekochst uns. Freitagabend drei Gänge, Samstag fünf, zwischendurch zauberst du noch die diversen Häppchen. Natürlich immer mit dem dazu passenden Wein."

"Ich kenne euch. Wie wollt ihr dann noch am Sonntag meine Sachen rüberschaffen?"

"Indem wir nicht vor zwölf anfangen. Das sind doch nur drei oder vier Möbelstücke und dann noch deine restlichen Klamotten. Das machen wir notfalls zu dritt. Komm, sag schon ja."

"Das kostet mich doch ein Vermögen. Alleine am Wein sauft ihr mich arm!"

"Handwerker sind teurer und wir sind ein eingespieltes Team, da sitzt jeder Handgriff!"

Engin hielt Chris seine Hand hin.

Was hatte er da für Alternativen? Die Jungs waren wirklich gut, er hatte im letzten Jahr einige Wohnungen gesehen, die sie renoviert hatten. Die kannten nur seine noch nicht…Da wurde aus seiner Absteige vielleicht doch noch eine schmucke Wohnung, besonders wenn er seine Finger davon ließ. Und wenn die dann auch noch die Nachbarn aufmischen würden….

Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Chris' Gesicht ab und er schlug ein, erntete dafür aber einen misstrauischen Blick von Engin.

"Warum habe ich jetzt so ein komisches Gefühl im Magen, Chris? Wenn du so grinst, dann hat es nichts Gutes zu bedeuten. Was verheimlichst du mir?"

"Gar nichts, nur kenne ich die Wohnung und weiß, wer den besseren Handel gemacht hat."

"Dann werden wir uns rächen und abends mehr trinken. Außerdem ist es für uns ein guter Grund, nicht bei den Karnevalsveranstaltungen mitzumachen, zu denen uns die Mädels schleppen wollen."

"Oh Gott, ist nächste Woche schon wieder Karneval?"

"Ja, aber Kallenbach und Deichsel haben Wochenenddienst und seitdem die den Dienstplan gesehen haben, ist denen die Karnevalsstimmung vergangen. Und uns können die nicht nerven."

"Die armen Jungs, manchmal tun die mir schon leid."

Engin warf Chris einen skeptischen Blick zu.

"Wirklich, die werden doch bei uns total untergebuttert. Die trauen sich doch noch nicht mal, Carola Widerworte zu geben."

"Ich dachte, die wären so. Und deswegen wolltest du sie im Team haben."

Während des Geplänkels räumte Chris die leeren Tassen ab und holte zwei Bier aus dem Kühlschrank. Damit lümmelte er sich auf die Couch im Wohnzimmer. Engin kam mit.

"Naja, ich hab halt über Jahre nicht mit denen gearbeitet und Kallenbach will in zwei bis drei Jahren in Frührente gehen, aber wir sind früher doch immer wieder aneinander geraten."

"Dafür bist du jetzt ihr Chef. Das ist für die beiden bestimmt eine Umstellung. Und seit wir im Herbst das Aktenzeichen von der Staatsanwaltschaft in Sachen Bechthold bekommen haben, hat Mike ja bewiesen, dass er den besseren Riecher hatte."

"Aber darüber will ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich bin vom Renovieren ziemlich fertig. Noch etwas abhängen und dann geht's in die Heia."

"Vielleicht schaffst du es dann mal durchzuschlafen."

"Bitte?"

Der Impuls sich kerzengerade hinzusetzen war groß, aber Chris unterdrückte ihn. Aber den alarmierten Ton in seiner Stimme konnte er nicht verhindern.

Doch Engin winkte nur ab.

"Du bist eigentlich sehr leise. Aber ich hab's trotzdem mitbekommen. Ich glaube nicht, dass du, in einer Nacht mehr als vier Stunden geschlafen hast, seitdem du bei mir bist. Kein Wunder, dass du soviel Kaffee trinkst."

Chris überlegte, was er darauf entgegnen sollte, aber er entschied sich, es bleiben zu lassen. Das ging Engin nichts an. Und dieser schien auch keine Antwort zu erwarten. Er nippte nur an seinem Bier und schien mit seinen Gedanken ganz weit weg.

Irgendwann stand er auf und schaltete den Fernseher an. Doch Chris bekam vom Programm nichts mit.

