Eine Leidenschaft für Bücher
Im Büro wartete er erst einmal ab und lotete Engins Stimmung aus. Denn wenn er mies drauf war, dann konnte er seine Idee erst mal vergessen.
Engin war an diesem Morgen blendender Laune. Er schwärmte von einer schönen Blonden, die er beim Schwimmen kennen gelernt hatte.
So sehr es Chris auch reizte, aus diplomatischen Gründen hielt er seine Klappe und gab keine sarkastischen Kommentare ab.
Irgendwann fiel es auch seinem Partner auf.
"Chris? Alles in Ordnung mit dir? Du bist so ruhig und sagst zu allem nur ja und amen."
"Ja, aber ich habe gleich ein Attentat auf dich vor und da ist es wohl besser, dass du mich vorher nicht mit deinem Kugelschreiber bewirfst."
"Ich werfe nicht mit Kugelschreibern!"
"Okay, dann halt mit Bleistiften und Textmarkern. Wo ist da der Unterschied?"
"Versuch mal, die Flecken von Kugelschreibern in deinen Klamotten auszuwaschen, dann weißt du, wo der Unterschied ist. Und jetzt schieß los. Was willst du?"
Engin saß ganz entspannt in seinem Stuhl und schlürfte Kaffee.
"Ich habe Mike angeboten, über die Feiertage seinen Dienst zu übernehmen."
Damit hatte Engin nicht gerechnet. Er verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Als er sich erholt hatte, sah er Chris forschend an.
"Das ist doch nicht dein Ernst? Du willst Bechthold observieren?"
"Doch, ist es. Was spricht dagegen?"
Statt zu antworten, drehte sich Engin zu seinem Computer und gab einige Daten ein.
Chris ahnte Schreckliches, als einen Moment später ein Post-it auf seinem Bildschirm erschien.
Der Computerexperte hatte es sich schon lange abgewöhnt, Engin abzumahnen. Spätestens, seitdem Engin seinen eigenen Computer mitgebracht hatte, der internetfähig war und an dem er die meiste Zeit arbeitete. Und da Chris einen externen Rechner hatte, um den ihn alle beneideten, hatten sie die beiden Computer miteinander vernetzt.
Der Link, den Engin ihm geschickt hatte, zeigte ganz genau, was dieser von seinem Plan hielt.
Es war eine Google-Suche mit dem Begriff ‚Chatraum für Selbstmörder'.
"Was soll ich mit diesem Link?"
"Gehe in die Chatrooms, quatsche mit den Leuten und wenn du dann immer noch Selbstmord begehen willst, dann such dir eine Methode, bei der du mich außen vor lässt. Du bist wahnsinnig, wenn du das machst. Du schlotterst doch vor Angst, wenn du Bechthold nur siehst."
"So schlimm ist es auch nicht."
"Bitte? Erinnere dich, wie du bei Bernhard reagiert hast. Was war das denn? Ich weiß zwar nicht, welche Gründe wirklich dahinterstecken, da du mir ja nichts Genaues erzählst, aber ich mache da nicht mit."
Dieses Mal war es Engin, der aufstand und unruhig auf und ab ging.
"Es tut mir leid, aber zum einen ist es sicherer, wenn du nicht die ganze Wahrheit erfährst, und zum anderen würdest du sie mir eh nicht glauben. Ich habe auch einige Zeit gebraucht, um es zu akzeptieren."
"Erzähl es mir und dann wirst du es wissen."
"Ich würde es gerne, Engin, aber so ist es besser. Aber zurück zum Thema. Ich bin es satt, Angst zu haben, wenn ich nur an ein Treffen mit Bechthold denke. Da er ein guter Christ ist und jeden Sonntag in die Kirche geht, wird er auch Heiligabend zur Messe gehen. Wenn wir dann auch in die Kirche gehen, dann kann ich ihn mir in Ruhe anschauen und meine Angst bekämpfen. Ich bin nicht der Typ, um darauf zu warten, dass Bechthold mir eine Falle stellt."
Engin setzte sich wieder und musterte Chris.
"Wenn ich nur wüsste, worum es wirklich geht. Ich habe doch gar keine Ahnung, um welchen Einsatz ihr da spielt. Und wie hast du dir das mit den anderen Tagen vorgestellt?"
Was kann ich ihm anvertrauen?
Die Entscheidung fiel Chris nicht leicht. Aber wenn es einen Menschen gab, dem er vertraute, so war es Engin. Und irgendwie hatte er damit gerechnet, dass diese Fragen kamen.
"Der Einsatz ist mein Leben, oder auch Bechtholds. Es hört sich blöd an, aber auf uns trifft der Spruch ‚Es kann nur einen geben' zu. Vorausgesetzt er erwischt mich, bevor ich ihn in den Knast schicke. Aber er ist nicht der Einzige, früher oder später werden andere aus unserer Familie auftauchen, die meinen Kopf wollen. Und deswegen sollte ich mich ganz schnell damit abfinden, gejagt zu werden. Falls ich nicht selbst zum Jäger werde. Und was den Rest der Feiertage angeht..."
Chris zuckte mit den Achseln.
"Wenn es so läuft wie letztes Jahr, dann wird er an den beiden Weihnachtsfeiertagen Hof halten und wir haben mehr als genug damit zu tun, seinen Besuch zu fotografieren und zu erfassen."
"Und das soll ich dir glauben? Das mit deiner Familie? Tisch anderen dieses Märchen auf, aber nicht mir."
"Ich habe dir doch gesagt, dass du es mir nicht glauben wirst. Aber ich lüge dich nicht an. Ehrenwort."
Man konnte Engin ansehen, dass er mit sich rang, ob er ihm glauben sollte oder nicht.
Dann schien er sich zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
"Es tut mir leid, Chris, aber ich glaube dir nicht. Wir sind seit über zwei Jahren Partner, aber wie du dich in der letzten Zeit verändert hast…Alleine der Zwischenfall bei Bernhard… Es tut mir leid, ich vertraue dir nicht mehr so sehr, dass ich mit dir auf die Strasse gehen könnte."
