Diskussionen im Auto

Als sie wieder im Auto waren, konnte Chris sich nicht mehr beherrschen und sagte Engin seine Meinung.

"Sach mal Engin, was hast du dir bei dem Scheiß eigentlich gedacht? Ich hatte zwar einen Blackout, aber das hatte wenigstens den Vorteil, dass ich meine Klappe gehalten habe."

"Was hätten wir denn sagen sollen? Etwa die Wahrheit?"

Ganz ruhig bleiben. Nicht aufregen.

Wenn er selbst nicht versagt hätte, dann wären sie jetzt nicht in dieser Situation. Chris war hauptsächlich auf sich selbst wütend, weniger auf Engin. Und doch musste seinem Partner klar machen, dass er einen grundlegenden Fehler gemacht hatte.

Nachdem er im Geiste bis zehn gezählt hatte, redete Chris weiter. Er sprach leise und sehr ruhig.

"Etwas, das der Wahrheit so nahe kommt wie irgend möglich. Mensch, Bechthold ist ein alter Hase. Denkst du, der ist so blind und erkennt nicht, dass wir Schulterhalfter tragen? Es hätte doch gereicht, ihm zu erzählen, dass wir vom Zoll sind und wegen Produktpiraterie Nachforschungen über einen Klassenkameraden anstellen. Aber mir ist es ja auch erst eingefallen, als du schon dran warst. Schwamm drüber."

Damit startete Chris den Wagen und fuhr los. Musik hatte er keine angestellt und nach einem Gespräch war ihm nicht zumute.

Nach einigen Minuten unterbrach Engin das düstere Schweigen.

"Chris, fahr zur Seite und halt an!"

Dieser schaute in das ungewöhnlich ernste Gesicht seines Beifahrers und befolgte dessen Wunsch.

Kurz darauf standen sie und Chris drehte sich zu Engin.

"Verdammt noch mal, Chris. Du machst mich mit deinem Schweigen wahnsinnig! Das passt nicht zu dir. Es macht mich krank. Ich weiß, dass ich eben Scheiße gebaut habe, also hör bitte auf, lass dein Gewitter über mich kommen, und dann ist gut."

"Wieso zum Geier sollte ich dich anbrüllen, wenn ich selber Scheiße gebaut habe? Ich habe durch mein Verhalten Bernhard mehr gefährdet, als du ahnen kannst."

Scheiße! Das war zuviel!

"Ach ja? Und warum sagst du mir nicht, was los ist? Verdammt! Ich bin dein Partner! Wenn du mir nicht vertraust und erzählst, was los ist, wie sollen wir denn noch vernünftig weiterarbeiten?"

Bevor Chris antworten konnte, stieg Engin aus und lehnte sich gegen den Wagen.

Chris folgte ihm, froh, dass es nicht regnete. Er lehnte sich auch an den Wagen und versuchte die richtigen Worte zu finden. Doch Engin kam ihm zuvor.

"Denkst du, mir ist nicht aufgefallen, dass du nahe dran warst, in Panik auszubrechen, bevor Bechthold überhaupt in der Tür stand? Und dann hast du ihn wie eine verhuschte Haselmaus angesehen, die darauf wartete, dass die Eule zuschlagen würde. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Ausdruck irgendwann mal auf dich zutreffen würde. Du bist sonst der Jäger! Und jetzt will ich eine Erklärung hören!"

Die Stille war trotz der vorbeifahrenden Autos da. Greifbar und bedrohlich.

Konnte er es Engin anvertrauen? Oder gefährdete er ihn mit dem Wissen? Aber wenn selbst Adam einem Sterblichen wie Joe vertraute, dann konnte er es doch Engin erzählen. Oder doch nicht?

"Es ist etwas Persönliches zwischen Bechthold und mir."

"Bitte? Ihr kennt euch doch überhaupt nicht."

Es war nicht leicht für Chris. Schließlich hatte er in den letzten Monaten niemanden gehabt, dem er außer Engin wirklich vertrauen konnte. Und er wollte Engin nicht verlieren. Trotzdem fragte sich Chris, ob es eine gute Idee war, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Es würde ihre Beziehung in einer Art und Weise verändern, die er nicht einschätzen konnte. Aber er konnte ja einige kleine Details auslassen. Und solange Engin nicht nachhakte, war's halt die Wahrheit.

