Amandas Abschied

19. August 2004, Frankfurt

Als sie am nächsten Donnerstag um kurz vor sieben Feierabend machten, weil Engin noch zum Schwertfechten wollte, fühlte Chris auf der Treppe einen Buzz.

Er verfluchte sich, weil er wegen der Hitze seinen Staubmantel im Auto liegen gelassen hatte, ließ sich aber nichts anmerken und ging weiter. Im Treppenhaus waren noch so viele andere Beamte unterwegs, dass er nicht in Gefahr war, in einen Kampf verwickelt zu werden.

Als sie im Erdgeschoss ankamen, schaute sich Chris die wenigen Leute, die noch im Foyer waren, an und war erleichtert.

Was will Amanda hier?

Er ignorierte Engin, der gerade irgendetwas über eine besondere Stichtechnik erzählte, und ging direkt auf Amanda zu. Engin rief ihm noch etwas hinterher, aber Chris bekam nicht wirklich mit, was er sagte.

Viel zu sehr beschäftigte ihn der Gedanke, warum Amanda in Frankfurt war. Als Chris näher kam, hatte er das komische Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er dann vor Amanda stand, da wusste er, dass etwas schlimmes passiert sein musste, denn Amanda sah sie ihn mit verweinten Augen an. Und normaler Weise war sie sehr auf ihr Äußeres bedacht.

Chris wusste zwar nicht, was mit ihr los war, aber am sinnvollsten schien es ihm, sie einfach in seine Arme zu schließen. Sie klammerte sich an ihm fest, als ob er ihr Rettungsanker wäre, dabei liefen ihr erneut Tränen über das Gesicht und ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.

Dass Engin inzwischen näher gekommen war und sie beobachtete, war ihm einfach nur egal. Erst als Engin ein verlegenes Räuspern von sich gab, wurde Chris klar, dass sie für diesen Gefühlsausbruch am falschen Platz waren.

Er ließ Amanda los und kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Er reichte es ihr und sie tupfte sich die Tränen ab.

"Komm, wir fahren zu mir. Dann kannst du mir erzählen, was los ist. Mir sind hier zu viele Leute."

Mit einem Nicken verabschiedete Chris sich von Engin, legte seinen Arm um Amandas Schulter und schob sie sanft aber bestimmt Richtung Tiefgarage. Dabei fragte er sich, was passiert sein musste, dass sie sich so verhielt.

Die Fahrt zu Chris' Wohnung verlief schweigend. Amanda hatte sich wohl in ihre eigene Welt zurück gezogen und war nicht ansprechbar. Hin und wieder hörte er sie leise schluchzen.

Obwohl sie ihm leid tat, hoffte Chris, dass dieser Zustand andauern würde, bis er sie in seine Wohnung bugsiert hatte. Er schämte sich, denn obwohl er seinen Nachbarn inzwischen sehr klar zu verstehen gegeben hatte, dass sie gefälligst das Treppenhaus in Ordnung halten sollten, war es zwar sauber, aber sehr heruntergekommen.

Seine Wohnung war da schon besser, frisch renoviert, sauber und aufgeräumt.

Scheiße, der einzige Stuhl steht vor dem Computer.

Wo sollte er da mit Amanda hin? Darüber hatte Chris nicht nachgedacht, als er sie in sein Auto gepackt hatte. Das Wohnzimmer war sein Trainingsraum und im Schlafzimmer fehlte immer noch das Bett zu der Matratze. Es hatte immer die Zeit und die Lust gefehlt, um für weitere Möbel zu sorgen. Doch wenn er an seine Küche, die nur aus Schränken, einem Herd und einem uralten Kühlschrank bestand, dachte, dann war das Schlafzimmer trotz allem der wohnlichste Raum.

In Frankfurt war es der einzige Ort, wo sie ungestört sein konnten, denn ein Hotelzimmer kam bei Amandas Stimmung nicht in Frage.

Also hatte er keine andere Wahl.

Nachdem Chris auf seinen Platz vor dem Haus geparkt hatte - seit einem heftigen Streit mit seinen Nachbarn war dieser Parkplatz immer frei - kamen sie, ohne von jemanden aufgehalten zu werden, in seine Wohnung.

Chris nahm Amanda die Jacke ab und dirigierte sie ins Schlafzimmer. Ohne weitere Aufforderung setzte sie sich auf die Matratze und Chris hockte sich zu ihr und nahm sie in den Arm.

