Vernissage mit Überraschungen

3. August 2004, Frankfurt

Es war Dienstagabend, kurz vor Fünf. Chris hockte noch über dem Einsatzplan für den nächsten Monat.

Inzwischen war in Sachen Bechthold eine Sonderkommission bestehend aus Mitarbeitern der Kripo und des Zolls gegründet worden. Auch die Observationseinheit V war im Einsatz, um Bechthold und einige besonders verdächtige Objekte zu überprüfen. Zusätzlich kamen noch die Ermittler, die in anderen Städten an diesem Fall arbeiteten.

Und alle Informationen liefen über Chris' und Engins Schreibtische. Chris war in diesem Fall zu Krauses Stellvertreter ernannt worden. Er teilte diese Verantwortung mit Engin. Sie werteten aus und planten die nächsten Schritte. Wenn es neue Informationen gab, dann wurde inzwischen auch Chris beim Staatsanwalt vorgelassen, ohne dass er einen Termin machen musste. Denn Krause hatte sich vor einigen Wochen beim Golfen den Knöchel gebrochen und seitdem lagen diese Aufgaben in Chris' Aufgabengebiet.

Es würde zwar noch einige Monate dauern, bis sie in einer gut geplanten Nacht- und Nebelaktion international zugreifen konnten, aber das Ende war absehbar.

Einige Spuren hatten sich als absolute Flops erwiesen. So hatten die französischen Kollegen herausgefunden, dass von Bechthold über Charles de Gaulle definitiv keine Drogen hereingeschmuggelt wurden. Die Bestechungsgelder hatte Bechthold wohl nur gezahlt, um dafür zu sorgen, dass die Kunstgegenstände bevorzugt abgefertigt wurden.

Inzwischen gab es einige Hinweise, dass ein Großteil der Drogen über den Containerterminal des Hamburger Hafens kam, aber sie hatten noch nichts Konkretes.

Chris hoffte aber, in den nächsten Wochen mehr Beweise zu bekommen. Er plante sogar, den Jungs in Hamburg einen Besuch abzustatten, um sich vor Ort ein Bild zu machen.

Auch in sein Privatleben hatte sich eine gewisse Routine eingeschlichen.

Freitags nahm er immer um zehn Uhr den letzten Flug nach Paris und sonntags flog er meist auch mit der letzten Maschine wieder zurück.

In Notfällen kehrte er auch früher zurück. Aber das war bisher erst einmal passiert und hatte sich als falscher Alarm herausgestellt. Chris hatte danach Kallenbach ganz gewaltig den Kopf gewaschen, was ihr Verhältnis nicht verbessert hatte.

Inzwischen war Chris nicht nur ein akzeptabler Schwertkämpfer geworden, er hatte von Amanda auch noch eine ganze Menge anderer Tricks gelernt, die sein Leben erleichterten.

Dafür war jede Minute seines Lebens verplant. Morgens joggte er, um acht Uhr war er im Büro, das er selten vor acht Uhr abends verließ, dann ging es noch bis zehn zum Kampfsport und anschließend ging er bis ein Uhr nachts noch einmal die Übungen durch, die Amanda ihm am vorangegangenen Wochenende gezeigt hatte. Dann fiel er todmüde ins Bett und schlief traumlos, bis ihn um sechs der Wecker wieder in denselben Trott schickte. Albträume hatte er keine mehr, und sein Verhältnis zu Mike hatte sich auch entspannt.

Wenigstens so weit, dass Chris in unregelmäßigen Abständen erfuhr, was Eddie machte.

Diese Gespräche, die alle paar Wochen so ganz nebenher geführt wurden, waren die wichtigsten Momente in Chris' Leben. Zu wissen, dass es Eddie gut ging. Zu hören, dass er sich nicht mehr in sein Schneckenhaus – sprich seine Werkstatt – zurückzog, sondern anfing, etwas zu unternehmen. Zuerst war Eddie von Mike und Klaus dazu gedrängt worden, doch inzwischen war er wohl auch regelmäßig allein unterwegs.

Chris wusste, dass er irgendwann in der nahen Zukunft erfahren würde, dass Eddie wieder einen Freund hatte. Er hatte Angst vor diesem Moment. Gleichzeitig hoffte er auch darauf, denn er wünschte sich, dass wenigstens Eddie glücklich sein würde.

"Woran denkst du?"

Chris schrak hoch und merkte erst dann, dass er immer noch den Dienstplan vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. Dabei waren seine Gedanken weit weg gewesen.

Engin hatte das seltene Talent, ihn immer in diesen Momenten wieder in die Realität zurückzubringen.

Mit einem leisen Seufzer legte Chris seinen Stift zur Seite und sah seinen Partner an. Inzwischen hatte er wirklich Erfahrung damit, Engin mit lauter Halbwahrheiten abzufertigen.

"Daran, dass wir in den letzten Monaten eine ganze Menge erreicht haben. Gott, wir haben demnächst das geschafft, was wir uns am Anfang vorgenommen hatten."

"Du meinst, dass wir die Besten werden wollten? Allen zeigen, dass der Schwule und der Türke es drauf haben?"

In Engins Stimme war immer noch ein Rest der Begeisterung zu hören, die Chris schon lange verloren hatte. Doch Chris hütete sich, Engin dies zu zeigen, und versuchteähnlich enthusiastisch zu klingen.

"Yep! Du sagst es. Überleg mal, was wir im Moment koordinieren. Das ist eigentlich der absolute Wahnsinn."

"Stimmt, aber dafür ist auch viel den Bach runter gegangen. Ich sitze hier jeden Tag, genau wie du, zwischen zehn und zwölf Stunden und privat haben wir schon ewig nichts mehr zusammen unternommen. Dass du am Wochenende ständig bei Amanda bist, kann ich ja verstehen, aber in der Woche sollten wir doch mal unsere Termine unter einen Hut bekommen."