So saßen sie gemeinsam vor der Flimmerkiste und tranken ihr Bier. Chris fielen aber bald die Augen zu und bevor er auf der Couch einschlief, stand er auf, wünschte Engin eine gute Nacht und ging in sein Zimmer. Er schlief fast sofort ein.

Aber die Putzorgie hatte nicht geholfen. Chris wachte wieder mitten in der Nacht auf. Wieder tastete er nach Eddie und wieder war dieser nicht da.

Der Rest der Nacht war schon fast Routine. Schwerttraining bis der Wecker klingelte.

Als Mustafa, Engins Bruder, am Mittwoch Chris' neue Wohnung besichtigte, war er nicht begeistert. Er schaute sehr sparsam, als Chris ihn in den zweiten Stock führte. Weder die Deckenhöhe von drei Metern noch die Tatsache, dass keine Wand wirklich gerade war, war nach seinem Geschmack. Aber er sagte nichts.

Er half Chris beim Einkauf und verabschiedete sich dann.

Am Freitagnachmittag rückten sie an. Chris ließ sie in die Wohnung und fuhr dann zu Engin, um das Essen vorzubereiten. Irgendwie freute er sich schon auf seine fertige Wohnung. Er hoffte nur, dass er niemanden verarzten musste. Denn seine Nachbarn hatten schon sehr sparsam geblickt, als er mit Mustafa aufgetaucht war.

Wenn jetzt aber sieben Türken meine Wohnung renovieren und der Säufer von nebenan…

Allein der Gedanke brachte Chris zum Grinsen.

Die Renovierungsarbeiten liefen reibungslos, Verletzte waren nicht zu beklagen und Chris hatte auch keine Probleme, die Jungs satt zu bekommen. Genügend Wein hatte er auch. Und Sonntagmorgen überhaupt keinen dicken Kopf. Es gab Momente, da war die Unsterblichkeit praktisch.

Bis zu dem Moment, wo sie vor Eddies Tür standen und seine Sachen abholen wollten. So sehr sich Chris auch wünschte, Eddie noch einmal zu sehen, genau soviel Angst hatte er davor.

Chris hatte vor einigen Tagen eine Mail geschickt und bescheid gesagt, dass er am Sonntag kommen würde. Von Eddie war nur ein ‚OK' als Antwort gekommen.

Eddie hatte jetzt den sicheren Weg gewählt, denn Iris öffnete die Tür, als sie zu viert auftauchten. Engin wurde von ihr freundlich begrüßt, aber Chris ignorierte sie vollkommen.

Wer auch immer all seine Sachen zusammengepackt hatte, war sehr ordentlich und sehr gründlich gewesen. Chris vermisste nichts und so konnte der Umzug starten.

Der Spuk war nach noch nicht einmal einer Stunde vorbei und sie hatten alles in den Transporter geräumt. Als Chris in den Wagen stieg, warf er einen letzten wehmütigen Blick auf das Haus.

Das war's. Jetzt hatte er die allerletzte Brücke abgerissen und es gab kein Zurück. Und es tat so weh. Wenn es ihm schon so weh tat, wie sehr musste es Eddie schmerzen?

Besser nicht daran denken.

Und doch kam er davon nicht los. Glücklicher Weise wollte auf dem Weg in seine Wohnung niemand mit ihm sprechen, so konnte Chris seinen trüben Gedanken nachhängen.

Sie waren gerade dabei, einen Schrank ins Schlafzimmer zu bringen, als Engins Handy klingelte.

Bis der Schrank abgesetzt war und Engin das Teil am Ohr hatte, war keiner mehr dran. Fluchend wollte er es zurückstecken, als es wieder klingelte.

Jetzt war er schnell genug.

"Korpak!"

Den Rest verstand Chris nicht. Es war entweder türkisch oder arabisch, aber mehr wusste er nicht.

Es nervte nur, dass er zwischendurch von Engin einige viel sagende Blicke zugeworfen bekam und auch die anderen beiden, die wohl jedes Wort verstanden, schienen sich vor Lachen auszuschütten.

Als Engin dann endlich fertig war, war Chris' Laune so ziemlich auf dem Nullpunkt.

"Kenn' ich den Anrufer?"

Engin half seinem Bruder, den Schrank an die richtige Stelle zu bringen und schien ein Kichern zu unterdrücken.

"Ja, du kennst ihn."

"Was war denn so lustig, dass ihr mich ausgelacht habt?"