Das tat weh. Dabei war Engin der einzige Mensch, zu dem Chris rückhaltloses Vertrauen hatte. Er hatte ihm mehr über sich erzählt als er irgendeinem anderen. Doch Engin sah es anders.
Erst als der Bleistift zwischen seinen Fingern brach, merkte Chris, dass er damit gespielt hatte. Die beiden Stücke warf er zur Seite und blickte dabei Engin an. Dieser sah ihn an, als ob er eine Antwort erwarten würde. Doch was sollte er ihm sagen? Chris stand auf und ging zum Fenster.
Nur keine Schwäche zeigen, denn das macht dich angreifbar. Ausgerechnet Engin...
"Wenn du so denkst… Irgendwie kann ich dich verstehen. Wenn du mir diese Geschichte auftischen würdest, dann hätte ich dir wahrscheinlich auch einen Korb gegeben. Schade, dass es so endet. Können wir den Fall noch als Bürohengste zusammen abschließen oder wie hast du dir das gedacht?"
Von Engin kam keine Antwort.
Chris fragte sich, ob er damals nicht besser auf Amandas Rat gehört hätte, nach seinem ersten Wiedererwachen alle Brücken abzubrechen und ein neues Leben zu beginnen. Es hätte zwar geschmerzt, aber es wäre bei weitem nicht so schmerzhaft gewesen wie dieser Tod auf Raten, den er jetzt erlebte.
Und Engin schwieg noch immer.
Irgendwann hielt Chris diese Stille nicht mehr aus und drehte sich zu Engin. Der saß immer noch an seinem Schreibtisch, doch seine Augen folgten jeder seiner Bewegungen.
"Und? Ist es so schwer, sich zu entscheiden? Mir macht es nichts aus, wenn ich die letzten Wochen alleine im Büro arbeiten werde. Danach werde ich den Dienst quittieren. Mich hält dann nichts mehr."
"Du wirst dann nach Paris gehen?"
Warum interessiert das Engin?
"Das ist doch jetzt egal. Ich will wissen, wie du dich entscheidest."
"Und ich frage mich, warum du so schnell aufgibst. Sorry, aber irgendwie habe ich in der letzten Zeit den Eindruck bekommen, dass du mich los werden willst. Dass wir schon seit einigen Monaten nichts mehr privat unternehmen, habe ich inzwischen akzeptiert. Aber auch beruflich schottest du dich immer mehr ab, deine Erklärungen, dass du irgendwie mit Bechthold verwandt sein sollst, empfinde ich als schlechten Witz. Denn dass der echte Georg Bechthold wahrscheinlich als Kleinkind gestorben ist, weißt du genau so gut wie ich. Also? Jetzt schuldest du mir eine Erklärung!"
Verdammt, Engin.
Was konnte er ihm sagen, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren? Aber egal, was Engin dachte, er wollte ihn nicht los werden.
Alles nur das nicht.
Dass er unruhig auf und ab lief, bemerkte er erst, als Engins Räuspern ihn wieder zurückbrachte.
"Es stimmt nicht. Ich will dich nicht los werden. Wenn es nicht so schwer wäre, alles zu erklären."
Chris blieb stehen und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
"Denn wie soll ich etwas erklären, das ich noch lange nicht verstanden habe? Gut, die Erklärung, dass zwischen Bechthold und mir eine Verwandtschaft besteht, stimmt nicht ganz, aber es kommt dem, was es vielleicht wirklich ist, am nächsten. Ach, verdammt, ich rede Schwachsinn."
Chris ging zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er Engin klar machen musste.
"Ich versuche es anders. Wenn du derjenige wärst, der mir so etwas Unlogisches erzählt hätte und der sich so verhält, wie ich es gerade tue, dann hätte ich auch das Vertrauen verloren. Nur leider weiß ich nicht, wie ich es dir anders verklickern soll. Und dank Esser habe ich am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, mit einem Partner zu arbeiten, dem man nicht vertraut. Deswegen werde ich deine Entscheidung akzeptieren, wenn du mir sagst, dass du auf dieser Basis nicht mehr mit mir arbeiten kannst. Doch ohne dich kann und will ich diesen Job nicht mehr machen."
Engin stand auf, beugte sich über seinen Schreibtisch und stützte sich darauf ab.
"Verdammt, Chris! Seit wann denkst du soviel nach? Sag mir doch in zwei einfachen Sätzen, was du willst."
Auch Chris stand auf, beugte sich vor und imitierte damit Engins Haltung. So standen sie dort, wie Gegner.
"Ich will, dass du mir vertraust. Und ich will mit dir das Ding durchziehen. Und ich will Weihnachten Bechthold gegenübertreten, damit ich wieder in den Spiegel schauen kann. Denn es reicht mir, die Haselmaus zu sein. Endgültig."
"Warum sagst du das denn nicht gleich?"
Mit einem Grinsen ließ sich Engin in seinen Stuhl zurückfallen.
"Wie hast du dir für Weihnachten die Schichteinteilung gedacht? Nur damit ich was planen kann."
Chris verstand jetzt gar nichts mehr. Woher kam der plötzliche Wandel?
"Bitte? Seit ihr jetzt alle verrückt geworden? Verdammt, wie soll ich das verstehen?"
"Wenn du mich nicht loswerden willst, dann werden wir das Ganze gemeinsam durchstehen. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen. Aber..."
Engin machte eine Pause und sah Chris herausfordernd an.
"Du willst mich also erpressen. Oder wie soll ich dein Schweigen deuten?"
Das Grinsen auf Engins Gesicht wurde noch breiter und Chris ahnte Schreckliches.
"Erpressen. Das ist aber ein sehr brutales Wort. Nein, aber ich brauche jemand, der für meine Geburtstagsfete nächste Woche das Buffet zaubert. Und da dachte ich doch direkt an dich."
Das war mal wieder typisch Engin. Aber Chris sollte es recht sein.
"Du bist verfressen. Wie viele Gänge soll es denn geben?"
"Kann ich das als ja werten?"
"Habe ich eine andere Wahl?"
"Wenn du mich Weihnachten dabei haben willst..."
Resigniert setzte sich Chris wieder hin. Engin hatte ihn reingelegt. Er ob er wirklich nur geblufft hatte, konnte Chris nicht beurteilen. Aber dafür war ihr Gespräch eigentlich zu ernst gewesen.
