Bernhard hat Probleme

November 2004

Immer wieder bewunderte Chris Engins Talent, für alles und jedes auf dem Computer ein passendes Programm zu erstellen. Trotz Amandas Unterricht hatte er selbst dabei noch große Defizite. Auch wenn er inzwischen besser war, als er es Engin gegenüber zugab.

Im Moment zerbrachen sie sich den Kopf, wie die Aufgabenverteilung in Bechtholds Syndikat wohl wirklich aussah. Chris hatte am späten Nachmittag noch einen Termin beim Staatsanwalt und wollte optimal vorbereitet sein. Engin hatte dazu ein kleines Diagramm entworfen, das er mit dem Beamer an die Wand projizierte, damit sie in Ruhe über den Fall diskutieren konnten. So konnte er das Ergebnis ihres Brainstormings direkt einarbeiten. Strittig war wieder einmal der Punkt, welche Rolle Bechthold wirklich spielte.

Chris war inzwischen überzeugt, dass Bechthold der Kopf der Organisation war. Während Engin ihn irgendwo in der Führungsetagevermutete, einzig und allein verantwortlich für das Drogengeschäft. Wenn das der Fall war, dann musste es aber noch jemanden im Hintergrund geben.

Und solange sie für beide der Theorien nur Vermutungen und keine Beweis hatten, mussten sie weiterermitteln.

Der Staatsanwalt war nicht gerade glücklich, dass sie in den letzten Wochen keine Fortschritte gemacht hatten. Schließlich waren allein in Frankfurt dreißig Leute rund um die Uhr damit beschäftigt, Bechthold und Konsorten zu observieren. Und das kostete Vater Staat viel Geld.

Sie waren so in ihre Diskussion vertieft, dass sie zusammenzuckten, als die Bürotür aufgerissen wurde.

Schröder hatte es mal wieder nicht für nötig gehalten anzuklopfen, als er in ihr Büro stürmte.

Er grüßte sie noch nicht mal, sondern kam direkt zum Thema.

"Kennt ihr Bernhard Neuendorf?"

"Hallo! Schön dich zu sehen. Es freut mich, dass du uns in unserer Besprechung störst. Es war sowieso langweilig."

Doch Chris' Ironie prallte an Schröder ab.

"Ist er nun ein Informant von dir oder nicht? Wenn ja, dann hast du genau bis heute Nachmittag siebzehn Uhr Zeit, diesem Hosenscheißer zu sagen, dass er seine dreckigen Pfoten aus dem DVD-Handel raushalten soll."

"Schröder! Nun mach mal halblang und beruhige dich."

"Ich soll mich beruhigen?"

Schröder baute sich vor Chris auf und versuchte, ihn niederzustarren, gab aber kurz darauf auf, als Chris zurückstarrte. Sein Temperament hatte er aber nicht gebändigt.

"Ich weiß ja nicht, was für eine Show ihr hier abzieht. Angeblich sollt ihr ja per du mit dem Staatsanwalt sein. Fehlt nur noch, dass ihr am Wochenende auch noch mit ihm golfen geht. Jedenfalls muss es euch ja wahnsinnig befriedigen, dass ihr die Stars der Abteilung seid und so viele Leute für die Ermittlungen zugeteilt bekommt. Das ist mir im Endeffekt scheißegal."

Engin und Chris tauschten nur Blicke aus. Dass Schröder auf ihren Erfolg eifersüchtig war, pfiffen alle Spatzen von den Dächern. Doch der fuhr mit seiner Litanei fort.

"Ich habe heute einen Haftbefehl für diesen Neuendorf beantragt, weil der massenweise illegal gepresste DVDs aus dem Osten importiert und hier auf dem Schwarzmarkt verhökert. Und weißt du, was man mir eben gesagt hat? Dreimal darfst du raten! Und deswegen gebe ich dir den guten Rat, den Jungen schleunigst an die Leine zu nehmen, weil ich ihm sonst aufs Dach steigen werde, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Und wenn er tausendmal für euer großes Ding als Kronzeuge aussagen soll. Bis dahin soll er sich gefälligst anständig verhalten. Kümmert euch noch heute darum, sonst mach' ich es."

"Was willst du von uns?"

"Schwingt die Ärsche aus euren Sesseln und fahrt zu diesem Kleinkriminellen. Pack ihn am Kragen und sag ihm, dass er dir sämtliche DVDs, die er noch nicht verkauft hat, geben soll. Dann bringst du mir die DVDs und ich verzichte darauf, eine weitere Welle zu machen. Aber wenn ich die Dinger heute Abend nicht habe, dann wird es auch für euch ungemütlich."