"Kann Claudia so schlecht kochen?"

Claudia war Engins neue Freundin. Seit langem die erste, die ihn länger als einen Monat an sich binden konnte. Doch Engin sprang nicht auf den Themenwechsel an.

"Jetzt versuch nicht, daraus einen Witz zu machen. Es ist mir sehr ernst. Was machst du denn noch, außer arbeiten und Sport treiben? Gut, du kannst am Wochenende deine Finger nicht von Amanda lassen. Aber sonst? Wo ist der Chris geblieben, den ich kennen gelernt habe? Der sich seiner Verantwortung bewusst war, aber trotzdem auch Spaß am Leben hatte. Das vermisse ich. Du bist so ernst geworden, so verbissen. Hast du in der letzten Zeit mal in den Spiegel gesehen? Ich sehe keine Lachfalten mehr, sondern ein ziemlich verkniffenes Gesicht. Mach was dagegen!"

Mit einer Standpauke hatte Chris in diesem Moment nicht gerechnet, aber Engin sprach ja die Wahrheit und was sollte er dagegen sagen. Chris war nur froh, dass Engin Amanda nicht für seine Veränderung verantwortlich machte.

"Und was soll ich dagegen machen? Wenn ich abends hier raus komme, dann habe ich immer so'n Hals. Gott, manchmal nervt mich der Innendienst so was, das glaubst du gar nicht. Dann muss ich mich einfach bewegen."

"Dann komm doch wieder zum Schwertfechten! Das hat dir doch früher so viel Spaß gemacht. Wir haben einen neuen Trainer, der bringt uns wirklich das Kämpfen nach dem Thalhofer bei. Das ist ein ganz anderer Kampfstil, anders als alles, was wir dort bisher gemacht haben"

Amanda hat Hans Thalhofer gekannt. Angeblich konnte er ihr nicht das Wasser reichen und sie hatte ihm einige Tricks beigebracht.

"Es war ganz nett, bis ich festgestellt habe, dass ich meine Aggressionen durch asiatischen Kampfsport viel besser unter Kontrolle halten kann. Vergiss es. Wenn ich wieder mitmachen würde, dann werde ich zum Mörder. Besonders bei den seltsamen Gestalten, die da rumlaufen."

Ein glucksender Ton, der eine starke Ähnlichkeit mit einem Lachen hatte, kam von Engin.

"Das stimmt, bei den Typen bist du früher schneller auf die Palme gehüpft, als ich gucken konnte. Ist glaube ich doch schon besser, dass du nicht mehr mitkommst."

Engin wollte doch etwas.

"Komm sag schon! Du willst doch was von mir!"

"Bin ich so leicht zu durchschauen?"

"Yep!"

"Arschloch!"

"Ich dich auch. Nun rück schon raus."

Den Einsatzplan hatte Chris zur Seite geschoben. Was mussten die Jungs auch so kompliziert Urlaub beantragen? Das musste warten. Engin war wichtiger.

"Claudia will dich kennen lernen. Sie will wissen, mit wem ich so viel Zeit verbringe."

"Und warum sagst du das nicht gleich? Ihr ladet mich nächste Woche zum Abendessen ein und gut ist."

Engin schüttelte den Kopf.

"Nicht bei Claudia. Wie ich dir erzählt habe, arbeitet sie in einer Galerie in der Braubachstrasse und am Freitag haben die mal wieder eine Vernissage. Sie hat mir zwei VIP-Karten in die Hand gedrückt und mir gesagt, dass ich dich mitbringen muss, weil ansonsten der Haussegen für mindestens zwei Wochen schief hängt."

"Die Farbe deines Pantoffels konntest du aber selbst bestimmen?"

Damit hatte Chris Engin vollkommen aus dem Konzept gebracht.

"Bitte? Den Spruch versteh' ich jetzt nicht."

"Da gibt's nicht viel zu verstehen. Seit du mit ihr zusammen bist, stehst du unter'm Pantoffel. Der große Weiberheld ist gezähmt worden."

"Ich war nie der Weiberheld. Schließlich bin ich den Mädels nie hinterher gelaufen…"

Dieser Spruch war schon so alt und Chris beendete ihn für Engin.

"… sondern die waren hinter dir her. Ich weiß, du hast es mir oft genug erzählt. Aber wie stellst du dir das vor? Ich muss um neun Uhr am Flughafen sein. Mein Flug geht um zehn."

Und in der Öffentlichkeit wollte sich Chris eigentlich nicht mit Engin zeigen. Er wollte jedes Risiko vermeiden.

"Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Claudia drängt mich, dass wir doch mal um sechs Feierabend machen sollen und du dann von sieben bis halb neun in die Galerie kommst. Es gibt Sekt und Häppchen."

"Klar, wir machen um sechs Feierabend und dann ist spätestens Samstag morgen die Kacke am dampfen. Ich schaff's doch sonst nie, freitags vor halb neun Feierabend zu machen. Das geht nicht."

Engin spielte mit seinem Kugelschreiber.

"Weißt du, Claudia erinnert mich in manchen Momenten an Iris, Eddies Mutter. Und wenn ich ihr sage, dass du nicht mitkommst, dann werde ich genau so einen Moment erleben. Das kannst du mir doch nicht antun. Der Laden muss doch auch mal einige Stunden ohne uns laufen. Die Jungs sind doch erwachsen und wissen, was sie tun. Schließlich sind wir lang genug hinter Bechthold her."

Chris gab sich geschlagen, schließlich hatte Engin – wieder einmal – Recht.

"Gut, ich komme mit. Aber ich stelle die Bedingungen."

"Welche denn?"

"Wir gehen vorher zu McDoof, sonst verhungere ich bei den ‚Häppchen', und wir brechen um halb neun auf, dann bringst du mich zum Flughafen."