"Stimmt. Du weißt, dass ich ein Waisenkind bin und dass ich von Adoptiveltern großgezogen worden bin."

"Ja, du hast es mir erzählt. Aber was hat es mit…"

"Wenn du mich ausreden lässt, dann verstehst du die Zusammenhänge. Naja, verstehen ist zuviel gesagt, ich kapier's ja selbst nicht ganz."

Chris fuhr mit den Fingern durch seine Haare.

"Jedenfalls hat es mich nie losgelassen und ich habe immer wieder versucht, etwas über meine wahre Herkunft zu erfahren. Vor etwas mehr als einem Jahr bekam ich dann die ersten Informationen. Frag' mich bitte nicht, was es ist, ich bin einfach noch nicht so weit, um das weiterzuerzählen. Ich hab' es noch nicht verarbeitet. Aber hab's mir soweit zusammenreimen können, dass Bechthold versuchen wird, mich umzubringen, wenn er etwas über meine Herkunft erfährt. Und ich habe das üble Gefühl, dass allein mein Aussehen ihn schon auf die Fährte gebracht hat."

Dabei wagte er nicht, Engin ins Gesicht zu sehen. Er hatte Angst, dass sein Partner ihm die Story nicht abnehmen würde, schließlich war das was er erzählte sehr wirr und nicht wirklich informativ. Seine größte sorge war, dass Engin deswegen die Zusammenarbeit kündigen würde. Engins Kommentar schien Chris' Befürchtungen zu bestätigen. Er schien ziemlich verärgert.

"Und warum erzählst du mir das erst jetzt? Wie lange quälst du dich schon damit rum? Weißt du, dass du eigentlich gar nicht mehr an dem Fall recherchieren dürftest?"

Engin hatte sich vor Chris aufgebaut und dieser hatte das dumpfe Gefühl, von ihm gepackt und durchgeschüttelt zu werden, wenn er etwas Falsches sagte.

"Wir sind Schreibtischtäter, Engin! Ich weiß normalerweise ganz genau, wo Bechthold ist, und ich kann ihm aus dem Weg gehen. Aber was meinst du, wie du eben reagiert hättest, wenn du es gewusst hättest? Bestimmt nicht anders als ich. Es reicht doch schon, wenn einer von uns einen Blackout hatte. Und außerdem befürchte ich, dass Bechthold jeden umbringen wird, der über meine Herkunft Bescheid weiß. Ich wollte dich einfach nicht gefährden."

"Und was weiß ich jetzt über dich? Gar nichts! Wieso sollte er mich deswegen umbringen?"

Engin hatte doch tatsächlich Chris am Kragen gepackt und stieß ihn gegen den Wagen.

Doch der drehte den Spieß um, riss sich los und presste Engin gegen das Auto.

"Bechthold ist ein Psychopath. Ich weiß inzwischen Sachen über ihn, die du gar nicht wissen willst. Und ich werde es dir auch nicht erzählen, weil es reicht, dass einer von uns Albträume hat. Und weil er verrückt ist, würde er alles und jeden umbringen. Alleine nur um mich zu verletzen. Eigentlich sollte ich meine Koffer packen, mir falsche Papiere zulegen und sämtliche Brücken hinter mir abbrechen. Freunde sagen mir, dass Bora Bora eine sehr schöne Insel ist. Aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht wirklich warum, aber ich bleibe hier. Aber es ist auch meine Entscheidung, dass ich niemanden gefährden will. Hast du das kapiert?"

Chris brüllte Engin an. Er schrie all seinen Frust heraus und danach blieb nur noch eine Leere in ihm zurück. Er hatte das Gefühl, ausgelaugt zu sein und keine Energie mehr zu haben. Chris ließ Engin los, lehnt sich wieder ans Auto, schloss die Augen und wartete auf eine Reaktion von seinem Partner. Und Chris hatte nicht die geringste Ahnung, wie diese ausfallen würde.

Engin schwieg. Doch es war nicht mehr die beängstigende Stille wie noch vor wenigen Minuten. Er war die Ruhe nach einem Gewitter, das die Luft gereinigt hatte.

Aber ob Engin auch so dachte und wie es jetzt weitergehen würde, das wusste Chris nicht. Das hing ganz von Engin ab.

Doch dieser überraschte ihn.

"Ist das der Grund, warum du dich von Eddie getrennt hast? Um ihn nicht zu gefährden? Und was ist mit Amanda? Gefährdest du sie nicht auch?"