"Wir liefern es dir morgen. Der Staatsanwalt will mich um fünf sehen und heute Nachmittag haben wir zum ersten Mal seit Ewigkeiten einen Platz in der Schießhalle bekommen. Wenn wir den Termin streichen, dann müssen wir uns hinten anstellen und vor Mitte Dezember ist nichts mehr frei."

"Das ist mir scheißegal. Ich habe zwei Wochen recherchiert und jetzt geht mir dieser Arsch durch die Lappen! Macht was, sonst lernt ihr mich kennen!"

Schröder drehte sich um und verließ türenknallend das Büro.

Die anschließende Stille war fast schon beängstigend.

"Was hast du mit ihm angestellt?"

Chris warf Engin einen vernichtenden Blick zu.

"Wieso soll ich was gemacht haben? Seitdem wir ein Team sind, hat er uns auf dem Kieker. Der hat es einfach nicht verwunden, dass du ihn damals so einfach abgeschrieben hast und mein Partner geworden bist. Die letzten Wochen habe ich ihn noch nicht mal gesehen, soviel Arbeit wie wir hatten."

"Hast du ihn gehört? ‚Ich habe zwei Wochen recherchiert…' Für ihn ist das bestimmt eine Ewigkeit", äffte Engin. "Mann, wenn wir die ersten Ermittlungen von Mike mitrechnen, dann arbeiten wir schon seit über zwei Jahren an diesem beschissenen Fall und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Und der meint, dass er uns in die Suppe spucken kann!"

"Manchmal frage ich mich, ob er vor seiner Scheidung auch so ein Ekelpaket war. Ich habe ihn damals kaum gekannt, selbe Abteilung, aber unterschiedliche Schichtzeiten. Oder hat ihn erst der Job so übel gemacht?"

"Ich weiß es nicht. Mir reichte die Woche, die er mir als Partner zugeteilt war, voll und ganz. Du kannst zwar ein absolutes Arschloch sein, Chris, aber man kann sich im Job immer auf dich verlassen. Egal, wie es in deinem Privatleben aussieht. Und das weiß ich sehr zu schätzen."

"Danke, das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Aber das hilft uns jetzt nicht weiter."

"Du meinst, was wir mit Bernhard Neuendorf machen?"

Bernhard Neuendorf war damals der Durchbruch in ihrer Ermittlung gewesen. Ohne seine Tipps hätten sie bis heute noch keinen einzigen verwertbaren Beweis gegen Bechthold.

"Wir werden dem Jungen wohl oder übel einen Besuch abstatten müssen. Obwohl ich nicht wirklich glaube, dass er wieder auf die schiefe Bahn geraten ist. Als ihm damals klar geworden ist, dass die Art und Weise, wie seine Eltern ums Leben gekommen sind, Bechtholds Handschrift entspricht, da war er fix und fertig mit der Welt und wollte nichts mehr mit seinem Patenonkel zu tun haben."

"Stimmt. Das Abi hat er zwar geschmissen, dafür hat er anschließend seinen Wehrdienst abgeleistet, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er ist letztens in eine WG eingezogen und hat im August eine Ausbildung angefangen. Irgendwas Kaufmännisches. Grundsolide. Ich kann nicht verstehen, warum er jetzt so austicken sollte."

"Hast du seine Unterlagen irgendwo griffbereit?"

Engin sah so aus, als ob er etwas nach Chris werfen wollte.

"Mann, Chris! Schau mal auf deinem Computer nach. Klick auf unseren gemeinsamen Server, arbeite dich dann logisch durch die Unterverzeichnisse und dann findest du einen winzigen kleinen Ordner, der sich Bernhard Neuendorf nennt. Unter ‚Aktuell' findest du seine Anschrift und alle weiteren Daten. Bestimmt auch einen Vermerk, wo er seine Ausbildung macht."

Ohne einen weiteren Kommentar arbeitete Chris sich durch die Ordner. Widerstand war zwecklos.

Endlich wurde er fündig und fasste den Inhalt zusammen.

"Der Junge macht bei Dachser in Frankfurt eine Ausbildung zum Speditionskaufmann und wohnt inzwischen in Offenbach. Da legt er ja jeden Tag eine nette Strecke zurück. Checkst du, ob er auf der Arbeit ist?"

"Ach, und was machst du? Faul rumsitzen?"

"Nein, ich denke für uns beide."

"Davon träumst du aber nur nachts. Du kannst ja noch nicht mal richtig mit dem Computer umgehen."

"Komm, ruf an, dafür hol' ich schon mal den Wagen und fahr' vor."

"Okay Harry. Ich kümmere mich um den Fall."