Als wäre es ein Startzeichen liefen die Tränen wieder über Amandas Gesicht. Chris hielt sie einfach nur fest und wartete, bis die Schluchzer seltener wurden. Er tastete nach seiner Tempo-Box, die irgendwo am Kopfende war, und reichte sie Amanda.

"Danke!"

Nach einigen Minuten war auch der letzte Tränenstrom versiegt.

"Besser jetzt?"

Sanft wiegte Chris Amanda in seinen Armen. Sie lehnte sich zurück und entspannte ein wenig.

"Nicht wirklich. Bist du mir böse, dass ich unser Abkommen gebrochen habe und zu dir gekommen bin?"

"Ich weiß die Ehre zu schätzen, dass du zu mir gekommen bist, auch wenn ich mich frage, was los ist."

"Nick ist tot."

Das war es also. Dieses Gespenst, das schon bei ihrer ersten Begegnung seine Schatten geworfen hatte. Chris wusste nicht, was er sagen sollte. Er war einfach nicht besonders gut in solchen Sachen. Statt tröstender Worte drückte sie einfach nur an sich.

Anscheinend war es genau das, was Amanda brauchte. Denn sie redete sich ihren Kummer von der Seele.

"Ich habe es heute Morgen von einem guten Freund erfahren. Es ist in Südafrika passiert. Vor zwei Wochen habe ich erfahren, dass Nick dort ist. Ich hatte ihm einen Brief geschrieben. Wollte wissen, wie es ihm geht und ob er mir inzwischen verziehen hatte. Stattdessen kam Joe vorbei und versuchte, es mir schonend beizubringen. Als ob es dann weniger schmerzen würde."

Weitere Tränen rollten ihr über das Gesicht. Als sie sich beruhigt hatte, erzählte sie weiter.

"Ich habe mich gefragt, warum ich diesen Brief geschrieben habe. Stattdessen hätte ich mich ins nächste Flugzeug setzen und ihn zur Rede stellen sollen. Vielleicht würde er dann noch leben. Gott verflucht. Jetzt ist es zu spät. Damals habe ich alles falsch gemacht und jetzt schon wieder."

Amanda schien in Selbstvorwürfe zu versinken.

Bis es Chris zu viel wurde. Er schob sie von sich, ging in die Hocke und blickte auf sie hinab. Amanda hielt jedoch den Kopf gesenkt und starrte auf ihr Taschentuch.

"Wenn Nick mir genauso ähnlich war, wie du es mir immer gesagt hast, dann sage ich dir, was ich an seiner Stelle gemacht hätte, wenn du da unten plötzlich aufgetaucht wärst. Ich hätte dir gesagt, dass ich dir immer noch nicht verziehen hätte und du dich verpissen solltest. Es hätte nichts geändert. Absolut gar nichts. Jetzt hör' auf mit deinen Selbstvorwürfen. Das passt nicht zu dir."

Als Amanda immer noch nicht reagierte, legte Chris seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, aufzusehen.

Ihr Gesicht war vom Weinen rot und verquollen und sie sah sehr unglücklich aus.

Was mache ich hier eigentlich?

Amanda nahm seine Hand und schob sie weg, doch ihren Blick wandte sie nicht ab.

"Du kannst es nicht verstehen. Dafür bist du noch viel zu jung. Irgendwann gewöhnt man sich daran, dass die Sterblichen nur für eine gewisse Zeit leben und dass man sich irgendwann von ihnen verabschieden muss. Aber wenn ein Unsterblicher, der mir wichtig ist, durch dieses gottverdammte Spiel stirbt, dann stirbt jedes Mal auch ein Teil von mir. Ich frage mich, ob es überhaupt einen Preis gibt oder ob es die Rache der Götter ist! Ich will diesen Preis nicht! Ich will leben und ich will, dass meine Freunde überleben! Weißt du, wie viele von uns irgendwann aufgeben und bewusst einen Kampf suchen, um zu sterben, weil sie es einfach nicht mehr ertragen können, dass wirklich alle Freunde früher oder später sterben? Das ist der wahre Grund, warum es so wenige alte Unsterbliche gibt. Wer erträgt schon so ein Leben?"

Oh mein Gott! Wie alt muss Amanda sein, um so viel erlebt zu haben?

Chris setzte sich hinter Amanda und wiegte sie in seinen Armen. Sie hatte wieder angefangen zu weinen.

Wie sollte er diesen Schmerz lindern? Die Tatsache, dass er Eddie aufgeben musste, war im Vergleich dazu eine Kleinigkeit. Wie sehr musste es Amanda weh tun? Und Chris kam sich dabei so hilflos vor. Er konnte nichts anderes machen, als sie zu halten und zu hoffen, dass es irgendwann aufhören würde.