Was habe ich mir da wieder eingebrockt?
"Du bist ein Mistkerl. Und ja, ich werde für dich kochen. Wer hat dir bloß diese Hinterlist beigebracht?"
"Das war keine Hinterlist. Ich vertraue dir nicht mehr so wie noch vor einigen Monaten. Trotz allem bist du aber von all meinen Kollegen immer noch derjenige, dem ich am ehesten mein Leben anvertrauen würde. Doch jetzt höre ich in meinem Hinterkopf eine kleine Stimme, die mir rät, hin und wieder meine Augen auf zu machen und dir nicht blind hinterher zu laufen. Ich musste nur wissen, wo du stehst."
Beiläufig nahm Engin eine Akte von seinem Schreibtisch und fing an, darin zu blättern.
"Ich habe zwar nicht alles verstanden, begreife aber auch, dass es dir nicht viel anders geht. Und ich verstehe deine Motivation. Nur deswegen kann ich mit dir weiterarbeiten. Und das mit dem Kochen… Ich will dich einfach endlich wieder privat treffen und bisher habe ich noch niemanden zu meiner Geburtstagsfeier eingeladen. Und da ich in der Woche feiern will, kannst du mit einem recht kleinen Rahmen rechnen."
"Wenn du mit mir alleine im Kerzenlicht speisen willst, dann kriegst du Ärger!"
"Nee, lass mal", winkte Engin entrüstet ab, konnte aber ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. "So gern habe ich dich nun auch nicht. Was ist jetzt, sagst du ja?"
"So lieb wie du mich angrinst... Da kann ich doch nicht nein sagen. Ich bestimme das Menü, gehe einkaufen und koche und du bezahlst alles?"
"Das hört sich richtig gut an. Vorausgesetz, du planst nicht, mich mit den Einkäufen zu ruinieren, weil du Kaviar servieren willst."
"Tja, da bleibt dir nichts anders übrig, als mir zu vertrauen. Denn das Essen wird für dich eine Überraschung werden."
Dass dieses Mal ein Kugelschreiber geflogen kam, war für Chris keine Überraschung. Er fing ihn aber in der Luft, bevor er irgendwelchen Schaden anrichten konnte, und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch.
"Ts, wie war das mit ‚Ich werfe nicht mit Kugelschreibern!'? Aber hör auf, in deinen Akten zu blättern, wir haben heute noch einen Außentermin und müssen so langsam los."
"Seit wann das denn? Das stand doch gestern noch nicht in meinem Terminplaner."
"Aber jetzt. Mikes hat Lunte gerochen und herausgefunden, dass wir nicht die Einzigen sind, die ein Auge auf Bechthold geworfen haben. Und diesen geheimnisvollen Beobachtern statten wir jetzt einen Besuch ab."
Gleichzeitig warf Chris den Umschlag, den er von Mike bekommen hatte, zusammen mit einigen Notizen, die er sich noch gemacht hatte, auf Engins Schreibtisch.
"Es sind drei Personen, ein Geschwisterpaar und der Ehemann. Sie beschatten ihn im Schichtdienst. Warum und seit wann ist unbekannt. Mike ist letzten Monat auf sie aufmerksam geworden und hat auf eigene Faust recherchiert."
Engin, der sich durch die Unterlagen arbeitete, hob erstaunt den Kopf.
"Spinnt der? Wieso hat er nicht vorher mit dir gesprochen? Ausgerechnet bei Bechthold ohne Rückendeckung zu arbeiten! Das ist doch Wahnsinn!"
"Den Anschiss hat er schon von mir bekommen. Und ich habe ihm gedroht, dass ich es Carola überlassen werde, ihn zusammenzufalten, wenn er noch mal so einen Stunt bringt. Das hat gewirkt. Und er hat es auch eingesehen, dass es nicht in Ordnung war."
"Klar, bei denen hat inzwischen Carola das Sagen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was los ist, wenn sie von Mikes Alleingang erfährt. Im Vergleich dazu warst du bestimmt wirklich harmlos."
Nicht wirklich, aber das ist eine Sache zwischen Mike und mir.
"Aber zurück zu den dreien. Sie besitzen eine kleine Buchhandlung und ich denke, dass wir uns da mal umsehen sollten. Ich erwarte zwar keine großartigen Informationen, aber es ist besser als nichts."
"Sonst willst du nichts gegen sie unternehmen?"
"Was denn? So wie die Bechthold observieren, verstoßen sie gegen kein Gesetzt. Ich habe keine Handhabe. Ich kann sie mir nur vorknöpfen und ihnen empfehlen, sich von Bechthold fern zu halten, aber da ich nicht weiß, welche Rolle sie in dem Spiel spielen, ist es besser, dass sie nicht erfahren, dass wir ein sehr großes Interesse an ihm haben."
"Da hast du auch wieder Recht. Gut, dann lass uns starten. Vielleicht haben sie ja Kochbücher im Angebot, dann kann ich mir eins kaufen und dir Vorschläge machen, was ich haben möchte."
Lachend stand Chris auf.
"Du kaufst dir ein Kochbuch? Das glaubst du doch nicht wirklich. Und außerdem wird das Geburtstagsbuffet eine Überraschung, fang gar nicht erst an, mich zu löchern, du bekommst keine Antwort."
Auch Engin stand auf, nahm sein Jackett und schloss sich Chris an, der schon halb zur Tür raus war.
"Ich habe schon ein Kochbuch. Ich benutze es nur recht selten. Ist es dir entgangen, dass es einen Trend zum Zweitbuch gibt? Man muss es nur besitzen, nicht lesen."
Da konnte Chris nur den Kopf schütteln.
"Wenn du meinst. Du fährst und ich denke schon mal über das Buffet nach. Ich habe da schon eine Idee. Ist es recht, wenn alles ohne Schweinefleisch ist?"
Engin antwortete nur mit einem Schnauben.
Zwanzig Minuten später standen sie vor der Buchhandlung.
Chris hatte während der Fahrt mit Engin abgesprochen, dass sie sich wie ganz normale Kundschaft verhalten und später denjenigen des Trios, der gerade im Geschäft war, in ein Gespräch verwickeln würden.