Ein Strahlen huschte über Engins Gesicht.

"Klasse! Du hast mich gerettet. Dann vergehe ich wenigstens nicht vor Langeweile. So sehr ich Claudia mag, ich hasse es, auf diesen Ausstellungen abzuhängen, bis sie endlich Feierabend hat."

"Ich frage mich nur, wie sie mich bei so einer Veranstaltung kennen lernen will?"

"Sie will's nicht wirklich. Ich hab', glaub' ich, zu viel von dir erzählt. Sie will wohl einen Blick riskieren."

"Klar doch, ich bin ein Monster, und deswegen haben alle Angst vor mir. Was hast du erzählt?"

Engin druckste rum. Chris ahnte Schreckliches und gab auf.

"Okay, ich frag nicht weiter. Dafür hältst du aber die nächste halbe Stunde die Klappe. Ich muss den verdammten Einsatzplan noch fertig machen."

Warum nur regte sich jetzt wieder sein Gewissen? Es waren doch nur zwei Stunden. Das letzte halbe Jahr war Amanda die einzige Unsterbliche, die er getroffen hatte. Warum sollte ausgerechnet auf der Vernissage etwas passieren?

Sie schafften es am Freitag tatsächlich, um sechs Uhr Feierabend zu machen. Um Engin zu ärgern, hatte Chris seinen Armani-Anzug mitgebracht und warf sich für die Vernissage in Schale.

Zufrieden betrachtete er sich anschließend auf der Herrentoilette im Spiegel.

Nicht nur Engin laufen die Mädels hinterher. Ich habe auch gute Chancen. Außerdem hab' ich keinen Rettungsring um meine Hüften.

Ziemlich schief vor sich hin summend ging Chris wieder ins Büro, um Engin einzusammeln.

Der hatte auch frische Klamotten mitgebracht, aber gegen Chris' Outfit hatte er keine Chance. Außerdem kämpfte er noch mit der Krawatte. Als er Chris sah, pfiff er anerkennend durch die Zähne.

"Wow, du legst dich ja mächtig ins Zeug! Du bist doch in festen Händen."

"Ich muss doch bei deiner Claudia Eindruck schinden. Ich weiß ja nicht, was du ihr erzählt hast."

"Und wenn du einen maßgeschneiderten Anzug tragen würdest… Sobald du einen deiner Sprüche von dir gibst, erkennt sie dich sofort."

"Was hast du ihr erzählt?"

"Nur die Wahrheit, Chris, nur die Wahrheit."

"Und was ist deine Wahrheit?"

"Wenn du mir bei der Krawatte hilfst, dann sag' ich's dir."

"Das ist Erpressung. Was für einen Knoten willst du denn? Dann kann ich es mir überlegen."

"Das ist mir doch egal. Hauptsache, er sieht ordentlich aus. Aber irgendwie krieg' ich das selbst mit Spiegel nie hin."

"Dann komm her. Ich hab ja etwas Übung, anderen einen Knoten zu binden."

Da war sie wieder, die Erinnerung an Eddie. Doch nicht mehr ganz so schmerzhaft wie noch vor einigen Monaten.

Wie heißt es so schön? Die Zeit heilt alle Wunden. Es scheint zu stimmen.

Mit sicheren Griffen band er Engin den Knoten.

"So, fertig. Damit kannst du dich bei Claudia sehen lassen."

"Dankeschön, dann können wir ja aufbrechen."

Engin drehte sich um und wollte zur Tür raus, aber Chris hielt ihn auf.

"Du schuldest mir noch eine Erklärung. Was hast du Claudia über mich erzählt?"

"Dass du ein Zyniker bist und dein Herz unter einer harten Schale versteckst. Wie schon gesagt, einfach nur die Wahrheit. Und jetzt komm. Wenn wir vorher noch nach McDonalds wollen, müssen wir uns beeilen."

Bei McDonalds schafften sie es sogar, ihre Kleidung nicht zu bekleckern und als sie eine halbe Stunde später in der Galerie ankamen, waren sie von der Dekoration überrascht. Die Fenster waren mit dunklen Tüchern abgedunkelt und die Räume unbeleuchtet. Bis auf die Bilder. Diese wurden in einer speziellen Art ausgeleuchtet, so dass sie von innen zu strahlen schienen. Und dadurch wirkten die Farben warm und lebendig.

Chris war von der Vernissage angenehm überrascht. Inzwischen hatte er, mit Amandas Unterstützung, Kunst kennen und schätzen gelernt, aber mit abstrakten Gestaltungen hatte er normaler Weise seine Probleme. Diese Vernissage zeigte zwar moderne Kunst, aber anders als alles, was er bisher gesehen hatte. Schöner, beeindruckender.

Amanda wäre begeistert.

Nur zeigen würde er ihr diese Ausstellung nicht. Denn zwischen ihnen gab es das stillschweigende Abkommen, dass Frankfurt für Amanda tabu war.

Claudia war bei dieser Beleuchtung natürlich nicht zu entdecken.

So gingen sie zuerst durch die Ausstellung und bewunderten die Bilder. Bis Chris von einem anderen Zuschauer abgelenkt wurde. Man konnte durch das herrschende Dämmerlicht die anderen Besucher nicht genau erkennen, aber die Haltung und die Ausstrahlung des Mannes, der nur wenige Schritte entfernt stand, kamen Chris sehr vertraut vor. Dann hörte er ihn lachen und er wusste, wer dort stand: Eddie.

Und er war nicht allein. Er sprach mit seinem Nebenmann, scherzte und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Chris konnte natürlich nicht hören, was es war, aber der Unbekannte lachte auf.

Wieso habe ich gedacht, dass die Zeit alle Wunden heilt? Es tut so weh.