Dabei angelte sich Chris von Engins Schreibtisch den Schlüssel vom Dienstwagen und machte sich auf den Weg in die Tiefgarage. Inzwischen hatte er seine privaten Vorsichtsmaßnahmen gelockert. Es hielt es für absolut unwahrscheinlich, dass Bechthold jemals hier auftauchen würde.

Als er einige Minuten später vor dem Haupteingang hielt, da wartete Engin schon auf ihn. Kaum hatte dieser auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als er auch schon loslegte.

"Wir müssen rüber nach Offenbach. Neuendorf hatte heute Schule und anschließend seinen freien Nachmittag. Ich hoffe nur, dass er auch zu Hause ist."

"Bei unserem Glück bestimmt nicht, aber lass es uns versuchen, bevor er in Schröders Klauen gerät. Nach all dem, was er in den letzten Jahren durchgemacht hat, soll er seine Chance haben. Und ich hoffe, dass Schröder sich irrt."

"Glaubst du wirklich, dass er die Show abgezogen hätte, wenn die Möglichkeit bestehen würde? Nee, der hatte schon alles wasserdicht gehabt, lange bevor er bei uns versucht hat, seinen Frust abzuladen. Mich ärgert nur, dass wir jetzt nicht zum Schießstand kommen. Meine Trefferquoten sind nur so gerade eben noch im grünen Bereich, ich muss dringend was dran tun. Vielleicht sollte ich Carolas Rat folgen und einem Schützenverein beitreten. Die haben auch Schießstände, wo ich regelmäßig üben könnte."

Die Art, wie Engin das Wort Schützenverein betonte, machte klar, was er wirklich darüber dachte.

Chris konnte sich über seine Trefferquote nicht beklagen. Amanda hatte in den Katakomben auch einen Schießstand eingerichtet, den er inzwischen jeden Samstag aufsuchte, bevor Adam zum Training kam.

Seine Munition besorgte er sich über diverse illegale Quellen, von denen Engin gar nichts wissen durfte.

"Das solltest du machen. Weißt du, die haben jedes Jahr so einen öffentlichen Umzug, den sie Kirmes nennen. Da musst du dann auch mitmachen. Natürlich auch die Umzüge der befreundeten Vereine. Und am Wochenende haben die dann auch noch Vereinstreffen. Ach ja, Frauen findest du da nur selten, das ist noch eine echte Männerdomäne."

"Chris, halt die Klappe und konzentrier dich auf den Straßenverkehr. Sonst vergess' ich, dass du fährst, hau dir in die Seite und du baust noch einen Unfall."

Auch wenn die Musik im Autoradio nicht wirklich sein Geschmack war, Chris summte sie so lange sehr fröhlich und sehr schief mit, bis er tatsächlich von Engin einen Hieb in die Seite bekam.

Doch er baute keinen Unfall und sie kamen sicher in Offenbach an. Das Viertel, in dem der Junge lebte, war etwas heruntergekommen. Genau so wirkte auch das Haus, in dem Bernhard Neuendorf wohnte.

Chris fühlte sich sehr an seine eigene Wohnung erinnert.

Als sie bei Bernhard klingelten, hörten sie, wie jemand die Treppe runter lief, und dann wurde die Türe geöffnet und der Junge stand vor ihnen.

Er hatte sich kaum verändert, nur wirkte er etwas härter und reifer. Chris konnte es sich nicht wirklich vorstellen, dass er so dumm war, sich auf Produktpiraterie einzulassen.

"Hallo! Da haben Sie aber Glück gehabt. Ich bin gerade von der Schule zurück und wollte noch etwas einkaufen gehen. Kommen Sie rein. Es ist zwar etwas chaotisch, aber ich kann Ihnen einen Kaffee anbieten."

So wirkte niemand, der irgendetwas verheimlichen wollte. Er wirkte richtig froh, sie zu sehen, und wollte wohl einen guten Eindruck machen. Mit einem Schlag wurde Chris klar, warum Bernhard so nervös war. Er hoffte bestimmt, dass sie Bechthold festgesetzt hatten.

Dass er ihn enttäuschen musste, bereitete Chris fast schon Magenschmerzen. Ein Seitenblick zu Engin bestätigte, dass er zum gleichen Schluss gekommen war.

Schweigend folgten sie Bernhard in seine Wohnung. Es war weniger als eine Wohnung. Es war ein kleines Zimmer in einer WG. Und erstaunlicher Weise sogar recht sauber und aufgeräumt. Dafür hatte es aber auch so gut wie keine Möbel. Nur das Bett, einen Schrank, Schreibtisch und ein Stuhl davor. Bernhard bat sie, Platz zu nehmen, und verschwand in die Küche, um den versprochenen Kaffee zu machen.