Ein Bücherfan war Chris nicht, aber seitdem er Amandas Unterricht genossen hatte, stapelte sich neben seiner Matratze Fachliteratur. Angefangen bei Geschichtsbüchern, über diverse Waffenbücher bis zu den Magazinen über Hightech-Entwicklungen. Er zwang sich, jeden Abend und im Flugzeug die Bücher durchzuarbeiten.
Auf den ersten Blick wirkte die Buchhandlung nicht anders als irgendein anderer Buchladen. Die aktuellen Bestseller, Kalender und Kochbücher waren strategisch günstig für die Laufkundschaft im Eingangsbereich deponiert.
Den meisten Platz nahmen in den Verkaufsräumen die antiquarischen Bücher ein. Daneben gab es auch noch eine Abteilung mit französischen Büchern, die Chris ignorierte.
Um den neugierigen Kunden zu mimen, schaute er sich die gebrauchten Bücher an. Nachdem er die ersten Titel gelesen hatte, brauchte er nichts mehr vorzutäuschen: Einige der Bücher, die sie zum Verkauf anboten, standen auch auf seiner ganz persönlichen Wunschliste. Sie waren so selten, dass es sie noch nicht mal in den verschiedenen Onlineantiquariaten gab.
Auch Engin arbeitete sich durch die Regale über Waffenkunde und hatte einige Bücher zur Seite gelegt, die er wohl kaufen wollte.
Ein Räuspern holte Chris aus seinem Kaufrausch und als er sich umdrehte, stand Andreas Michells neben ihm.
"Sie haben schon etwas gefunden?"
Mit einem innerlichen Aufstöhnen schob Chris den dicken Wälzer, den er gerade entdeckt hatte, wieder zurück ins Regal. Es war Nathanael Schlichtegrolls Buch über den Talhofer aus dem Jahre 1817. In einem sehr hervorragenden Zustand. Beim ZVAB hatte Chris es schon für vierhundert Euro gesehen. Hier konnte er es für zweihundertfünfzig bekommen. Aber wenn er die anderen Bücher, die er sich schon rausgesucht hatte, kaufen wollte, dann war es mehr Geld, als sein Budget diesen Monat zuließ.
"Viel zu viel. Wenn ich heute alle Bücher kaufen würde, die mich interessieren, dann brauche ich einen Kredit."
"Es tut mir leid, wenn Sie sich nicht alle Bücher leisten können. Aber ich kann Ihnen aber nicht garantieren, dass die Bücher nächste Woche oder im nächsten Monat noch da sind, da sie bei unseren Stammkunden sehr begehrt sind."
"Sie wissen schon, wie Sie Ihre Kunden ködern!"
"Nein, dafür ist meine Schwester Ursula zuständig, sie ist diejenige, die dafür sorgt, dass unsere Regale gut gefüllt sind. Ich verkaufe die Schätze nur."
Und wenn der Dienstplan stimmt, den Mike von ihnen ausgearbeitet hat, dann observiert diese ach so harmlose Schwester genau jetzt Bechthold.
"Wieso bieten Sie Ihre Bücher nicht online an? Ich suche dieses Buch schon seit einigen Monaten."
Damit deutete Engin auf ein Fechtbuch aus dem neunzehnten Jahrhundert, das er aus dem Regal gezogen hatte.
"Auch das ist die ‚Schuld' meiner Schwester. Die meisten Bücher werden auch von uns über das ZVAB vertrieben, aber sie will bei einigen Exemplare, die sie selbst restauriert hat, den neuen Besitzer kennen lernen, um sich zu überzeugen, dass ihre Babys in gute Hände kommen. Wenn sie nicht da ist und ich die Bücher verkaufe, dann muss ich ihr nachher Bericht erstatten. Aber lassen Sie mich einmal raten-"
Michells nahm Chris die Bücher aus der Hand, sah sich die Titel an und musterte ihn. Seine Inspektion wiederholte er bei Engin.
"Sie sind Single, arbeiten bei der Polizei, beim Bundesgrenzschutz oder einer ähnlichen Institution und interessieren sich für historische Waffen. Vielleicht Reenactment? Und? Stimmen meine Vermutungen?"
Wortlos sahen sich Chris und Engin an und schüttelten den Kopf.
Was war das für ein Typ?
Engin schien ähnlich zu denken und reagierte zuerst.
"Nicht ganz. PSV, Abteilung ‚Historisches Fechten', und wir arbeiten beim Zoll. Wie kommen Sie darauf?"
Michells kratzte sich am Hinterkopf und blickte von Engin zu Chris.
"Das ist Erfahrung."
Chris räusperte sich vernehmlich.
"Das können Sie mir glauben. Ich kenne meine Kundschaft. Und wenn zwei Jungs mit Schulterhalfter bei mir reinspazieren, dann kommen nur wenige legale Jobs in Frage. Und ich glaube nicht, dass sie bei irgendeinem Sicherheitsdienst arbeiten. Die Jungs treten anders auf. Besonders, wenn man sich dann auch noch für unsere Waffenbücher interessiert, und bei dem Stapel, den Sie zur Seite gelegt haben, können Sie nur Single sein. Aber vom Zoll habe ich noch niemanden kennen gelernt. Was macht ihr denn so?"
"Wir konkret? Oder meinen Sie das Aufgabengebiet des Zolls im Allgemeinen?"
Michells schien zu merken, dass dieses Gesprächsthema seinen Gegenübern unangenehm war, denn er lenkte ein.
"Ich möchte Sie nicht belästigen. Aber wenn Sie diese Bücher kaufen, dann werde ich nachher von Ursula ausgequetscht und sie kann wirklich schrecklich sein. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie schauen sich noch etwas hier um und wenn ich um zwölf Mittagspause mache, dann lade ich Sie zu einem Kaffee ein. Sie werden mir doch bestimmt etwas über Ihre Hobbys erzählen können. Denn ich interessiere mich sehr für historische Waffen, auch wenn ich keine Zeit für diese Leidenschaft habe und mein Wissen nur aus Büchern hole."
Wow, einfacher geht es nicht.