Und doch konnte Chris seinen Blick nicht von Eddie wenden. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass Eddie ihn bemerken würde. Das Dämmerlicht und Eddies Begleitung sorgten für genügend Ablenkung

Dann stupste Engin ihn an.

"Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Ist die Ausstellung so schlecht?"

"Ich frage mich nur, was Amanda davon halten würde. Ich glaube, es ist genau ihr Geschmack."

"Dann sollte ich den Besitzer der Galerie informieren. Wenn es ihr gefällt, ist es bestimmt nicht vor ihr sicher."

Wieso musste Engin so etwas sagen? Chris konnte zwar den amüsierten Unterton deutlich heraushören, aber seit er Eddie gesehen hatte, war ihm die Lust auf leichte Konversation vergangen. Er wollte sich einfach nur für den Rest des Abends in eine Ecke setzen und Eddie beobachten. Es tat zwar weh, aber er wollte es so sehr.

"Keine Chance. Amanda klaut nicht mehr. Sie hat es mir versprochen."

"Glaubst du es wirklich?"

"Naja, bei Amanda kann man nie sicher sein. Sie wird ja auch noch von Bechthold erpresst. Deswegen wird sie ihr Versprechen wahrscheinlich auch nicht halten können. Aber sie versucht es und es ist schon viel wert."

Normalerweise würde Chris Engin niemals freiwillig soviel über Amanda erzählen, aber er hoffte, dass Engin diese Informationen verarbeiten musste und Ruhe geben würde.

Die Ruhe hatte Chris auch. Und keinen Blick mehr für die Bilder. Seine Augen hafteten an Eddie. Er saugte jedes Wort auf und achtete auf jede Bewegung, die er in diesem Dämmerlicht auch nur erahnen konnte.

Als sie mit der Ausstellung durch waren und in den Empfangsraum kamen, war Chris zuerst vom Licht geblendet. Aber wenige Augenblicke später hatten sich seine Augen daran gewöhnt. Dann musste er sich beherrschen, um nicht mit offenem Mund zu starren. Eddie trug einen Anzug. Dunkelblau und sehr elegant. Und er sah verboten attraktiv aus.

Und dann, dann sah ihn auch Eddie. Chris wusste in diesem Moment nicht, was er machen sollte. Sollte er einfach kurz grüßen oder sollte er vorgeben seinen Exfreund nicht zu kennen. Doch Eddie nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich einfach umdrehte und mit seiner Begleitung sprach.

"Chris, darf ich dir Claudia vorstellen? Claudia, das ist mein Partner Chris. Chris, das ist Claudia."

Lass mich in Ruhe! Verdammt noch mal.

Doch er riss sich zusammen und reichte Claudia die Hand. Für sie war blond, recht klein und war nach Chris' Geschmack ein wenig zu aufgetakelt. Er versuchte, seine Unkonzentriertheit mit einer flapsigen Bemerkung zu überspielen.

"Hallo! Sie haben es also geschafft, den berüchtigtsten Frauenheld unserer Abteilung einzufangen. Wie haben Sie das angestellt?"

Aus dem Augenwinkel versuchte Chris, noch einen weiteren Blick auf Eddie zu werfen, aber dessen Begleiter stand im Weg. Er war etwa in Eddies Alter, groß, blonde Haare und fast genau so gut aussehend wie Eddie. Eigentlich sollte Chris Eddie sein Glück gönnen.

Das Leben war nicht fair! Es war nie fair!

Jetzt musste er sich mit dieser blonden Schickse beschäftigen, die sich so demonstrativ bei Engin eingehängt hatte. Für Chris war es Abneigung auf den ersten Blick. Seit Gabi mochte er diesen Typ Frau nicht mehr.

Claudia hatte wohl irgendetwas gesagt, aber Chris hatte es einfach nicht mitbekommen. Aber Engin bedachte Chris mit einem Blick, der besagte ‚Ich habe es ja gesagt, du kannst anziehen, was du willst, aber wenn du deinen Mund aufmachst…' Und Chris konnte sich ungefähr denken, was Claudia gesagt hatte. Dafür hatte er aber nur ein spöttisches Lächeln übrig.

Dann kamen die Kopfschmerzen.

Das Lächeln gefror auf seinem Gesicht und Chris verspürte den Drang, sich panisch umzuschauen.

Woher kam der Buzz?

Von Amanda hatte Chris erfahren, dass man zwar merken konnte, wenn ein Unsterblicher in eine bestimmte Nähe kam, man konnte aber nicht erkennen, wer der potentielle Gegner war, wenn auch Normalsterbliche anwesend waren. Und die Ausstellung war voll.

Meistens erkannten sich Unsterbliche am suchenden Blick.

Chris hielt sich an Amandas Rat und fixierte Engin und Claudia mit seinen Augen und redete mit ihnen. Es war ein Wunder, dass er es schaffte, komplette, sinnvolle Sätze zu bilden, so sehr rasten seine Gedanken.

Als ein Kellner mit den Sektgläsern vorbei kam, nahm sich Chris eins, leerte es mit einem Zug, stellte es dem verdutzten Kellner aufs Tablett und nahm sich ein neues.

Die fragenden Blicke von Engin und Claudia tat er mit einem Achselzucken ab.

"Sollte es nicht auch noch Schnittchen geben? So nett die Ausstellung auch ist: Der Service lässt zu wünschen übrig!"

Nur einen Moment blitzten Claudias Augen auf, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und zeigte keine Gefühlsregung.

"Die Schnittchen sind dort hinten, wir haben sie zu einem Buffet aufgebaut. Ich zeige euch, wo es ist. Dann muss ich mich um meine Kunden kümmern."

Chris folgte Claudia und fragte sich, wann er diesen Abend endlich überstanden hatte. Erst Eddie, dann nervte Claudia und, um sein Glück zu vervollständigen, trieb sich hier auch noch ein Unsterblicher rum.