So hatten Engin und Chris etwas Zeit, um sich umzuschauen. Dabei fiel Chris auf, wie ärmlich das Zimmer war. Kein Computer, kein Fernseher - ein kleiner CD-Player schien der einzige Luxusgegenstand in diesem Raum zu sein. Wenn Chris da an den Reichtum dachte, mit dem der Junge damals umgeben gewesen war…

Glaubte er etwa, für seine Zeit als Bechtholds Patensohn büssen zu müssen?

"Glaubst du Schröder?"

"Nie im Leben, der ist clean, und wenn nicht, dann ist er zu gut für Schröder. Mal hören, was er sagt."

Kurz darauf kam Bernhard mit zwei dampfenden Tassen zurück. Als er sie ansah, schien er zu merken, dass irgendetwas nicht stimmte, denn sein Gesicht bekam einen abweisenden Ausdruck.

Chris nippte erst an seiner Tasse, bevor er anfing.

"Leider kommen wir nicht, um dir zu sagen, dass Bechthold verhaftet worden ist. Es geht um etwas anderes."

Die Enttäuschung war dem Jungen vom Gesicht abzulesen. Er stellte seine Tasse auf dem Schreibtisch ab. Dann drehte er sich zu ihnen um.

"Es hätte ja sein können, dass ich doch einmal Glück in meinem Leben habe, aber scheinbar ist das nicht so. Dann wäre es sehr nett von Ihnen, wenn Sie mir sagen, worum es geht."

Bernhard lehnte sich an den Schreibtisch und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Das wird nicht leicht sein.

"Ein Kollege kam heute in unser Büro und hat behauptet, dass du DVDs vertickst. Illegal gebrannte DVDs. Wir glauben ihm nicht und wollen von dir wissen, wie er auf diese Idee kommen konnte. Das Problem ist, dass er scheinbar handfeste Beweise hat und einen Haftbefehl beantragen will. Im Moment weiß ich nicht, was wir dagegen tun sollen. Sorry, Junge, aber du steckst schon wieder verdammt tief in der Scheiße."

"Verdammt! Verdammt! Verdammt! Wenn ich den Scheißkerl in meine Finger bekomme, dann bring' ich ihn um!"

Entgegen seiner Erwartungen war Bernhard weder deprimiert, noch wirkte er frisch ertappt. Er war sauer.

Dann blickte er abwechselnd Chris und Engin an.

"Ihr müsst mir glauben. Ich wusste nicht, was in den Paketen war, die ich ausgefahren habe. Benny, ein Klassenkamerad, erzählte mir, dass er sich in seinem Laden noch etwas Geld verdient, indem er die Pakete, die sie normalerweise dem Kurierdienst anvertrauen würden, am Samstag selber ausfährt. Mit dem Geld, das ich als Azubi verdiene, komme ich nicht weit. Mein Auto und Lebensmittel kann ich mir leisten, dann ist Ende. Deswegen habe ich mich vor zwei Monaten angeboten auszuhelfen. Er erzählte nämlich, dass es inzwischen zuviel war, als dass er es noch alleine schaffen würde. Und dieses Schwein hat mich reingelegt."

"Gibt es Zeugen oder irgendwelche Beweise?"

"Glaubt ihr mir nicht?"

Mein Gott, ist der Junge naiv. Hat er denn nichts dazu gelernt?

Der Drang, Bernhard gleichzeitig durchzuschütteln und tröstend in den Arm zu nehmen, war groß, aber Chris bezweifelte, dass Bernhard verstehen würde, was er damit ausdrücken wollte, deswegen ließ er es. Aber er ging zu ihm und lehnte sich neben ihn an den Schreibtisch. Diese leichte Berührung sollte helfen, Spannungen abzubauen, behauptete jedenfalls Amanda. Ausprobieren konnte nicht schaden.

"Ich glaube dir, aber darum geht es nicht. Ich muss meinem Kollegen, der übrigens ein ausgemachtes Arschloch ist, überzeugen, dass du nicht der Richtige bist. Er will entweder einen Berg DVDs haben, die er stolz präsentieren kann, oder Köpfe. Und ich will nicht, dass du einer dieser Köpfe bist."

Es war deprimierend für Chris. An Leute, die die ganz großen Dinger drehten, kamen sie nicht ran, weil sie keine Beweise hatten, und Bernhard würde bestraft werden, weil er zu vertrauensselig war. Die nächsten Sätze von dem Jungen bestätigten es.