"Wenn Sie mir dafür das Buch bis zum nächsten Monat zurücklegen, dann finde ich eine gute Ausrede, warum unsere Pause so lang ausgefallen ist." Chris zeigte auf das Talhofer-Buch.
" Und welche Bücher soll ich für Sie zurücklegen?"
Engin zog aus seinem Bücherstapel zwei raus, die er Michells in die Hand drückte.
Als dieser die Bücher in Empfang nahm, konnte Chris an seinem rechten Handgelenk eine Tätowierung erkennen.
Die kenn ich doch! Verdammt, wer hat auch noch dieses Tattoo?
Chris sah den Arm des anderen vor sich, konnte aber kein Gesicht zuordnen. Aber er musste diese Person recht gut kennen.
"Sie können mich übrigens Engin nennen. Wenn ich mit dem Regal durch bin, dann entscheide ich mich vielleicht noch anders."
"Ich bin Andreas Michells. Aber bitte sagen Sie Andreas. Sonst fühle ich mich so alt. Aber warten Sie ab. Den Kaffee bekommen Sie im Hinterzimmer und dort zeige ich Ihnen einige Bücher, von denen wir uns einfach nicht trennen können. Es sind echte Raritäten."
Im Hintergrund ertönte die Türglocke.
"Oh Gott, wissen Sie, was Sie mir damit antun werden?"
Chris fragte sich, was Engin mit diesem Kommentar meinte. Bücher waren zwar gut und schön, aber dass er jetzt darum so einen Wirbel machte, verstand er nicht. Aber was tat man nicht alles für seinen Job...
"Dasselbe wie jedem anderen, der sich auch für Bücher interessiert. Es wird Ihnen gefallen. Ich habe einige Originale aus dem sechzehnten Jahrhundert, durch die Sie blättern können. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, da kommt noch andere Kundschaft."
Damit ließ Andreas sie stehen und kümmerte sich um die anderen Kunden.
Während Engin fröhlich weiter nach Büchern suchte, war Chris mit seinen Gedanken bei der Tätowierung. Er kannte dieses Muster. Es war ihm sehr vertraut, aber er konnte es einfach keiner Person zuordnen.
Immer wieder wanderte Chris' Blick zu Andreas. Er beobachtete, wie er verkaufte und wie er die Sachen als Geschenk einpackte. Um einen weiteren Blick auf die Tätowierung werfen zu können, war er zu weit weg.
Wieso kann ich mich nicht daran erinnern und wieso ist es mir so vertraut?
Engin schien zu merken, dass sein Partner ein Problem hatte. Jedenfalls stand er plötzlich vor ihm und schaute ihn fragend an.
"Du wirkst nicht gerade glücklich, Chris. Was ist denn los?"
"Hast du das Tattoo auf seinem Handgelenk gesehen?"
"Ja, da war eine Tätowierung, ich habe nicht näher darauf geachtet. Ist es was besonderes?"
"Ich kenne jemanden, der auch so eine hat. Auch auf dem Handgelenk, aber ich kann mich verdammt noch mal nicht daran erinnern, wer es ist."
"Das ist ungewöhnlich. Normalerweise will man sein Tattoo doch so individuell wie möglich haben. Mein Cousin Achmed hat seinen Rücken voll mit diesen Dingern und behauptet, dass jedes Teil ein Unikat ist."
Chris befürchtete schon, dass Engin anfing, endlose Geschichten von seinem Cousin zu erzählen, aber erstaunlicher Weise hielt er nach diesem Kommentar seinen Mund.
"Was ist eigentlich so besonders an den Büchern, die er uns zeigen will?"
"Ich habe noch keine Ahnung, aber ich liebe alte Bücher. Schau dir nur mal an, was die hier zum Verkauf anbieten. Was meinst du, was für Exemplare dann im Hinterzimmer sind? Alleine die Vorstellung, so alte Bücher in der Hand zu halten und in ihnen blättern zu können..."
Doch irgendwie konnte Chris Engins Begeisterung nicht verstehen.
"Gut, dann kannst du ihn gleich mit Fragen löchern, während ich versuche, etwas über seine Tätowierung herauszubekommen."
"Kein Problem. Sach mal, kannst du mir etwas Geld leihen? Ich bin diesen Monat etwas knapp bei Kasse, aber ich habe hier einige Bücher gefunden, die ich haben muss. Und ich will keine Massen reservieren. Ich will sein Entgegenkommen nicht ausnutzen."
"Dann zeig doch mal, was du kaufen willst."
Zögernd reichte Engin den Stapel rüber. Er schien sich nur ungern von seiner ‚Beute' zu trennen. Es erstaunte Chris, wie weit Engins Interessen gefächert waren. Er hatte nicht gewusst, dass sich sein Partner auch für die jüngere Militärgeschichte begeisterte. Aber die Bücher über die amerikanischen Waffen im Koreakrieg und im Vietnamkrieg bewie-
Joe Dawson hat so eine Tätowierung!
Und jetzt fehlte Chris nur noch die Bedeutung der Tätowierung und dann wäre das Rätsel gelöst. Er würde ein Monatsgehalt verwetten, dass dieses Zeichen eine Bedeutung hatte. Stellte sich jetzt noch die Frage, was die drei mit Joe Dawson verband.
"Chris? Was hast du? Wenn du meinst, das Buch über den Vietnamkrieg als Pfand für den Kredit zu bekommen, dann hast du dich geschnitten. Das wird mein Buch!"
Wie kann man nur so ein Büchernarr sein?
"Du brauchst keinen Streit anzufangen. Das Buch will ich gar nicht haben. Wie viel Geld brauchst du denn?"
Engin nahm Chris den Bücherstapel ab und schaute die Preise durch.
"Wenn du mir einen Hunni leihen könntest… Ach, verdammt vergiss es. Die hundert Euro muss mein Konto auch noch ab können. Dafür fällt meine Geburtstagsfeier etwas kleiner aus. Die Bücher sind wichtiger."
Verstehen konnte Chris diese Einstellung nicht, aber wenn Engin es so wollte.
"Dann brauche ich also nicht zu kochen?"