Es war kein Wunder, dass ihm seine Krawatte wie ein Strick vorkam, der ihm sämtliche Luft abwürgte. Chris lockerte den Knoten, zog sich das Folterinstrument über den Kopf und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. So würde zwar der Kristall zu sehen sein, aber das war nur sein ganz persönliches Symbol für seine Unsterblichkeit. Nichts irgend einem Unsterblichen auffallen würde.

So ist es besser.

"Bedient euch. Ich komme gleich noch mal wieder."

Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete sich Claudia von Engin und verschwand.

Kaum war sie außer Hörweite, als Engin auch schon loslegte.

"Was zum Geier sollte diese Vorstellung? Du hast dich wie der letzte Arsch benommen. Ich habe Claudia zwar vorgewarnt, dass du schwierig bist, aber das mit den Schnittchen musste doch nun wirklich nicht sein. Dein Verhalten geht mir ganz schön auf den Sender"

Chris starrte über Engins Schulter. Dort wurde Georg Bechthold überschwänglich von Claudia begrüßt. Somit war die Frage, wer der Unsterbliche war, beantwortet.

Woher kannte sie ihn?

"Sorry, aber sie ist genau der Typ Frau, den ich nicht ausstehen kann. Aber drehe dich ganz langsam und vorsichtig um. Was ich gerade sehe, wirst du mir sonst nicht glauben."

Engin folgte Chris' Anweisung und erbleichte, als er sah, dass Claudia immer noch in Bechtholds Armen hing.

"Ach du Scheiße! Mist, verfluchter! Was soll ich jetzt machen?"

"Erst mal bleibst du ganz ruhig. Wir wollen ja nicht auffallen. Tja, ich denke, dass wir uns gerade auf Bechtholds Kosten satt essen. Er ist ja ein Kunstliebhaber und fördert Projekte wie dieses hier. Mir ist jedenfalls der Appetit vergangen."

Den hatte ich zwar vorher auch nicht, aber das werde ich dir bestimmt nicht erzählen.

Engin schaute auf sein Brötchen, das er noch nicht angerührt hatte. Er drehte sich wieder zu Chris und wirkte ziemlich frustriert.

"Gut, dass wir schon gegessen haben. Kannst du mir bitte sagen, was Claudia und Bechthold weiter machen? Wenn ich die ganze Zeit hinschaue, dann fällt es ihr auf. Sie mag es nicht, wenn ich sie ständig anstarre."

"Klar, bei mir ist es eh egal, da sie glaubt, dass ich sie auf dem Kieker habe. Kein Problem. Jetzt dreht sie mit ihm eine Runde und scheint ihm die verschiedenen Leute vorzustellen. Wenn wir Pech haben, kommen wir auch dran."

"Na toll. Und was machen wir jetzt?"

Chris zuckte mit den Schultern. Darauf hätte er auch gerne eine Antwort.

"Einfach abhauen können wir nicht, denn die beiden stehen jetzt mehr oder weniger im Weg. Das würde auffallen. Gibt es in deiner Blickrichtung einen Hinterausgang?"

Chris beobachtete, wie Engin seinen Blick schweifen ließ.

"Oh, heute kommt alles zusammen. Rate mal, wer hier ist?"

"Wenn du Eddie meinst... ich habe ihn schon gesehen. Und seinen Neuen auch."

"Ach, kein Wunder, dass du so rumzickst."

"Ich zicke nicht. Falls du dich erinnerst, ich habe damals mit Eddie Schluss gemacht und nicht umgekehrt. Aber ist da jetzt ein Hinterausgang oder nicht?"

Wieso musste Engin jetzt dieses Thema aufgreifen? Wenn Bechthold merken würde, dass ich nicht nur unsterblich bin, sondern dass Eddie... Scheißtag!

Chris wagte nicht, diesen Gedanken weiterzuführen. Es war schon schlimm genug, dass er mit Engin unterwegs war.

"Lenk nicht ab. Du kannst sagen, was du willst, dir ist das damals doch auch an die Nieren gegangen."

"Das ist jetzt nicht unser Problem. Es ist doch viel wichtiger, dass wir Bechthold los werden. Denn sie kommen näher."

Dabei verhielt sich Bechthold vollkommen normal, nichts ließ darauf schließen, dass er bemerkt hatte, dass ein anderer Unsterblicher in der Nähe war.

Engin hatte die Inspektion des Raumes abgeschlossen.

"Vergiss es, wir kommen hier nicht weg, ich kann keinen Hinterausgang sehen. Verdammt, wieso muss uns das passieren?"

"Tja, es ist deine Freundin... und du hast mir mal Vorwürfe wegen Amanda gemacht. Und jetzt zeige dein schönstes Lächeln, sie sind fast da."

Kurz darauf waren Engin und Chris nicht mehr alleine.

"Engin, das ist der Mann, der diese Ausstellung erst möglich gemacht hat. Ohne ihn hätte ich das Projekt wegen Geldmangels canceln müssen."

Claudia hatte sich wohl fest vorgenommen, Chris zu übersehen, denn er wurde von ihr einfach auf die Seite gedrängt. Dadurch sah er nicht mehr den Ausgang, sondern hatte einen hervorragenden Blick auf Eddie, der sich mit seinem Neuen prächtig zu amüsieren schien. Chris versuchte, dieses Bild auszublenden. Denn jeder Fehler, den er jetzt machte, konnte tödlich sein und das nicht nur für ihn.

"Georg, das ist Engin, mein Freund, der nie meckert, wenn ich mal bis Mitternacht in der Galerie hängen bleibe, weil noch so viele Vorbereitungen zu treffen sind. Engin, das ist Georg Bechthold."