"Jedes Mal, wenn du dich sonntags ins Flugzeug setzt, habe ich Angst um dich. Ich will nicht, dass du in einem sinnlosen Kampf mit Bechthold stirbst. Denn du hast so viel Feuer und Energie. Auch wenn du es nicht glaubst, weil du einer verlorenen Beziehung hinterhertrauerst. Aber irgendwann vergeht das und dann..."

Doch Amanda sprach nicht weiter. Sie schien wieder mit ihren Gedanken ganz weit weg zu sein.

Chris hielt sie einfach nur fest. So vergingen einige Minuten.

"Weißt du, viele haben in den letzten Jahren Duncan für den wahren Champion gehalten. Er war so lebendig. Gott, ich habe ihn dafür geliebt. Aber als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da wollte er sterben, weil seinetwegen und durch seine Hand so viele andere gestorben waren. Beinahe wäre er sogar gestorben, doch-"

Amanda stockte und Chris hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas verschweigen wollte. Doch einen Moment später fuhr sie fort.

„Ein gemeinsamer Freund hat es ihm ausgeredet. Er schien Duncan richtig den Kopf gewaschen zu haben. Doch es hatte nicht so gewirkt, wie wir hofften, denn Duncan ist danach von der Bildfläche verschwunden. Keiner weiß, ob er noch lebt. Selbst Joe hat keine Informationen. Und ich? Ich schaue einfach nur zu. Versuche, meinen Kopf zu behalten und zu überleben. Ich frage mich, wie lange ich das noch will."

Chris fragte sich, wieso Amanda ihm den Namen des anderen Unsterblichen verschwieg. Das war doch sonst nicht ihre Art. Aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Amanda drehte sich um und sah Chris in die Augen.

"Sag mir einen Grund, warum ich es sollte! Was macht das Leben noch lebenswert?"

Chris gab ihr die einzige Antwort, die er für sie hatte. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie. Er hatte eigentlich an einen zärtlichen Kuss gedacht, der mehr versprach als gab.

Aber Amanda ließ es nicht zu. Sie erwiderte den Kuss mit einer Intensität und Hingabe, die Chris überwältigte. Als er sich von ihr löste und in ihre Augen sah, wusste er, dass es diese Nacht kein Zurück gab.

Am nächsten Morgen erwachte Chris, als die Sonne aufging. Amanda hatte sich an ihn gekuschelt und schlief noch. Er hatte einen Arm angewinkelt und den Kopf darauf gestützt. Gedankenverloren betrachtete er sie. Auf ihrem Gesicht konnte Chris sehen, wie die Sonne aufging. Alles veränderte sich. Von den Schatten der Nacht über verschiedene Grautöne zu den satten leuchtenden Farben des Tages.

Genau so fühlte er sich auch. Diese Nacht hatte eine Wunde auf seiner Seele zum Verschorfen gebracht. Verheilt war sie noch lange nicht, aber es würde nicht mehr eitern. Nur lauter wehmütige Erinnerungen hervorrufen.

Langsam erwachte auch Amanda. Als sie die Augen öffnete und Chris sah, da lächelte sie ihn an und räkelte sich wie eine satte und zufriedene Katze. Die verzweifelte und traurige Amanda war verschwunden.

Zum ersten Mal erkannte Chris, dass die Amanda, wie er sie bisher gekannt hatte, nur eine Maske war. Perfektioniert über wer-weiß-wieviele Jahrhunderte. Und er hatte die Möglichkeit bekommen, einmal ein Stück der wahren Amanda zu sehen.

Doch bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, schlang sie einen Arm um seinen Kopf und zog Chris zu sich herab, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen.

Als sie ihn losließ, war er ein wenig außer Atem.

"Guten Morgen, du Frühaufsteher! Bist du immer so früh wach?"

Lächelnd schüttelte er den Kopf.

Amanda wirkte so, als ob es den vorigen Abend nie gegeben hatte. Und doch wussten sie es besser.

"Um sechs klingelt der Wecker. Wir haben also noch Zeit."

"Das will ich doch hoffen."

Bevor Amanda Chris zu sich runter ziehen konnte, beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss. Mit seiner freien Hand strich er die Linien ihres Gesichts nach, bis er am Haaransatz angekommen war. Seine Finger spielten mit den seidigen Strähnen. Amanda wollte aber mehr. Und Chris gab nach und ließ sich fallen.