Als die Jungs wieder anfingen zu lachen, wurde Chris sauer. Nicht nur, dass er heute endgültig zum letzten Mal ‚zu Hause' gewesen war, nein, jetzt mussten sie ihn auch noch auslachen.

"Verdammt noch mal! Ich spreche euer Kauderwelsch nicht. Wenn ihr schon über mich lacht, dann will ich wissen, was los ist."

Engin drehte sich zu ihm um.

"Es war Vincent."

"Ja und? Hat er dir einen Antrag gemacht?"

Warum kicherten die schon wieder?

"Nein, das hatten wir in den letzten Tagen geklärt; er hat heute Morgen einen Anruf vom Ms. Monrose bekommen, dass sie einige neue Informationen hätte, aber sie ganz exklusiv nur an dich weitergeben würde. Vincent hat mich gefragt, was bei dem Treffen gelaufen sei und ich habe ihm die Wahrheit erzählt."

Chris war erleichtert, dass Amanda auf seine Bitte eingegangen war, durfte es aber nicht zeigen und blaffte Engin weiter an.

"Welche Wahrheit?"

"Dass bei dem Treffen nichts gelaufen ist, sie aber am nächsten Morgen ins Hotel gekommen war, um sich von dir zu verabschieden. Er hat in dem Moment wohl zwei und zwei zusammengezählt und lässt ausrichten, dass er es bewundert, wenn Polizisten mit hartem körperlichen Einsatz Informationen beschaffen. Sorry, er scheint dich nicht besonders zu mögen."

Und wieder amüsierten sich alle wunderbar auf seine Kosten.

Klasse Tag.

"Das beruht auf Gegenseitigkeit. Was für 'ne Schwuchtel."

"Du bist selber eine Schwuchtel."

"Nee, vergiss es. Eine Schwuchtel ist ein Typ, der sich so heiteitei bewegt."

Dabei versuchte Chris, Vincent geziertes Gehabe zu imitieren.

Dieses Mal hatte er die Lacher auf seiner Seite.

Als sich alle beruhigt hatten, hakte Chris nach.

"Wann will sie mich denn treffen?"

"Laut Vincent sollst du Mittwochmittag beim ‚Sanctuary' sein. Mehr wusste er auch nicht."

"Toll. Ich freue mich unheimlich darauf. Hoffentlich bekomme ich dann noch ein Hotelzimmer. Die soll sich nichts einbilden."

Dass er damit weiteres Gelächter erntete, war klar.

Aber wenigstens fingen sie wieder an, den Schrank an die richtige Stelle zu rücken.

Eine Stunde später war Chris allein. Seine wenigen Habseligkeiten waren an Ort und Stelle und es gab nichts mehr zu tun. Ein Bett hatte er noch nicht, nur eine Matratze, die er am Samstag gekauft hatte. Das Wohnzimmer stand bis auf seinen Computer leer. Chris überlegte, ob er es nicht zum Trainingsraum umfunktionieren sollte. Groß genug war es.

Aber immer wieder wurde er in seinen Gedanken abgelenkt. Immer wieder schaute er auf den Schrank, der im Schafzimmer neben dem Fenster stand.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er öffnete die Tür und kramte aus der hintersten Ecke ein Fotoalbum heraus. Es war das Fotoalbum. Sie hatten es gemeinsam angelegt. Es fing mit einigen wenigen Fotos aus der Zeit ihrer Wohngemeinschaft an – damals vor ewigen Zeiten, noch bevor Chris mit Helen zusammen gekommen war , dann waren da die Fotos von ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten, Sylvester, Geburtstagsfeiern, der Urlaub und dann die Bilder vom letzten Weihnachten. Es war gerade mal zwei Monate her und doch war jetzt alles vorbei.

Chris war unsterblich und musste Eddie schützen. Schluß. Ende. Aus. Nie wieder.

Irgendwann räumte er das Album wieder weg. Er hatte beim Betrachten der Bilder jegliches Zeitgefühl verloren und stellte beim Blick auf seine Uhr fest, dass er sich für fast drei Stunden in der Vergangenheit verloren hatte. Er wusste, dass er das Album eigentlich vernichten musste, brachte es aber nicht fertig.

Als er sich ins Bett legte, da leistete ihm der Teddy wieder Gesellschaft.

Das Kissen unter dem Teddy wurde immer nasser. Doch irgendwann hörte das Zucken von Chris' Schultern auf.

Der Teddy hielt Wache, bis Chris nach sehr langer Zeit endlich eingeschlafen war