Sie hat auch die Farbe seines Pantoffels festgelegt. Bei ihrem Geschmack ist er wahrscheinlich gelb mit rosa Farbklecksen.

Engin schüttelte eher unfreiwillig Bechtholds Hand und schien nicht zu wissen, wie es ihm erging. Jedenfalls fingerte er unbeholfen an seiner Krawatte.

"Sie sind nicht alleine zur Ausstellung gekommen. Wer ist denn Ihre Begleitung?"

Bechtholds Stimme hatte einen harten russischen Akzent.

Nachdem Engin Claudia einen hilflosen Blick zugeworfen hatte, den diese allerdings ignorierte, antwortete er.

"Das ist mein Partner, Christoph, wir arbeiten zusammen."

Jetzt wandte sich Bechthold auch zu Chris und nötigte ihn dazu, ihm die Hand zu schütteln.

"Sehr erfreut. Was machen Sie denn beruflich, dass Sie zusammenarbeiten?"

"Wir arbeiten bei der Stadtverwaltung und teilen uns ein Ressort. Da mein Kollege für heute Abend händeringend Begleitung suchte, habe ich mich bereit erklärt, ihn zu begleiten."

"Sie sind also kein Kunstliebhaber?"

Warum starrt mich der Kerl so an?

"Ganz ehrlich? Ich fand die Ausstellung ganz nett, aber ganz mein Ding ist es nicht. Man kann mich nicht wirklich für Kunst begeistern."

"Und wofür interessieren Sie sich?"

Chris wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte Amanda Unrecht und Bechthold hatte ihn als Unsterblichen erkannt? Anders konnte er sich nicht erklären, dass Bechthold ihn so ausfragte. Auch Claudia wirkte etwas irritiert.

"Ich mag Fußball und mein Auto."

Chris machte den Fehler und sah zur Seite und bekam prompt mit, wie Eddie seinem Bekannten einen Kuss auf die Wange gab. Eifersucht kam in ihm hoch.

In der letzten Sekunde bemerkte er, wie Bechthold mit seiner rechten Hand zu seinem Hals ging. Aus Reflex griff Chris zu und hielt die Hand fest.

"Können Sie mir sagen, was das soll?"

Dabei hatte seine Stimme einen sehr aggressiven Unterton.

"Entschuldigen Sie, aber ich sah an Ihrem Hals einen Kristall. Ein außergewöhnliches Stück. Kann ich es mir einmal näher anschauen?"

"Nein, es ist ein Glücksbringer und es soll Unglück bringen, wenn es außer mir noch jemand anfasst."

"Ob das wirklich ein Glücksbringer ist, wage ich zu bezweifeln. Ich kannte eine Frau, die trug einen ähnlichen Kristall. Eines Tages fand man sie tot in einer Gasse. Man hatte ihr den Kopf abgeschlagen."

Woher hatte Amanda diesen verdammten Kristall? Ich bringe sie um!

Jetzt war klar, dass Bechthold ihn als das erkannt hatte, was er war. Aber es waren zu viele Menschen da, als dass er im Moment eine Gefahr war. Chris musste ihm nur weiter aus dem Weg gehen.

"Da bin ich anderer Meinung. Aber ich habe wirklich keine Lust, das mit Ihnen zu diskutieren."

Chris ließ die Hand los. Als Bechthold sie runter nahm, winkte Chris einem Kellner, der in der Nähe war, und tauschte sein fast leeres Glas gegen ein volles.

Dabei fiel sein Blick wieder auf Eddie. Doch leider folgten sowohl Claudia als auch Bechthold seinem Blick. Ausgerechnet jetzt küsste Eddie den anderen.

"Kennen Sie die beiden? Wissen Sie, ich habe selten ein hübscheres schwules Paar gesehen als diese zwei."

Das war wohl Claudias Rache für die Schnittchen.

Chris musste an sich halten, um ihr nicht an die Gurgel zu gehen.

Engin versuchte, sich aus dem Gespräch rauszuhalten, und musterte ganz interessiert seine Fußspitzen.

Claudia schien Chris' Reaktion jedoch anders auszulegen.

"Oder gehören Sie etwa zu den Leuten, die etwas gegen Schwule haben?"

"Wissen Sie, ich habe nichts gegen Schwule."

Chris trank einen Schluck Sekt und lächelte Claudia an.

"Jedenfalls nichts Wirksames. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Es stinkt."

Er drückte Claudia sein Glas in die Hand und verließ die Galerie. Er hätte ihr anzügliches Grinsen und Bechtholds Blick keinen Moment länger ausgehalten.

Draußen lehnte er seinen Kopf einen Augenblick gegen die Wand. Doch es half nichts. Der Buzz blieb in seinem Kopf. Es war kein Albtraum, in dem er sich befand, sondern die Realität. Bechthold hatte seine Fährte aufgenommen, und sowohl Engin als auch Eddie waren in seiner Nähe gewesen.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Chris war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sich jemand näherte. Erst als er eine Hand auf seine Schulter fühlte, löste er sich aus seiner Erstarrung und reagierte.

Es war der Instinkt, den er sich in den letzten Monaten antrainiert hatte und keine bewusste Bewegung.

Er hatte den anderen gegen die Wand geschleudert und holte zum tödlichen Schlag aus, als Chris erkannte, wen er da gerade umbringen wollte.

Zwei Zentimeter vor Engins Kehle stoppte er.

Der erschreckte Ausdruck in Engins Augen bereitete ihm Übelkeit.

Chris nahm seine Hand zurück und lehnte sich neben Engin an die Wand und wartete, bis sich dieser von dem Schrecken erholt hatte. Was sollte er auch sagen? Was konnte er erklären? Es war alles so verworren.

"Du hast ja einen ganz schönen Schlag drauf. Bin ich froh, dass es nicht mir gegolten hat."