"Wie alt muss eine Frau sein, um im Bett so genial zu sein?"

"Wenn das jetzt ein Kompliment sein soll, dann ist kein besonders gutes. Und außerdem werde ich den Teufel tun und dir mein wahres Alter verraten. Lass einer alten Frau ihre kleinen Geheimnisse."

Das Lächeln auf Amandas Gesicht zeigte ganz deutlich, dass sie es doch als Kompliment auffasste.

Und Chris war neugierig. Bisher hatte er immer alle Fragen über ihr Alter runtergeschluckt, aber jetzt, wo sie nackt neben ihm lag und so zufrieden wirkte, da wagte er weiterzufragen.

"Wieso sollte ich? Du kennst doch auch all meine Geheimnisse."

"Ja und? Du bist mein Schüler und musst mir auch immer alles erzählen. Aber ich bin nun mal deine Lehrerin."

Chris überlegte, ob er bei ihr den gleichen Trick anwenden sollte, den er sonst immer bei Eddie angewendet hatte.

Entschlossen drehte er sich zu ihr.

"Das kannst du doch nicht machen! Chris, lass das… nein, du erfährst nichts… HILFE! … Gnade… bitte… ich erzähle es dir."

Erst als sie kapitulierte, hörte Chris auf, sie zu kitzeln.

Nachdem Amanda wieder zu Atem gekommen war, fing sie an zu erzählen.

"Ich muss dich enttäuschen, denn ich kann dir nicht mein genaues Alter sagen. Ich selber kann es nur anhand der geschichtlichen Ereignisse schätzen."

"Und was waren das für Ereignisse?"

Neugierig setzte Chris sich auf und lehnte sich an die Wand. So oft er Amanda bisher auch getroffen hatte, sie hatte nie etwas über ihre Vergangenheit verraten.

"Gut, wie du willst. Als ich geboren wurde, war Charlemagne schon seit einigen Jahren tot und Ludwig der Fromme saß auf dem fränkischen Thron. Seine Söhne hatten sich aber noch nicht gegen ihn erhoben. Und Georg IV war in Rom der geistliche Herrscher über die Welt. Ich war ein einfaches Mädchen und hatte keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging. Bis auf die Gerüchte, dass es wilde Nordmänner gab, die raubend und plündernd die Küste heimsuchten."

Mit einem verschmitzten Grinsen sah Amanda Chris an.

"Das müsste dir reichen, um bis auf zwei Jahre genau mein Geburtsjahr zu errechnen. Als ich zum ersten Mal starb, war Georg IV tot, stattdessen hieß der Papst Leo IV, Paris war das erste Mal geplündert worden und Lothar war Kaiser. Die Ordnung, die ich bisher kannte, begann zu wanken. Und ich wurde beim Stehlen eines Brotes erwischt und niedergeschlagen. Mein Häscher schlug so fest zu, dass ich daran starb. Rebecca fand mich und ich wurde ihre Schülerin. Sie brachte mir alles bei. Lesen, schreiben, Manieren und natürlich auch das Kämpfen. Sie wurde meine beste Freundin. Sie konnte jedoch nie verstehen, warum ich von funkelnden und glitzernden Sachen angezogen wurde. Aber im Gegensatz zu mir war sie auch schon vor ihrem ersten Tod wohlhabend gewesen."

Während ihrer Erzählung hatte sich Amanda an Chris gelehnt und fast schon automatisch umarmte er sie.

"Was ist aus Rebecca geworden?"

"Sie ist gestorben. Wie du weißt, hat sie allen Schülern ein Stück vom Methusalem-Kristall gegeben. Luther, ein anderer Schüler von ihr, wollte alle Stücke haben, damit sich die Legende erfüllt, und hatte sie deswegen gefordert. Ich wollte ihren Tod rächen und habe Luther herausgefordert, aber ohne Duncans Hilfe wäre ich jetzt tot."

Mit einem Seufzer befreite sich Amanda aus der Umarmung, drehte sich zu Chris und sah ihm in die Augen.

"Ich muss dir etwas gestehen. Ich bin gestern nicht zu dir gekommen, um Trost zu suchen, sondern um mich zu verabschieden."

"Wieso?"

Am liebsten wollte Chris sich an Amanda klammern und sie bitten zu bleiben. Denn inzwischen hatte er gemerkt, dass sie seine einzige Stütze in diesem neuen Leben war. Keiner kannte seinen Schmerz besser als sie. Keiner konnte ihm helfen. Dass sie diese Nacht zusammen im Bett gelandet waren, war in diesem Zusammenhang unwichtig. Und wer sollte ihn weiter unterrichten, wenn sie weg war? Er brauchte sie.