"Doch! Alles andere wäre wesentlich teuerer. Ich werde wohl doch nur den engsten Freundeskreis einladen."
"Dann hast du ja einen sehr einsamen Abend vor dir!"
"Hat man dir schon mal gesagt, dass du ein absolutes Arschloch bist?"
"Ich doch nicht!"
"Doch du!"
"Nein!"
"Doch!"
"Nein!"
"Chris, kann ich wenigstens ein Mal das letzte Wort haben?"
Kannst du… wenn ich nicht in der Nähe bin.
Doch Chris wartete noch einen Moment und als Engin sich entspannte und durchatmete...
"Eigentlich müsste ich jetzt was sagen."
"Mistkerl!"
"Yeep!"
Während ihrer kleinen Auseinandersetzung war es Mittag geworden und Andreas verschloss die Eingangstüre. Chris sah, wie er sich näherte und amüsiert ihre Kabbelei beobachtete.
"Darf ich euch unterbrechen, ohne von zwei Seiten Prügel zu beziehen? Der Laden ist dicht und der Kaffee müsste jetzt auch durch sein. Wenn mich die Herrschaften bitte begleiten wollen? Eure Einkäufe könnt ihr auf den Tresen legen. Darum kümmern wir uns später."
Der Kommentar brachte Chris zum Grinsen. Die Kollegen reagierten genauso, wenn er sich mit Engin kabbelte.
Auch Engin grinste und gemeinsam folgten sie Andreas in das Hinterzimmer.
Hinterzimmer war nicht der richtige Ausdruck für den Raum, den sie betraten. Es war eine kleine Werkstatt zum Reparieren von Büchern und an den Wänden standen Regale. Und in diesen standen - wie konnte es anders sein- Bücher.
Dass Engin beim Anblick dieser Bücher fast in eine Art Ekstase geriet, konnte Chris nicht verstehen. Gut, die Wälzer waren zwar alt und gut erhalten, aber nachdem er die ersten Titel gelesen hatte, da wusste Chris, dass diese Bücher für ihn unter die Kategorie ‚totlangweilig' fielen. Dafür war der Kaffee schwarz, heiß und gut.
Aber er ließ Engin seinen Spaß, setzte sich auf den Tisch und beobachtete Andreas und Engin.
Scheinbar hatten sich da zwei gefunden. Engin schien total vergessen zu haben, dass er eigentlich dienstlich hier war und schwelgte im Betrachten der Bücher.
Immer wenn Chris dachte, dass er es endlich hinter sich hatte, kramte Andreas noch ein anderes Buch oder ein weiteres Faksimile hervor, das von Engin mit Begeisterung aufgenommen wurde.
Inzwischen hatte er es aufgegeben, auf die Uhr zu schauen, denn als er dachte, dass eine halbe Stunde vergangen war, da waren es laut seiner Uhr nur drei Minuten gewesen.
Klamottenkaufen mit Eddie war nicht halb so nervend. Da hatte ich wenigstens was zu tun.
Dass dieser Gedanke nicht stimmte, wusste Chris. Wenn er nur an jenen verhängnisvollen Tag in San Francisco dachte und daran, welche Folgen sein Einkaufsfrust gehabt hatte…
Aber da waren ja noch die glücklicheren Tage mit Eddie gewesen: Allein das letzte Weihnachtsfest…
Kein Wunder, dass ich Weihnachten nicht dumm rumsitzen will. Alles, nur nicht an diesen Tagen trüben Gedanken nachhängen und womöglich wieder das Fotoalbum raussuchen. Oder noch schlimmer, die Feiertage in Paris zu verbringen. Zusammen mit einem schlecht gelaunten Adam, der die Zeit nutzen wird, mich mindestens dreimal pro Tag zu killen.
Es war nicht gut, wenn er schon am Dienstag wieder ans Wochenende dachte. Das führte nur zu Appetitlosigkeit und brachte gar nichts.
Da waren die Erinnerungen an das letzte Weihnachtsfest schon die bessere Alternative, um sich die Zeit zu vertreiben.
Wann hatte er sonst schon die Zeit für Tagträume? Er hatte in den letzten Monaten seinen Terminkalender bewusst so voll gepackt, dass er ständig beschäftigt war und nachts total erschlagen ins Bett fiel.
Selbst in Paris hatte er sich, seit Amanda weg war, einen Zeitplan zusammengestellt, der sogar funktionieren würde, wenn Adam einmal pünktlich wäre. Aber da war dieser ja wie eine Primadonna. Wenn er sich schon dazu herabließ, einem anderen einen Teil seines Wissens zu vermitteln, dann musste Chris parat stehen, wenn Adam irgendwann im Laufe des Tages aufzutauchen geruhte.
Als die Tür zur Werkstatt geöffnet wurde und Ursula Meyer hereinkam, wurde Chris aus seinen Gedanken gerissen. Sie schien in Eile zu sein, denn sie war außer Atem und ihre Wangen waren gerötet.
"Hallo Bruderherz! Du wirst nicht glauben, was ich heute herausgefunden habe! Wir sind nicht die einzigen, die-"
Sie schwieg, als sie merkte, dass Andreas nicht allein war.
Ihr seid nicht die einzigen? Wer denn noch? Kallenbach und Deichsel haben Dienst, aber die sind zu clever, um sich erwischen zu lassen, und Mike und sollten eigentlich das Objekt in der Hügelstraße observieren... Und ansonsten überwachen nur Wanzen und andere kleine Spielereien der Spezialisten Bechthold Oder gibt es da noch eine dritte Partei?
Andreas versuchte, die plötzliche Stille zu überbrücken.
"Hallo Schwesterchen! Wer ist denn noch hinter dem Buch her? Ich dachte, du wärst die einzige Interessentin."
So schnell Ursula auch schaltete, den ersten verständnislosen Blick hatte Chris mitbekommen.
Er vermied es aber, Engin anzuschauen, sondern er versuchte, genauso gelangweilt auszusehen, wie er sich gerade noch gefühlt hatte.
"Dreimal darfst du raten! Natürlich das Antiquariat aus Bonn. Nathalie Beyer hat der Besitzerin der Handschrift ein Angebot gemacht… da können wir nicht mithalten. Schade und ich hätte es so gerne restauriert. Es war schon fast zu meinem Baby geworden. Und jetzt stell mir mal die beiden Herren vor."