"Es tut mir leid. Ich bin nur ziemlich durcheinander und frage mich, was Bechthold von mir wollte."

"Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Mir ist ja nichts passiert. Woher hast du eigentlich den Kristall? Ist das wirklich ein Glücksbringer?"

"Amanda hat ihn mir geschenkt. Sie wird sich heute noch etwas anhören müssen."

Gott, ich bringe sie um. Mit einem Teelöffel.

"Wenigstens machst du bei ihr den Mund auf. Ich war eben ein Feigling und habe noch nicht mal etwas zu Claudias Verhalten gesagt. Sie war unmöglich."

Chris blickte Engin an.

"Das war ich auch. Nenne es Liebe auf den ersten Blick. Aber wenn du mich zwingst, sie noch einmal zu treffen, dann kann ich für nichts garantieren."

"Das glaube ich dir. Aber die Gefahr wird nicht mehr bestehen, denn ich habe eben festgestellt, dass mir grünkarierte Pantoffel nicht stehen. Sie kann sich dafür einen anderen Doofen suchen. ‚...mein Freund, der nie meckert, wenn ich mal bis Mitternacht in der Galerie hängen bleibe...' Mir wird schlecht,wenn ich so ein Gesülze höre. Und dann stellt sich mir auch noch die Frage, warum sie Bechthold duzt und ich nichts davon weiß."

Es tat gut, dass sie sich ohne Worte verstanden.

"Ich hatte eigentlich gelbe Pantoffeln mit rosa Tupfen vor Augen, aber du bist wirklich kein Typ für so was. Was weiß sie eigentlich über unseren Job? Nicht, dass sie uns gefährlich werden kann."

"Du hast mich angesteckt, denn ich habe ihr nur erzählt, dass ich bei der Verwaltung im Innendienst bin. Das Wort Zoll oder Polizei habe ich nicht einmal erwähnt."

"Hast du denn mit ihr geredet? Oder hat sie von ihren Projekten erzählt?"

Von Engin kam erst mal keine Antwort. Er schien darüber nachzudenken. Als er dann antwortete, klang seine Stimme bitter.

"Wenn sie denn mal bei mir war, waren wir fast immer mit anderen Sachen beschäftigt. Und wenn wir geredet haben, dann hat sich alles um Claudia gedreht. Naja, ich habe es auch provoziert, weil ich ihr erzählt habe, dass mein Aufgabengebiet absolut langweilig sei. Und dann habe ich sie immer über ihren Job ausgefragt. Aber nie fiel ein Wort über Bechthold. Ich habe deswegen gar nicht erst daran gedacht, dass er hier auftauchen könnte. Gott, was war ich für ein Idiot. Aber es war so praktisch. Keiner, der meine Arbeit hinterfragte, und wo ich ständig überlegen musste, was darf ich nun erzählen und was nicht."

"Das Problem kenn' ich. Aber da habe ich mit Amanda ein Abkommen."

Engin stieß sich von der Wand ab und schaute zu Chris.

"Klar, sie fragt nicht und du fragst auch nicht. Worüber redet ihr eigentlich das ganze Wochenende?"

Wie ich am besten überlebe...

"Wer sagt eigentlich, dass wir überhaupt reden?"

Chris wusste, dass Engin sein anzügliches Grinsen richtig verstand.

"Wow, Chris der Macho schlägt mal wieder voll durch. Lass das nicht Mike hören. Der glaubt immer noch, dass Eddie dich gezähmt hatte."

"Klar doch, Eddie und ich haben den ganzen Abend nichts anderes getan, als miteinander zu reden. Wir konnten in der Anfangszeit unserer Beziehung die Finger nicht voneinander lassen. Das war Leidenschaft pur."

Jetzt konnte Chris Engin etwas fragen, das ihn quälte. Mit einem Achselzucken fuhr er fort.

"Aber leider hat's bei mir nicht gereicht. Hast du ihr die Story von Eddie und mir erzählt, um das Bild abzurunden?"

"Klar, damit du mich wirklich killst, wenn sie es wagen sollte, dich darauf anzusprechen."

Engin schüttelte den Kopf.

"Sie weiß nur, dass du mein Kollege bist und die Wochenenden bei deiner reichen Freundin in Frankreich verbringst."

Oh Scheiße, gleich geht doch mein Flug!

"Gott, da sagst du was. Wie spät haben wir? Ich verpasse sonst noch meinen Flug!"

Engin schaute auf seine Uhr.

"Mach dir keine Sorgen. Es ist kurz vor halb neun. Wenn wir jetzt aufbrechen, dann liegen wir voll im Zeitplan."

"Na, dann sollten wir starten. Ich weiß nicht, wie es dir ergeht, aber die Schnittchen waren einfach nur grauenhaft. Sollten wir noch was zu essen organisieren?"

"Ja, ich habe sie noch nicht mal probiert. Sie rochen so seltsam. Ich kenne da einen Schnellimbiss, der ein fantastisches Döner hat. Ich lade dich ein!"

"Wer kann dazu schon nein sagen. Auf geht's."

Chris stieß sich von der Wand ab und begleitete Engin zum Auto.

Im Gegensatz zur Vernissage gestaltete sich das restliche Wochenende für Chris recht erfreulich.

Als er Amanda auf den Kristall ansprach und über Bechtholds Reaktion berichtet hatte, war diese beunruhigt. Sie erzählte ihm die Geschichte vom Stein des Methusalem und von seiner Zerstörung. Chris erfuhr auch, dass Bechthold eigentlich gar nichts von diesem Stein wissen dürfte.