"Es ist wegen Nick."

Ihre Miene war jetzt so verschlossen und so hart geworden. Chris konnte sich denken, was sie wollte.

"Du gehst auf die Jagd nach seinem Mörder?"

Ein Kopfschütteln war die Antwort. Auf seinem fragenden Blick erklärte sie ihre Motive.

"Nicht ganz. Und vielleicht doch. Ich will wissen, was passiert ist. Will herausfinden, wie es zu dem Kampf gekommen ist. Vielleicht lasse ich ihn am Leben. Vielleicht fordere ich ihn auch heraus."

Vorsichtig legte Chris seine Arme um Amanda. Er berührte sie federleicht an der Hüfte. Sie sollte nicht das Gefühl haben, dass er sie festhalten wollte.

"Und wann wirst du zurück kommen?

"Ich weiß es nicht. Bis ich in Kapstadt bin, werden alle Spuren kalt sein. Es kann Wochen oder Monate dauern. Keine Ahnung. Aber es ist nicht nur wegen Nick."

Amanda sah Chris eindringlich an.

„Bechthold hat mich letzte Woche aufgesucht und er will etwas, das ich ihm nicht geben kann."

Amanda machte sich los und stand auf.

"Im Gegensatz zu dir weiß ich, wann es gesünder ist zu gehen. Aber ich lasse dich nicht im Regen stehen. Ich habe vorgesorgt."

Chris sah zu ihr auf, wie sie unruhig vor ihm auf- und ablief. Er merkte, dass ihr diese Entscheidung nicht leicht gefallen war. Und er hatte den Eindruck, dass Nicks Tod ihren Aufbruch nur beschleunigt hatte.

Was meinte sie mit ‚Ich habe vorgesorgt'?

"Was bedeutet das für mich? Und hör' bitte auf, so rumzulaufen. Das macht mich nervös…"

und geil.

Ihre Bewegungen waren leicht und elegant. Und der Anblick ihres geschmeidigen, durchtrainierten Körpers erregte Chris erneut. Er rief sich aber zur Ruhe und versuchte wieder rational zu denken. So konzentrierte er sich auf Amandas Erklärung.

"Du kannst weiterhin jedes Wochenende nach Paris kommen. Ich habe soviel Geld auf das Konto gepackt, dass es für zwei Jahre reichen müsste. Du bekommst von mir einen Schlüssel vom ‚Sanctuary'. Solange du dich nicht mit Myers verkrachst, kannst du dort leben wie du willst. Außer Schwertkampf kannst du eigentlich nicht mehr viel lernen. Naja, am Computer bist du noch nicht wirklich gut. Adam Pierson wird Samstagmittag vorbeikommen und mit dir den Schwertkampf trainieren. Und er ist besser als ich."

Wer ist Adam Pierson? Sie hat seinen Namen noch nie erwähnt."

"Pierson gehört zu den 'Guten'?

"Das ist die falsche Frage."

"Aber es ist aber die einzige, die mich interessiert."

Mit einem resignierten Schulterzucken setzte sich Amanda wieder zu Chris.

"Adam gehört weder zu den ‚Guten' noch zu den ‚Bösen'. Er steht immer auf seiner eigenen Seite. Und die heißt ‚Überleben'. Im Gegensatz zu mir hat er keine Moralvorstellungen."

Chris' Kehle wurde trocken. Er schluckte und es ging wieder.

Wenn Amanda das schon behauptet… heilige Scheiße, was ist das für ein Typ?

"Ist er eine Gefahr für mich?"

"Nein. Er bringt dir das Kämpfen bei, weil er mir noch einen Gefallen schuldet. Er war gar nicht glücklich, als ich ihn eingefordert habe. Deswegen wundere dich nicht, falls er die ersten Male sehr schlecht gelaunt ist. Aber er würde sich nur dann einem Kampf stellen, wenn man ihm keine andere Wahl lässt. Es besteht ja immer das Risiko, dass er durch einen unglücklichen Zufall doch verlieren könnte. Und er hängt an seinem Leben."

"Das hört sich ja toll an. Du bist weg und ich muss mich mit Myers und einem schlecht gelaunten Unsterblichen abgeben. Wenigstens ist Bechthold dann nicht in Paris. Der hat erst wieder für Montag einen Flug gebucht."