Es war bewundernswert, wie schnell Ursula sich eine plausible Ausrede ausdachte.
"Natürlich. Das ist meine Schwester Ursula Meyer. Sie ist in diesem Laden die Restauratorin und verantwortlich, dass alle Bücher in einem anständigen Zustand sind, wenn sie verkauft werden sollen. Das sind Engin und…"
Andreas zögerte, denn Chris hatte sich nicht vorgestellt.
"Christoph, aber Sie können Chris zu mir sagen."
Dabei stand Chris auf, stellte seine Kaffeetasse zur Seite und gab Ursula mit einem Lächeln auf den Lippen seine Hand.
Diese ergriff und schüttelte sie. Chris bewegte sich so, dass er einen guten Blick auf ihr Handgelenk hatte. Und wurde nicht enttäuscht, denn dort war dasselbe Tattoo, das auch Andreas und Joe hatten.
Langsam wird es wirklich interessant.
Ursula ließ Chris' Hand los und begrüßt auch Engin, der sie direkt ausfragte.
"Ihr Bruder hat uns in Ihrer Abwesenheit einige Bücher gezeigt und ich bin von Ihrer Arbeit restlos begeistert. Woher haben Sie dieses Wissen?"
Chris war dankbar, dass Engins Enthusiasmus nicht gespielt war. So konnte er sie bestimmt mit tausend Fragen löchern. Auch wenn es ihn selber langsam ziemlich langweilte. Und Ursula ließ sich von Engins Überschwang anstecken.
"Andreas kann es nicht lassen. Hat er Sie nicht damit gelangweilt? Normalerweise ergreift jeder Besucher nach spätestens einer halben Stunde die Flucht, weil es einfach zuviel wird."
"Nein, auf keinen Fall, diese Bücher sind einfach… sie sind… unbeschreiblich. Diese Mengen und diese Qualität bekommt man doch sonst nur mit viel Glück in Museen zu Gesicht."
Ich werde es überleben…Was tut man nicht alles für seinen Partner.
Chris hielt sich zurück, obwohl Ursulas Blick auf ihm ruhte.
"Sie scheinen die Meinung Ihres Freundes nicht zu teilen. Wie kommt es, dass Sie auf und davon sind?"
"Wissen Sie, mit Büchern ist es bei mir wie mit der Kunst. Ich kann sie nur in wohldosierten Portionen ertragen. Und ich habe heute meinen Anteil für die nächsten zwei Jahre bekommen. Aber Engin erträgt auch meine Marotten, ohne zu murren, also muss ich da durch."
"Das hört sich ja so an, als ob Sie schon ziemlich lange zusammen sind."
"Knapp zweieinhalb Jahre."
Als er sah, wie Ursula ihn und Engin musterte, fügte er noch eine Erklärung hinzu.
"Wir sind Partner, kein Paar. Obwohl er sich manchmal so aufführt."
"Das habe ich gehört, Chris."
"Ja wer will denn immer, dass ich für dich koche? Ich ganz bestimmt nicht!"
Während sie den Kabbeleien zuhörte, zog sich Ursula die Jacke aus und nahm sich eine Tasse Kaffee. Damit setzte sie sich neben Chris auf den Tisch.
"Oh, ein altes Ehepaar ist im Vergleich zu euch harmlos."
"Nicht wirklich!"
"Gar nicht wahr!"
Damit ernteten sie von Ursula nur ein Kopfschütteln.
"Ich kenne das. Wartet mal ab, wenn ihr meinen Mann Peter und Andreas zusammen erlebt. Dagegen seid ihr Waisenknaben."
"Können Sie die uns mal ausleihen? Damit unsere Kollegen merken, dass es noch schlimmer geht?"
"Wenn ihr bitte damit aufhört würdet, über mich zu reden, als ob ich nicht da wäre. Und so schlimm sind Peter und ich wirklich nicht."
Ursula warf Andreas einen Blick zu, den Chris sehr gut interpretieren konnte. Denn Eddie hatte diesen Ausdruck auch drauf, der besagte ‚Warte ab, bis wir zu Hause sind, dann sage ich dir meine Meinung'.
Aber wie zum Geier sollte er sie auf die Tätowierung ansprechen, ohne dass es auffiel? Und er musste mehr darüber wissen, bevor er Joe damit konfrontierte. Der alte Fuchs würde sich sonst sicher rausreden.
"Schau mich nicht so an. Sonst lasse ich dich demnächst mit der Steuererklärung alleine."
"Das ist gemein! Du weißt, dass ich mit Zahlen nichts anfangen kann."
"Eben, aber wir sollten jetzt aufhören. Außerdem musst du noch entscheiden, ob ich den beiden einige deiner Babys verkaufen darf."
"Solange du die Bücher, die hier stehen, nicht verkaufst… Wie lange hängt Engin dir schon an den Lippen? Du machst doch normalerweise um zwölf dicht. Wenn Sie diese Bücherorgie überstanden haben, dann müssen Sie wirklich ein Faible für Bücher haben. Meinen Segen hast du. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss mich noch frisch machen, bevor der Laden wieder öffnet."
Ursula hauchte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange, reichte Engin und Chris die Hand und verschwand wieder.
Ein Blick auf die Uhr zeigte Chris, dass es wirklich schon fast zwei war. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war, und dabei war es ihm eben noch wie eine Ewigkeit vorgekommen.
"Stimmt, wir müssen auch langsam los. Sonst geben die Kollegen noch eine Vermisstenanzeige auf."
"Was macht man eigentlich als Zollbeamter in Frankfurt? Ich bin vielleicht naiv, aber ich habe immer die Vorstellung gehabt, dass es diese Leute nur an der Grenze gibt."
Darauf musste Chris eine Antwort geben, allerdings versuchte er, sie so allgemein wie möglich zu halten.