"Vielleicht ist es auch besser so. Ich habe keine Beweise gegen Benny. Samstag war ich das letzte Mal unterwegs. Er hat behauptet, dass sein Chef verboten hat, dass ich weiter mitmache, weil es Schwarzarbeit ist. Hat es mir aber erst gesagt, als ich ihm Samstagnachmittag die Empfangsquittungen gegeben habe. Werde ich deswegen verhaftet?"

"Glaube ich kaum. Du warst ja bei den Dingern, die du früher gedreht hast, so schlau, dich immer im Hintergrund zu halten. Und du bist noch keine einundzwanzig."

"Und was ist, wenn ich Sie bitte, mich zu verhaften?"

Chris musterte Bernhard. Warum hatte er diesen Wunsch?

"Wieso sollten wir?"

"Es ist so, dass ich vor zwei Wochen auf der Arbeit zum ersten Mal seit einer Ewigkeit von meinem hochgeschätzten Patenonkel eine Mail bekomme habe. Fragt mich nicht, wie er an meine Adresse gekommen ist. Inzwischen bekomme ich von ihm pro Tag zwei bis drei Mails, die ich alle lösche. Aber er schreibt, dass er nicht versteht, warum ich den Kontakt zu ihm abgebrochen habe, und dass er mich für einer Aussprache besuchen will."

Jetzt wirkte er regelrecht verängstigt.

"Ich will ihn aber nicht sehen. Ich habe Angst, was dann passieren wird. Ich kriege ja schon Panik, wenn ich nur an ihn denke. Er hat mich damals manipuliert und mit mir gespielt. Ich will das nicht."

Das könnte glatt Adam sein. Nur dass ich nicht mitspiele.

"Warum bist du nicht schon vor zwei Wochen zu uns gekommen?"

Engin sagte keinen Ton und schaute nur zu. Chris gegenüber behauptete er immer, dass dieser auf seine Gegenüber sensibler reagieren würde, als er es jemals könnte. Chris hatte da seine eigene Theorie, die von einem Märchenerzähler handelte, der trotz großer Klappe insgeheim schrecklich schüchtern war. Aber dafür hatte er andere Qualitäten.

Und jetzt stand er schon wieder daneben und beobachtete. Und Chris kam sich so hilflos vor.

"Wie solltet ihr mir helfen? Ihr schafft es doch noch nicht mal, den Mord an meinen Eltern aufzuklären, und dann wollt ihr mir jetzt helfen? Vergesst es. Da muss ich alleine durch."

"Ich kann dich zu gut verstehen. Ich mach' dir jetzt ein Angebot. Als Privatmann und nicht als Bulle. Hier hast du meine Karte. Ich bin in der Woche immer zu erreichen und kann dann im Notfall auch schnell bei dir sein. Am Wochenende bin ich zwar auf meinem Handy immer erreichbar, aber weil meine Freundin weit weg wohnt, nicht so schnell zurück. Wenn irgendetwas mit Bechthold ist, dann ruf mich an. Ich deponiere einen Schlüssel und du kannst in meine Wohnung. Bis er dich da findet, haben wir einen Vorsprung."

Heiliger Boden dürfte selbst für Bechthold ein gutes Argument sein.

"Und wenn alle Stricke reißen, dann helfe ich dir beim Untertauchen. Wir haben inzwischen so viele Beweise gegen Bechthold, dass wir im Notfall auf dich verzichten können. Du bist zu jung, um zu sterben."

Chris fragte sich, auf was er sich da gerade einließ. Es war gefährlich, verdammt gefährlich, aber er wollte Bernhard nicht im Stich lassen.

"Aber wenn ihr so viele Beweise gegen ihn habt, warum greift ihr nicht jetzt schon zu?"

Es war nicht nur eine Frage von Bernhard, es war ein Vorwurf.

"Auch wenn Bechthold ein hohes Tier oder vielleicht sogar der Boss ist... Solange wir nur ihn hochgehen lassen, gibt es einen anderen, der ihn ersetzt. Wir wollen die gesamte Organisation. Einfach alle. Denn wenn wir die verhaften, dann hinterlassen sie eine große Lücke."

"Ja, und? Da stehen die Gauner doch bestimmt in den Startlöchern, um diese Lücke auszufüllen. Wo ist da der Unterschied?"

"Dass sich die Russen, Italiener, Chinesen oder wer auch immer erst mal um dieses Vakuum streiten werden. Besser gesagt werden sie sich erst mal zerfleischen, bis der Stärkste die Lücke schließt. Und dann geht alles wieder von vorne los."

"Aber wenn dann alles wieder von vorne los geht, warum macht ihr es überhaupt? Das ist doch sinnlos."