Die Jungs der Überwachungseinheit waren wirklich gut und wussten inzwischen über jeden Schritt von Bechthold Bescheid.

"Tja, du könntest natürlich auch hier bleiben und Däumchen drehen, aber wenn einer in der Lage ist, dich so weit zu bringen, dass du für Bechthold ein gleichwertiger Gegner bist, dann ist es Adam. Lass dich nicht von seiner zynischen Art provozieren. Es würde ihm eine diebische Freude bereiten."

Bin ich etwa nicht zynisch?

Das Klingeln des Weckers hinderte Chris daran, eine Antwort zu geben. Er angelte ihn und schmiss ihn mit voller Wucht gegen die Wand, wo er sich in seine Einzelteile zerlegte.

Aber das interessierte Chris nicht. Er hatte im Schrank noch Ersatz.

Eigentlich hatte er noch einen bissigen Kommentar auf der Zunge liegen, aber er brachte es nicht über sich, ihn Amanda an den Kopf zu werfen. Er war zwar nicht glücklich, dass sie für eine Weile aus seinem Leben verschwinden würde, aber er konnte ihre Motive verstehen.

Manchmal fragte er sich ja selbst, warum er sich so an seinem Leben festklammerte und nicht einfach seine Koffer packte und verschwand. Wie er sich neue Papiere verschaffen konnte, hatte Amanda ihm ja beigebracht.

"Wann geht dein Flug? Vielleicht können wir vorher noch zusammen frühstücken. Ich werde auch keine Szene machen."

"Um halb zwölf geht mein Flieger nach London. Von da aus geht's weiter. Zeit haben wir noch genug."

"Haben wir auch noch Zeit, um uns noch einmal ins Bett zu kuscheln? Ich muss mich ja schließlich anständig von dir verabschieden."

Dabei blickte er sie mit einem, wie er dachte, bettelnden Hundeblick an.

Amanda konnte dem Angebot nicht widerstehen.

"Und was ist mit deinem Job?"

"Engin wird verstehen, wenn ich dich bis zu deinem Abflug nicht aus den Augen lasse."

Das Kissen kam so schnell geflogen, dass Chris nicht ausweichen konnte.

"Du bist ein Mistkerl!"

Um elf Uhr war Chris wieder auf der Arbeit. Sehr müde mit tausend Gedanken, die durch seinen Kopf schwirrten. Er musste erst einmal alles verdauen. Dabei lag auch noch der neueste Bericht aus Hamburg auf seinem Schreibtisch, den er durchgehen musste, bevor er fürs Wochenende Feierabend machen konnte.

Selbst der Kaffee half nicht viel.

Engin war nicht wirklich eine Hilfe. Sein anzügliches Grinsen und sein Kommentar "Ja, ja, ihr habt da eine Abmachung. Hast du Amandas Gepäck untersucht, bevor sie abgeflogen ist?" hatten Chris' Laune auf den absoluten Nullpunkt sinken lassen.

Er hatte Engin zu verstehen gegeben, dass Amandas kleiner Bruder gestorben war und sie bei ihm Trost gesucht hatte. Das hatte Engins Klappe gestopft und er hatte sich entschuldigt.

Jetzt hatte Chris den Bericht in den Fingern und sah nur einen Buchstabensalat.

Amanda war weg und er musste sich mit einem anderen Unsterblichen arrangieren.

Was empfinde ich eigentlich für Amanda?

Das einzige, was er sicher wusste, war, dass es keine Liebe war. Dieser Platz in seinem Herzen gehörte Eddie.

Aber was denn?

Er hatte in den letzten Monaten ihren Humor und Schlagfertigkeit zu schätzen gelernt. Bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er schon festgestellt, dass sie einen fantastischen Körper hatte. Und dann war da noch die Tatsache, dass sie auch eine Unsterbliche war.

Dass sie miteinander geschlafen hatten, war nett gewesen, aber es würde sich nicht wiederholen.

Warum mache ich mir so viele Gedanken darüber? Das hat mich doch früher nicht interessiert.

Chris gestand sich ein, dass ihn die Zeit mit Eddie und seine eigene Unsterblichkeit mehr verändert hatte, als er gedacht hatte. Es hatte ihn nicht nur härter gemacht, sondern er hatte gelernt, seine Beweggründe zu hinterfragen.

" Was gibt's denn, dass du so grübelst? Bronski ist doch einer der wenigen, der verständliche Berichte schreibt ."