Wieso musste Engin nur so intelligent sein und sich sofort die Schwachpunkte herauspicken?

"Nein, nicht wirklich. Vielleicht hat mich Bechthold dazu gebracht, meine Beziehung mit Eddie eher zu überdenken, als ich es sonst getan hätte, aber er ist nicht der Grund gewesen... Vielleicht ein Auslöser. Und Amanda… Amanda lässt sich selbst von Bechthold nicht aufhalten, wenn sie etwas haben will. Und sie wollte mich. Das war noch ein Grund, um über mein Verhältnis zu Eddie nachzudenken. Ich habe Amanda gesagt, dass sie meinetwegen vielleicht Ärger mit Bechthold bekommen könnte, hat aber nur mit den Achseln gezuckt und gemeint, dass sie mir beim Untertauchen helfen könnte, wenn ich mich dazu entschließen würde."

Bleibe so nah wie möglich bei der Wahrheit und niemand merkt die Lüge, die dahinter steckt.

"Und wie soll es jetzt weiter gehen, Chris?"

Er öffnete die Augen und sah Engin an.

"Wir fahren zum Sozialamt und machen die Leute rund. Bernhard soll so schnell wie möglich seine Unterstützung bekommen. Dann muss ich mich beeilen, denn um fünf ist der Termin beim Staatsanwalt."

Das war keine gute Antwort, denn Engin sah ihn böse an.

"Das meine ich nicht. Und das weißt du ganz genau. Also versuch' nicht, mich hinzuhalten."

"Wenn es nach mir ginge, dann würde sich nichts ändern. Ich will Bechthold in den Knast bringen. Nicht nur, damit ich vor ihm sicher bin. Denn dann hätten wir ihn schon vor einem halben Jahr verhaften können. Ich will alle haben. Ich habe mehr als genug Gründe dafür. Aber ich habe nicht vor, deswegen irgendwelche Beweise zu fälschen oder irgendetwas anderes Illegales zu machen, denn ich begebe mich nicht auf sein Niveau. Kannst du damit leben?"

Als er es aussprach, wusste Chris, dass es die Wahrheit war. Ihm lag nichts daran, Bechthold herauszufordern, die Gefahr, selber den Kopf zu verlieren war viel zu groß. Doch nach allem, was er über Bechthold erfahren hatte, konnte er es auch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, diesen Mann frei herumlaufen zu lassen.

Komm, Engin, akzeptier es.

"Erzählst du mir irgendwann, warum Bechthold hinter dir her ist?"

Der Stein, der Chris vom Herzen fiel, war Tonnen schwer.

"Vielleicht. Wenn ich es jemals so weit verarbeitet haben sollte. Tut mir leid, aber da kann ich dir nichts versprechen."

"Dafür musst du mir etwas anderes versprechen."

"Was denn?"

"Sei ehrlich zu mir. Und versuch nicht, dich zu verstellen, um mich zu schonen. Ich mag das nicht."

"Wer mag das schon? Gut, ich verspreche es dir."

Und im Geiste kreuzte Chris seine Finger.

Einige Minuten später waren sie auf dem Weg zum Sozialamt. Doch Chris hatte keinen Grund, sich aufzuregen, da für Bernhard schon alles in die Wege geleitet war und er in den nächsten Tagen einen positiven Bescheid erhalten würde.

Wenigstens konnte Chris seinen Frust bei Schröder los werden. So wie Schröder bei ihm reingeplatzt war und rumbrüllte, so machte Chris es jetzt bei seinem Kollegen. Er machte ihn rund und empfahl ihm, demnächst gründlicher zu recherchieren und sich einmal bei Bernhards Klassenkameraden umzuschauen.

Auch der Termin beim Staatsanwalt war schnell abgehakt.

Die nächsten Tage verliefen recht ereignislos. Doch das, was Chris befürchtet hatte, war eingetreten.

Engin verhielt sich ihm gegenüber anders.

Es war nichts Offensichtliches. Oberflächlich betrachtet war ihr Verhältnis genauso ungezwungen und kumpelhaft wie vor der Begegnung mit Bechthold.

Aber Chris ertappte Engin immer öfter dabei, dass dieser ihn anstarrte, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Und er hatte das Gefühl, dass Engin seine Arbeit viel kritischer hinterfragte als bisher.