Das war eine Frage, die sich Chris auch schon oft gestellt hatte. Besonders in den Momenten, wo er das Gefühl hatte, gegen Windmühlen zu kämpfen und nie sein Ziel zu erreichen. Aber er hatte eine Antwort gefunden. Nicht wirklich befriedigend, aber es war wohl die Wahrheit.

"Manchmal glaube ich das auch. Aber dann denke ich wieder, dass sich die Gewaltspirale immer weiter drehen würde, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und dass wir bald in Chaos und Anarchie leben würden, wenn ich einfach nur daneben stehe und nichts tue. Und deswegen will ich dir helfen. Weil ich nicht will, dass man Unschuldige verarscht und in den Knast steckt. Wirst du mich anrufen?"

Chris griff hinter sich und seine Kaffeetasse. Der Kaffee war zwar nicht mehr heiß, aber so hatte er eine Beschäftigung und konnte es vermeiden, Bernhard anzusehen. Er wollte ihm nicht das Gefühl geben, unter Druck gesetzt zu werden.

Doch als er plötzlich stechenden Kopfschmerz verspürte, wurden all seine Pläne über Bord geworfen. Ein Unsterblicher war in der Nähe. Und Chris hatte die böse Vermutung, dass es sich um Bechthold handelte. Dieser durfte ihn aber nicht bei Bernhard sehen.

Auch wenn es eigentlich zu spät war... Er musste retten, was noch zu retten war.

Er stellte die Tasse ab und machte einen Schritt nach vorne.

"Komm, Engin, wir müssen los. Bernhard, du hast meine Karte. Benutze sie auch."

Bevor Engin noch groß reagieren konnte, hatte Chris ihn auch schon an der Schulter gepackt und schob ihn aus dem Zimmer. Sie waren gerade im Flur angekommen, als es auch schon klingelte.

Zu spät. Scheiße, verdammte.

"Gibt es hier einen Hinterausgang? Ich glaube nicht, dass du willst, dass deine Kumpels erfahren, dass du gute Verbindungen zur Polizei hast."

Doch Bernhard schüttelte nur den Kopf.

"Den gibt es nicht. Und zudem sind das nicht meine Kumpels. Ich wohne hier und teile mir mit denen Bad und Küche. Wenn einer von denen seinen Schlüssel vergessen haben sollte, ist das sein Problem. Sie sind mir scheißegal. Außerdem erwarte ich keinen Besuch, also brauch' ich unten gar nicht aufzumachen."

In Gedanken ging Chris alle Flüche durch, die er kannte. Als das nicht reichte, versuchte er es auf Englisch und Französisch. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er bezweifelte, dass Bechthold sich von einer verschlossenen Haustüre aufhalten lassen würde. Eine wertvolle Minute verrann, während Chris eine Lösung suchte. Bevor er eine gefunden hatte, klopfte es an der Wohnungstür.

Jetzt bin ich verloren. Wie komme ich da nur raus?

"Tja, dein Besuch erweist sich als sehr hartnäckig. Du solltest die Tür aufmachen, bevor er versucht, sie mit Gewalt aufzubrechen. Dann machen wir uns auch gleichzeitig auf den Weg."

Es hörte sich in Chris' Ohren so falsch an. Die anderen mussten doch merken, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Aber weder Engin noch Bernhard schien etwas aufzufallen.

Als der hartnäckige Besucher zum zweiten Mal klopfte, öffnete Bernhard die Tür. Chris wollte sich eigentlich einfach seitlich durchdrängeln, aber es ging nicht. Bechthold blockierte den Ausgang und drängte sich sofort in die Wohnung, ohne Bernhard eine Möglichkeit zu geben, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

"Hallo, mein Junge! Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Ich habe dich sehr vermisst."

Obwohl Bechthold den Eindruck machte, auf Bernhard fixiert zu sein, wusste Chris es besser.

"Ich dich aber nicht. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Bitte geh."

"Warum willst du denn nichts mehr mit mir zu tun haben? Ich habe es damals nicht verstanden, habe es auf deine Pubertät geschoben und dass du vielleicht die falschen Freunde hattest. Deswegen möchte ich dich bitten, mir alles zu erklären."

Wenn Chris es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er Bechthold wirklich für den rechtschaffenen Mann gehalten, den er gerade spielte. Auch Bernhard glaubte kein Wort.

"Vergiss es. Wir werden nicht reden. Ich lass mich nicht von dir einwickeln. Und jetzt geh."

Sie standen immer noch im Flur. Chris fühlte sich der Situation ausgeliefert. Wenn er jetzt durch die Tür verschwinden würde, dann würde er Bernhard im Stich lassen. Wenn er aber bliebe und sich einmischte, dann würde er nicht nur sich selbst gefährden, sondern bei Bechthold den Eindruck erwecken, dass der Jung wichtig für ihn war. Die Folgen wollte er sich nicht ausmalen.

