Stress auf der Arbeit

Nach einem kurzen Abstecher zu McDonalds fuhren sie wieder ins Büro. Dort packte Engin als erstes seine Beute aus und blätterte durch die Bücher, während Chris Wasser für die Kaffeemaschine holte.

Als Chris wieder zurückkam, hatte Engin sich festgelesen und befand sich in einer anderen Welt.

Erst als Chris sich räusperte, kam er wieder in die Realität zurück.

"Sorry, ich bin schon wieder da. Ich frage mich nur, wie ich diese Buchhandlung die letzten Jahre übersehen konnte. Die haben einen neuen Stammkunden bekommen."

"Schön, dass du jetzt weißt, wo du dein Geld lässt. Hast du denn auch was Dienstliches rausbekommen?"

"Nur, dass die Buchhandlung nicht wirklich eine Tarnidentität sein kann. Die beiden sind mit Leib und Seele dabei und haben ein großes Fachwissen. So was kann man nicht nebenbei lernen. Das haben die wirklich studiert. Besonders wie Ursula die Bücher restauriert. Sie ist da sehr gut. Und was hast du über das Tattoo herausgefunden?"

Die Kaffeemaschine war angestellt und Chris setzte sich an seinen Schreibtisch.

"Dass Ursula auch so ein Ding hat. Laut Andreas ist das die Folge eines Besäufnisses in der Studienzeit."

"Dann habe ich ja Glück gehabt, dass ich nie so abgestürzt bin. Ist dir denn eingefallen, wer auch noch so'n Ding hat?"

"Ja, aber ob da wirklich ein Zusammenhang besteht, wage ich zu bezweifeln. Denn der Besitzer meiner Lieblingskneipe in Paris hat so eine Tätowierung."

Wieso sagt mir meine Intuition, dass da doch ein Zusammenhang besteht?

"Haben die drei nicht in Paris studiert?"

"Ja, aber Joe ist Amerikaner und hat eine Blues Bar. Auch wenn er schon seit einigen Jahren in Paris lebt, sehe ich im Moment keinen Verbindung zu unseren Buchhändlern."

"Dann ist das ja doch eher ein Zufall. Schau dir das Tattoo am Wochenende noch mal an. Ist ja gut möglich, dass nur eine große Ähnlichkeit besteht. Check das doch mal, wenn du der Bar wieder einen Besuch abstattest. Und wie geht es weiter?"

"Das kann auch sein - dass es doch nicht dasselbe Motiv ist, meine ich. Und woher soll ich wissen, wie's weiter geht? Ich trage noch keine Latschen an den Füßen."

Auch wenn die Auferstehung von den Toten dank Adams Hilfe wunderbar klappt.

Aber Chris hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen.

"Am besten prüfen wir mal nach, ob es in ihrem Freundes- und Familienkreis einen ungeklärten Mordfall oder seltsamen Unfall gegeben hat. Vielleicht sind sie aus so einem Grund hinter Bechthold her."

"Du meinst, sie wollen jemanden rächen?"

"Keine Ahnung, aber wenn wir rausbekommen wollen, warum sie Bechthold beschatten, sollten wir auch diesen Aspekt berücksichtigen. Und jetzt hör endlich auf, in diesen Büchern zu blättern! Denn ich fand das Ganze im Gegensatz zu dir ziemlich langweilig."

"Du bist ein Kulturbanause."

"Jo, ich bin Proll und du bist die Elite. Bist du jetzt zufrieden und wir können weiterarbeiten? Da sind noch einige Telefonmitschnitte, die analysiert werden müssen."

"Sklaventreiber."

"Ich bin's gerne. Komm, du hattest heute deinen Spaß und wir haben nur noch bis Ende Dezember Zeit."

Engin legte mit einem bedauernden Blick das Buch zur Seite und wühlte sich durch seine Unterlagen, bis er die gesuchte Akte gefunden hatte.

"Ich dachte, dass der Zugriff erst Ende Januar über die Bühne gehen soll."

"Wird er auch, aber Carstensen von der Staatsanwaltschaft hat mir klar gemacht, dass die letzten Wochen für die Einsatzplanung drauf gehen werden und wir währenddessen nicht mehr viel Zeit zum Ermitteln haben. Das soll ja von hier aus international koordiniert werden."