Inzwischen war es bei ihnen üblich geworden, dass der Samstag mit Theorie begann, dann gab es ein leichtes Schwertraining, Mittagspause, erneut Theorie und nach dem Kampftraining am späten Nachmittag kochte Chris. Beim Abendessen erzählte Amanda dann den neuesten Klatsch aus der Unsterblichen-Szene. Ob Afrika, Asien, Amerika oder Australien, sie wusste immer, wer gerade mit wem zusammen war und welches Paar sich zerstritten hatte. Hin und wieder erzählte sie, wo es einen Kampf gegeben und wer verloren hatte.

Obwohl Chris keinen der Beteiligten kannte, war es doch sehr interessant. Anhand Amandas Kommentaren konnte er inzwischen zuordnen, wer zu den ‚Guten' und wer zu den ‚Bösen' gehörte. Bechthold war eindeutig ein ‚Böser'. Amanda hatte inzwischen durch einen ihrer unzähligen Bekannten herausgefunden, dass nicht nur sie schlechte Erfahrungen mit Bechthold gemacht hatte. Neu war die Information, dass er wohl mindestens dreihundert Jahre alt sein sollte, den Kampf suchte und sehr viel Erfahrung hatte.

Für einen Anfänger wie Chris war er der absolute Albtraum. Die Chancen, so einen Kampf zu gewinnen, waren minimal.

Amanda gab Chris einige Tipps, wie er vermeiden konnte, von Bechthold gefordert oder zum Kampf gezwungen zu werden.

Sie machte aber deutlich, dass es für sie absolut unverständlich war, warum Chris nicht einfach seine Koffer packte und Frankfurt verließ. Chris wollte aber seine Heimat und seine Freunde nicht aufgeben. Und dann war da noch Eddie. Schließlich gab Amanda auf.

Der Abend endete mit Diskussionen über Gott und die Welt. Chris hatte Amandas Intelligenz und ihre Schlagfertigkeit fürchten gelernt. Aber auch in diesen Stunden lernte er mehr, als er jemals gedacht hatte.

Sonntagmorgen starteten sie mit praktischen Übungen etwas anderer Art. Chris war inzwischen schon längst in der Lage, alle gängigen Schlösser zu knacken, Wanzen anzubringen und andere Kleinigkeiten hinzukriegen, die allesamt illegal waren. Die Grundlagen kannte er ja von seinem Beruf, aber er hatte nie gedacht, dass er sie einmal selber so gut beherrschen würde. Er wünschte sich, diese Fertigkeit auch im Berufsleben anwenden zu können. Durch seinen intensiven Kontakt mit Amanda hatte er keinerlei Gewissensbisse mehr, sie auch einzusetzen. Er hatte aber auch erkannt, dass Amanda nach ihrem eigenen Ehrenkodex lebte.

Chris bezweifelte, dass er jemals zuvor soviel gelernt hatte wie in den letzten Monaten.

Nachmittags kam immer der härteste Teil des Tages – gleichzeitig auch die größte Herausforderung – der Versuch, Amanda im Schwertkampf zu besiegen. Im letzten halben Jahr hatte er es erst einmal geschafft, ihre Verteidigung effektiv zu durchbrechen und sie auch zu treffen, doch normaler Weise stand er am Ende des Kampfes immer mit dem Rücken zur Wand und Amandas Schwert berührte seine Kehle. Er kam sich immer wie eine Maus vor und Amanda war die Katze. Meistens hatte er vorher den einen oder anderen Stich nicht abwenden können und blutete dann auch noch aus einigen kleinen Wunden, die aber schnell verheilten.

Dieses Mal war es anders. Der Freitag steckte Chris noch in den Knochen und er suchte eine Möglichkeit, seinen Frust los zu werden. Heute versuchte er nicht, Amanda mit Technik zu besiegen. Er spielte seine körperliche Überlegenheit aus und setzte seine ganze Kraft ein. Und er schaffte es. Amanda stand zum Schluß mit dem Rücken zur Wand und seine Klinge berührte ihren Hals.

Auf dem Rückflug kam Chris der Gedanke, ob er Amanda wirklich im harten Kampf besiegt hatte oder ob es ihre Art war, sich zu entschuldigen, dass Bechthold ihn gefunden hatte.

Die nächsten zwei Wochen gingen im üblichen Trott weiter. Sport, Arbeit, Sport, ab und zu einige Stunden Schlaf und zwischendurch musste er Engin trösten, der Claudia nachweinte, obwohl er derjenige war, der Schluss gemacht hatte.

Aber auch das war ja nichts Neues, solche Phasen hatte sein Partner.

Chris sorgte sich, dass Bechthold irgendwann vor Engins Tür stehen würde. Denn er befürchtete, dass Bechthold versuchte, ihn aufzuspüren. Aber nichts tat sich.

Dafür hatte Chris in seinem Leben einiges geändert. Neu war das Laufband, das er sich zugelegt hatte und jetzt im Wohnzimmer stand. Er konnte das Risiko, unbewaffnet joggen zu gehen, nicht mehr eingehen. Auch seine übliche Bewegungsfreiheit schränkte Chris ein. Er achtete darauf, von Menschen umgeben zu sein, wenn er etwas erledigen wollte.

Am nächsten Wochenende wechselte er das Parkhaus am Flughafen.

Kurzzeitparken für drei Tage war zwar sehr teuer, dafür war dort immer was los. Amanda verschwieg er seine Sorgen. Chris wollte keine weitere Predigt von ihr hören. Er konnte sich so schon denken, was sie ihm sagen würde. Und die Wörter ‚Koffer packen' und ‚neue Identität' würden darin nicht nur einmal vorkommen.

Auch auf der Arbeit fühlte Chris sich nicht wirklich sicher. Wenn Engin Feierabend machte, dann packte auch Chris seinen Kram zusammen und begleitete ihn. Da Engin endlich eingesehen hatte, dass er Bewegung nötig hatte, gingen sie von ihrem Büro im dritten Stock zu den Tiefgaragen die Treppe runter.


tbc