Doch jetzt mischte sich Engin ein.

"Ich möchte mich nicht in Ihre Auseinandersetzung einmischen, aber wir müssen jetzt los. Herr Neuendorf, ich denke, dass Sie in den nächsten Tagen einen positiven Bescheid von uns erhalten werden. Und um der Polizei Arbeit zu ersparen, nehmen wir Ihren unerwünschten Besuch gleich mit."

"Sie halten sich gefälligst aus unseren Angelegenheiten raus. Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Patenkind. Was machen Sie hier? Ich habe Sie doch schon mal gesehen!"

Und Chris fragte sich, warum Engin im falschen Moment mutig war und so etwas sagen musste. Denn ihm schwante sehr Übles.

"Wir sind Außendienstmitarbeiter des Sozialamtes und bearbeiten einen Antrag von Herrn Neuendorf. Wenn Sie so freundlich wären, uns zu begleiten."

Seit wann tragen Sozialarbeiter Schulterhalfter? Halt die Klappe, bevor du uns endgültig ruinierst!

Jetzt schenkte Bechthold Engin seine ungeteilte Aufmerksamkeit und musterte ihn von oben bis unten.

"So, so, mein Patenkind hat beim Sozialamt einen Antrag gestellt. So weit hat er es also gebracht. Er schnorrt vom Staat Geld. Wenn er noch bei mir wohnen würde, dann gäbe es dieses Problem nicht. Das sollten Sie in Ihren Akten vermerken."

Engin war wohl entschlossen, diese Nummer durchzuziehen, er nahm aus seiner Jacke seinen kleinen Notizblock und einen Stift.

"Können Sie uns bitte Ihren Personalausweis zeigen, Herr... Entschuldigung, aber Sie haben uns Ihren Namen noch nicht genannt. Wir werden die Daten aufnehmen und prüfen, ob Herr Neuendorf tatsächlich Ihnen gegenüber anspruchsberechtigt ist."

"Bechthold, Georg Bechthold. Wir sind nicht miteinander verwandt, aber er ist mein Patenkind. Wenn Sie diesen Starrkopf auch noch bewegen können, mir zuzuhören, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden. Aber bevor Sie Ihre Kollegen von der Polizei bemühen, gehe ich selber. Mich wundert nur, dass Ihr werter Partner nichts zu sagen hat. Wir haben uns doch damals auf der Vernissage getroffen, da war er doch der Wortführer."

"Ich habe ab und zu Migräne und kurz bevor Sie eintrafen, fing es wieder an. Dann ist mir nicht nach Reden. Wenn ich nachher eine Tablette genommen habe, dann bin ich wieder fit. Aber mein Kollege ist mindestens genauso kompetent wie ich es bin."

Dann lass uns spielen. Irgendwie muss ich uns aus dieser Situation retten. Schließlich habe ich das Spiel von einem Meister der Täuschung gelernt.

Engin hatte die Daten von Bechtholds Personalausweis abgeschrieben und reichte ihn wieder seinem Besitzer. Bechthold nahm ihn, steckte ihn aber nicht in seine Ausweismappe, sondern spielte damit. Währenddessen musterte er Chris und blickte ihm direkt in die Augen.

Dieser wusste, was von ihm erwartet wurde. Er schaute recht schnell zur Seite und massierte seine Stirn.

Bechthold ging auf das Spiel ein.

"Haben Sie oft diese Schmerzen?"

"Eigentlich sehr selten. Ich habe das Gefühl, dass Messer in meinen Kopf stechen und dann wird es zu einem dumpfen Dröhnen. Wenn ich so darüber nachdenke, zum letzten Mal hatte ich diese Schmerzen vor einiger Zeit gehabt. Das war auf dieser Vernissage! Zufälle gibt es."

Chris ließ seine Hand sinken und schaute Bechthold verblüfft an.

Doch dieser ließ nur den Hauch eines Lächelns sehen, drehte sich um und verließ kommentarlos die Wohnung.

Ob er mir den unwissenden Unsterblichen abnimmt?

Es war als Ablenkungsmanöver gedacht, damit Bechthold sich nicht auf Bernbard konzentrierte. Auch wenn er damit einen Tanz auf dem Drahtseil riskierte. Sollte er zuviel Interesse an Bernhard zeigen, würde er ihn in Gefahr bringen.

Eigentlich gab es noch etwas, was er unbedingt loswerden musste, bevor er explodierte.

Der Drang einfach loszubrüllen war groß. Aber Chris beherrschte sich. Schließlich war Bernhard in der Nähe und es war das erste Mal, dass sich Engin so einen Fehler erlaubt hatte. Und Chris selber hatte sich auch nicht durch besondere Schlagfertigkeit hervorgetan.