"Kommt darauf an, wo man eingesetzt wird. Wir gehören zum Zollkriminalamt und unser Bereich ist dazu da, alles aufzuspüren, was illegal und nicht versteuert in Deutschland vertickt wird. Das fängt bei der Markenpiraterie mit gebrannten CDs an, geht über Zigarettenschmuggel und endet bei der Drogenfahndung. Das Aufgabengebiet des Zolls ist noch viel größer, aber ich habe keine Lust, darüber einen Vortrag zu halten, dafür gibt es inzwischen Webseiten, die ich Ihnen wärmstens empfehlen kann."
Währenddessen hatten sie die Werkstatt verlassen und waren an der Kasse angekommen. Engin machte einen Abstecher zum Bücherregal und stöberte noch etwas.
Andreas nahm Chris' Bücherstapel, sah auf die Etiketten und tippte die Beträge in die Kasse ein. Das hinderte ihn aber nicht, weitere Fragen zu stellen.
"Kommen Sie dabei nicht der normalen Polizei ins Gehege? Denn das hört sich für mich als Laien mehr nach Polizeiarbeit als nach Zollarbeit an."
Chris öffnete seine Geldbörse und nach kurzer Überlegung zückte er seine EC-Karte.
"Eher weniger, in den Bereichen, wo es Berührungspunkte gibt, arbeiten wir Hand in Hand. Ich komme aus dem Polizeidienst und bin vor einigen Jahren zum Zoll gewechselt. An der Arbeit hat sich nicht viel geändert, nur das Klima ist anders."
"Das hört sich richtig interessant an. Und wenn Sie mir jetzt noch zweihundertzehn Euro geben, dann können Sie den Bücherstapel auch mitnehmen."
"So viel! Da muss ich ja wirklich noch einen Kredit aufnehmen. Kann ich auch mit meinem guten Namen zahlen?"
"Sicher doch."
Chris tauschte die EC- mit der Masterkarte und reichte sie Andreas. Als dieser sie annahm, konnte er ganz genau das Tattoo erkennen.
Und Chris wusste, dass es die Gelegenheit war.
"Ich überlege mir auch, ob ich mir so was zulegen soll."
"Bitte?"
"Ein Tätowierung, so wie Sie sie am Handgelenk haben. Nur habe ich mich bisher noch nicht getraut. Schließlich ist das eine Entscheidung für immer."
"Ach das meinen Sie. Ich wünsch' mir, ich hätte damals auch darüber nachdenken können."
Die Antwort überraschte Chris.
"Wie meinen Sie das?"
"Es ist in meiner Studienzeit passiert. Ursula und Peter haben auch dieses Muster am Handgelenk. Ich kann mich nur an eine feucht fröhliche Feier erinnern und dass am nächsten Morgen mein Arm schmerzte. Als ich dann nachschaute, da war das Tattoo da."
"Oh, das ist nicht gut gelaufen. Ich hoffe, dass mir nie so etwas passiert. Bei meinem Glück verpasst man mir bestimmt irgendeinen üblen Spruch und nicht so ein nettes Muster, wie Sie es haben."
"Das stimmt, deswegen habe ich es auch nicht entfernen lassen. Und irgendwie gefällt mir auch der Gedanke, dass jeder in meiner Familie so eine Tätowierung hat."
"Da haben Sie ja wirklich Glück im Unglück gehabt."
"Finde ich auch. Wenn Sie jetzt noch bitte hier unterschreiben."
Damit reichte Andreas Chris den Beleg zusammen mit seiner Masterkarte. Chris unterschrieb, steckte seine Karte ein und reichte Andreas den Zettel zurück.
"Reicht es, wenn ich den Schichtengroll nach dem nächsten Ersten abhole? Dann habe ich auch das Weihnachtsgeld auf meinem Konto. Sonst krieg' ich Ärger mit meiner Bank."
"Kein Problem. Viel Spaß mit den Büchern."
"Danke, den werde ich bei dem Preis nicht mehr haben."
Engin war inzwischen auch zur Kasse gekommen und hatte seinen letzten Kommentar gehört.
"Bei dem Preis wird das Lesen doch zu einem ganz besonderen Vergnügen."
Dabei legte er noch einige weitere Bücher auf dem Tresen ab.
"So, das ist im Moment alles. Sie brauchen mir nichts zurückzulegen, denn wenn ich richtig gerechnet habe, dann kosten sie insgesamt nicht mehr als zweihundert Euro. Und ich zahle mit meinem guten Namen."
"Was ist an deinem Namen gut?"
"Chris, übertreib nicht. Mich schmerzen meine Ausgaben schon genug, da brauche ich keine Kommentare mehr."
"Und was ist mit deinem Lesevergnügen? Okay. Meinem Konto tut der Einkauf auch weh. Ich bin schon ruhig."
"Schade!", mischte sich nun Andreas ein. Auf ihren verständnislosen Blick erklärte er ihnen, "Von euren Wortgefechten kann ich noch lernen. Ursula ist zwar meine kleine Schwester, aber dafür ist ihre Klappe um so größer, und wenn sie und Peter über mich herziehen, ist es nicht einfach, sich zu wehren. Habt ihr Emailadressen? Dann bekommt ihr einmal im Monat eine aktuelle Bücherliste von uns."
Währenddessen hatte er die Beträge eingetippt und reichte Engin die Belege. Er schaute auf die Endsumme und wurde blass. Doch er unterschrieb kommentarlos.
Chris entschied sich gegen die Bücherliste.
"Nein, danke, es reicht, wenn ich hier ab und zu mal durchstöbere. Wenn ich auch noch einen Katalog bekomme, dann bin ich verloren."
Engin zückte jedoch seine Brieftasche, steckte seine Masterkarte ein und holte eine Visitenkarte raus.
"Okay, ich mach's. Und ich werde mich wohl nach einem Nebenjob umschauen müssen, damit ich das finanziert bekomme."
Inzwischen war auch Ursula im Geschäft und öffnete die Eingangstüre.
Bevor Engin noch irgendwie mit einem der beiden ins Fachsimpeln geriet, packte sich Chris die Tüten und schob ihn zur Tür hinaus.
Denn er hatte genug von diesem Einkaufsbummel und er hatte auch das herausbekommen, was er im Moment wissen musste. Den Rest würde er am Wochenende mit Joe klären.
Und eine vernünftige Erklärung für Engin musste er auch noch finden.