Chris schrak hoch und blickte Engin an. Dann sah er noch einmal auf die Blätter in seinen Händen.

"Tut mir leid, ich war mit meinen Gedanken woanders. Weißt du, ich habe Amanda noch nie so verletzlich gesehen wie gestern. Und ich konnte ihr nicht wirklich helfen."

Was das Manipulieren von Menschen anging, war er auch besser geworden. Inzwischen wusste er fast immer, was er anderen sagen musste, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen und von dem eigentlichen Problem abzulenken.

Auch Engin war jetzt mit dieser Erklärung zufrieden und widmete sich wieder seinen Unterlagen.

Und Chris riss sich zusammen, entschied weiterzuarbeiten und erst im Flugzeug weiterzugrübeln und las den Bericht.

Bronski Bericht war nicht nur in einem vernünftigen und sogar halbwegs verständlichen Deutsch geschrieben, sondern er hatte sogar seine eigenen Vermutungen hinzugefügt.

Diese deckten sich mit Chris' Überlegungen. Eine Dienstreise nach Hamburg wurde wahrscheinlich. Und der Containerterminal immer interessanter.

Als Chris mit dem Bericht durch war und auch sonst alle aktuellen Aufgaben abgearbeitet hatte, war es später Nachmittag. Engin hatte sich schon verabschiedet, da er mal wieder ein Date hatte. Das Thema Claudia war bei ihm seit drei Tagen durch. Dafür saßen Mike und Carola noch vor ihren Berichten und Chris wollte sich ihnen anschließen, wenn sie Feierabend machten. Er wollte immer noch nicht das Risiko eingehen, alleine unterwegs zu sein.

Er hatte Mike gebeten, dass er sich meldete, wenn sie gingen. Bis dahin wollte Chris herausfinden, wie alt Amanda wirklich war. Es hatte zwar einiges an Arbeit gekostet, aber inzwischen stand bei ihnen im Büro ein Computer, der nicht ans interne Netzwerk angeschlossen war und sogar einen Internetzugang hatte.

Als er bei Google den Namen ‚Ludwig der Fromme' eintippte und das erste Ergebnis las, da glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Fieberhaft suchte er nun nach Papst Georg IV. Aber da wehrte sich Google. Was musste es auch so viele Könige geben, die sich auch Georg IV. nannten. Noch nicht einmal die Seite des Vatikans hatte irgendeine Information. Endlich fand er eine Zeitleiste aller Päpste und diese bestätigte sein erstes Ergebnis.

Wenn Amanda ihn nicht angelogen hatte, dann war sie über tausend Jahre alt. Schockiert lehnte Chris sich zurück. Er konnte es nicht begründen, aber in diesem Moment wusste er, dass Amanda die Wahrheit gesagt hatte.

Bisher hatte Chris nicht wirklich darüber nachgedacht, ob es wirklich möglich war, so alt zu werden. Aber dies erklärte auch, warum sie in der letzten Nacht so fertig gewesen war. Amanda sah seit tausend Jahren, wie ihre Freunde starben. Für Chris eine absolut grauenhafte Vorstellung.

"Chris, wir sind fertig. Kommst du?"

Mike steckte seinen Kopf durch die Tür und riss Chris aus seiner Erstarrung.

"Sofort! Ich fahre noch den Computer runter und bin dann bei euch."

"Beeil' dich, wir sind spät dran. Klaus spielt heute Nachmittag für Carolas Kleinen den Babysitter und wenn wir sehr spät dran sind, dann verschwören sie sich gegen uns."

"Ist Thorsten nicht sonst immer bei seiner Großmutter?"

"Doch, aber wenn er nur den Hauch einer Chance sieht, dann muss Klaus dran glauben. Er macht es ja gerne. Sie wollten heute zu einem Abenteuerspielplatz und werden hoffentlich unsere Verspätung nutzen und noch unter die Dusche gehen."

In Chris' Kopf spukte immer noch die Erinnerung an sein erstes Zusammentreffen mit Klaus. Er war damals ein steifer Banker gewesen. Dank Mike hatte Klaus diese Maske inzwischen fallen gelassen und zeigte immer öfter, dass er ein sehr liebenswerter Kerl war. Auch wenn sie keine wirkliche Freundschaft verband, Chris war ihm immer noch sehr dankbar, wie er sich um Eddie gekümmert hatte.

"Da kommt das Kind im Manne wieder raus."

Währenddessen hatte Chris seinen Computer runter gefahren und seinen Kram zusammengepackt.

"So, ich bin startbereit. Wir können. Was habt ihr dieses Wochenende vor?"