Doch Bernhard stand immer noch an der Tür und starrte auf einen imaginären Punkt an der Wand. Er durfte auf keinen Fall mitbekommen, dass da gerade etwas schief gelaufen war.

Deswegen schluckte Chris alles runter. Fürs erste jedenfalls.

"Ph, sag mir, dass das nicht wahr ist. Hatte Bechthold in seinen Mails geschrieben, wann er vorbeikommen wollte?"

Damit wandte Chris sich an Bernhard, der noch unter Schock zu stehen schien.

"Nein, das hat er nicht. Wenn er sich angekündigt hätte, dann wäre ich bestimmt nicht hier gewesen. Ich habe keinen Besuch erwartet. Wie denn auch, wenn ich noch nicht mal 'ne Freundin habe. Woher wusste Georg, dass ich jetzt zu Hause bin? Das ist ziemlich unheimlich."

"Bei seiner Organisation ist das kein Wunder. Der hat bestimmt einen seiner Handlanger auf dich angesetzt. Wir können nicht all seine Leute beobachten."

"Das stimmt. Und wie geht es weiter?"

Das war selbst für Chris eine sehr gute Frage.

"Das hängt von einigen Punkten ab. Zum einem, ob du wirklich einen Antrag beim Sozialamt gestellt hast."

Bernhard errötete und nickte verlegen.

"Ich drehe jeden Cent dreimal um und trotzdem komme ich vorne und hinten nicht klar. Dabei hab ich noch nicht mal ein Handy. Wenn das nicht wäre, dann hätt' ich doch nie bei Benny mitgemacht. Aber selbst mit dem Geld reichte es nicht wirklich. Mein Wagen braucht demnächst eine neue Kupplung und ich habe keine Ahnung, wovon ich's bezahlen soll."

Er sah sehr deprimiert aus.

"Ein Arbeitskollege, der mitbekommen hat, dass meine Eltern tot sind und ich keine andere Unterstützung habe, meinte, dass ich mit meinem Ausbildungsgehalt ein Anrecht auf Mietbeihilfe habe und auch noch andere Leistungen vom Staat in Anspruch nehmen kann. Vor zwei Wochen war ich da und seitdem warte ich auf Antwort. Ihr werdet es nicht glauben, aber da ich beim Bund übers Wochenende nie nach Hause gefahren bin, sondern immer Stallwache gemacht habe, konnte ich etwas Geld sparen. Aber davon ist nichts mehr übrig. Denn die Lichtmaschine von meinem Wagen war letzten Monat kaputt. Und wenn das Sozialamt nicht bald in die Gänge kommt, werde ich wohl die Lehre abbrechen müssen und jobben gehen."

In Chris kochte es. Wieso wurde dieser Junge bloß so ungerecht behandelt? Dabei wollte er doch ehrlich leben.

"Das wirst du nicht!"

"Wieso nicht?"

"Weil Engin und ich jetzt zum Sozialamt fahren und uns die Verantwortlichen vorknöpfen werden. Ich kann dir keinen Geldsegen versprechen, aber ich werde dafür sorgen, dass dein Antrag mit größter Priorität behandelt wird. Irgendwie muss es sich doch auszahlen, dass du ehrlich sein willst."

"Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen?"

"Weißt du, an irgendjemand muss ich doch den Frust auslassen, dass Bechthold vor mir stand, ich aber nichts unternehmen konnte. Und so kannst du allen gegenüber behaupten, dass wir nur aus diesem Grunde hier gewesen sind. Du weißt nicht, dass wir von der Polizei sind. Egal, wer dich fragt. Hast du das kapiert?"

Bernhard nickte zustimmend.

"Gut, dann machen wir uns auf dem Weg. Die werden uns kennen lernen. Und um die Sache mit den DVDs kümmern wir uns auch."

Während der letzten Worte fühlte Chris, wie seine Kopfschmerzen verschwanden. Bechthold war also außer Reichweite. Und Chris wusste nicht, ob er es als gutes oder schlechtes Zeichen deuten sollte.

Aber falls er einige seiner Handlanger dagelassen hatte, dann würden die feststellen, dass sie wirklich zum Sozialamt fuhren. Aber ob das reichte, war die andere Frage.

Das einzig beruhigende war, dass ihr Dienstwagen auf die Stadt Frankfurt zugelassen war. Wenn Bechthold nicht noch weitere Quellen hatte, würde er anhand ihres Kennzeichens nichts erfahren.

Sie verabschiedeten sich von Bernhard und machten sich dann auf den Weg.