"Bei dem Wetter? Wir werden wahrscheinlich mit Carola und dem Lütten ein Spaßbad heimsuchen und braungebrannt zurückkommen. Fliegst du wieder nach Paris?"

"Klar, mein Flieger geht wie üblich um kurz vor zehn."

Inzwischen waren sie im Flur und gingen zusammen mit Carola zum Treppenhaus.

"Sach mal, es gehen Gerüchte rum, dass Amanda gestern hier war. Stimmt das?"

Die Welt ist klein und Engin konnte mal wieder seine Klappe nicht halten.

"Ja, ihr kleiner Bruder ist gestorben und sie brauchte Trost. Gibt es ein Problem damit?"

Mike druckste herum, bis es Carol zu bunt wurde und weiterredete.

"Wir haben kein Problem, aber einige Hamburger Kollegen bestimmt."

"Was soll sie denn angestellt haben?"

"Letzten Winter ist in Tötensen eine Villa ausgeraubt worden. Der Besitzer hatte in seinem Tresor auch wertvollen Schmuck aus dem letzten Jahrhundert aufbewahrt. Und der ist letztens bei einem Hehler in Frankreich aufgetaucht. Einige weitere Spuren führen auch zu deiner Freundin. Eigentlich haben die genügend Beweise für eine Hausdurchsuchung, aber die Franzosen weigern sich. Verschanzen sich hinter zuviel Arbeit und ähnlichem."

Myers ist schon praktisch. Möchte nicht wissen, was der wirklich macht.

"Gibt es denn einen offiziellen Haftbefehl oder ähnliches?"

"Nein!", antworte Carola und Mike ergänzte.

"Aber einer der Jungs hat in seinem Sommerurlaub privat ermittelt. Er hatte die Schnauze voll, dass seine Abteilung durch diese Sache in Deutschland so eine schlechte Presse bekommen hatte. Und letztes Wochenende hat er noch einmal einen Trip nach Paris gemacht. Dort hat er dich dann zusammen mit Amanda beim Verlassen des ‚Sanctuary' gesehen. Wie er deinen Namen rausbekommen hat, ist mir ein Rätsel. Und warum er ausgerechnet mir eine Mail geschickt hat und um näherer Informationen gebeten hat, weiß ich auch nicht. Was soll ich ihm jetzt sagen? Die gute Dame war in Deutschland und keiner hat sich um sie gekümmert."

Im Treppenhaus war es um diese Uhrzeit ziemlich ruhig, so dass niemand ihr Gespräch mitbekam.

"Sag ihnen einfach die Wahrheit. Sie hält mich aus und deswegen kann ich jedes Wochenende nach Paris fliegen. Sie ist wohl der Meinung, dass meine Qualitäten im Bett einfach nur gigantisch sind. Gestern..."

Es war nicht einfach für Chris, eine vernünftige Halbwahrheit zu finden, denn er hatte irgendwie das Gefühl, dass Mike ihm den toten Bruder nicht abnehmen würde. Deswegen entschloss er sich, gar nichts zu sagen.

„Das war eine Ausnahme, sie kommt nicht mehr nach Deutschland. Es wäre nett, wenn du das verschweigen könntest. Denn wenn ich in Frankreich bin, habe ich keine rechtliche Handhabe. Da müssen sich schon die französischen Kollegen um Amanda kümmern und du bist aus dem Schneider."

Carola hatte nach Chris' Kommentar über seine Qualitäten ein dickes Grinsen im Gesicht. Schwungvoll stieß sie die Türe zum Parkhaus auf.

Mike dagegen war mal wieder von seinem Ex-Partner genervt.

"Verdammt, Chris! Immer wenn ich glaube, dich zu kennen, zeigst du wieder eine neue Seite. Wie soll ich dich jemals einschätzen können?"

"Gar nicht, dann bleibt dein Leben auch immer aufregend. Schönes Wochenende noch und viel Spaß im Freibad!"

Chris war bei seinem Wagen angekommen, winkte den beiden noch einmal zu, stieg ein und fuhr los.

Es tat ihm zwar leid, Mike so stehen zu lassen, aber was sollte er anderes machen? Die Wahrheit konnte er ihm nun mal nicht erzählen. Gedanklich hakte er diesen Vorfall sofort wieder ab. Mike kannte ihn lange genug und würde nicht sauer sein. Hoffentlich. Ihr Verhältnis hatte sich gerade erst wieder einigermaßen eingerenkt.


tbc.