"Wow, dann sehe ich schon, dass wir uns hier die Nächte um die Ohren schlagen. Gut, dass ich solo bin. Hast du es Amanda schon gebeichtet?"

"Ich muss ihr erst noch beichten, dass ich Weihnachten Dienst habe..."

Dass Chris noch nicht einmal wusste, wo Amanda in diesem Moment steckte, brauchte Engin ja nicht zu wissen.

"Wie kommt es eigentlich, dass du freiwillig für Mike auf ein langes Wochenende mit Amanda verzichtest?"

"Du kennst ihre Mutter nicht, die Weihnachten zu Besuch kommt."

"Oh!"

Mehr sagte Engin nicht und widmete seine Aufmerksamkeit der Akte. Chris versuchte erst gar nicht, sich auf seine Unterlagen zu konzentrieren. Statt dessen notierte er auf einem Block, was er über Joe Dawson wusste.

Irgendwann fiel ihm ein, dass dieser in einer ihrer wenigen Unterhaltungen erwähnt hatte, dass er früher eine gutgehende Buchhandlung besessen hatte, die er für seinen Traum von der Blues-Bar aufgegeben hatte.

Ob das die Verbindung ist?

Aber Chris war sich nicht sicher. Gut, es mochte Studentenverbindungen geben, aber das war doch eher ein deutsches Phänomen, und er hatte noch nie davon gehört, dass es da Tätowierungen gab. Und inzwischen ahnte Chris, warum dort soviel Wert auf Schmisse gelegt wurde.

Die Internetrecherche brachte auch nicht viel. Denn Dawson war wohl in Amerika ein Allerweltsname und da sowohl ein Indy500- Gewinner und ein Basketballstar diesen Namen trugen, war es unmöglich, unter den unzähligen gelisteten Seiten in einem angemessenen Zeitrahmen eine vernünftige Information rauszusuchen.

Eine Anfrage bei Interpol kam auch nicht in Frage, denn die wurde registriert. Und wenn jemand herausbekam, dass er ohne begründeten Verdacht gehandelt hatte, dann würde er ziemlichen Ärger bekommen.

Und dann war da noch Mike, der bestimmt auf heißen Kohlen saß und wissen wollte, was sie herausgefunden hatten. Chris wusste, dass Mike mit dem Ergebnis bestimmt nicht zufrieden war.

Kurz entschlossen griff er zum Telefon und wählte Mikes Handynummer.

Dieser ging auch sofort dran.

"Sorry Chris, ich kann nicht lange telefonieren, hier ist der Bär los. Bechthold ist heute Morgen aufgetaucht und scheint in dem Laden Inventur zu machen. Und ständig rennen sie hier rein und raus. Kann ich nach Feierabend vorbeischauen? Es dauert zwar noch einige Stunden, bis die Ablösung da ist, aber… verdammt, wer ist denn das? Sorry, ich muss aufhören."

"Kein Problem, ich hab' noch genug zu tun. Bis nachher."

Klack.

Gott, ich hasse das!

Da saßen Mike und Carola vor einem Bordell im Auto und beobachteten, was da los war. Und die Gefahr, entdeckt zu werden, war immer mit dabei. Besonders wenn sie relativ ungeschützt auf der Straße waren. Und er saß gemütlich hinter seinem Schreibtisch und konnte dem nur zusehen.

"Scheißjob!"

"Was ist?"

Chris hielt es einfach nicht mehr an seinem Schreibtisch aus. Er stand auf, holte sich einen Kaffee und wanderte unruhig auf und ab.

"Ich habe gerade versucht, Mike zu erreichen. Wie es aussieht ist Bechthold doch der Chef vom Ganzen, denn Mike observiert das Bordell auf der Hügelstraße und Bechthold ist dort aufgeschlagen und es geht zu wie in einem Taubenschlag. Verdammt! Und ich sitze hier rum und kann nichts tun!"

"Er ist also nicht in Gefahr?"

"Nicht mehr als sonst. Aber ich hasse es, andere Leute auf die Strasse zu schicken und zu wissen, dass sie nicht immer Glück haben können. Irgendwann passiert einem von den Jungs etwas. Und falls es Mike sein sollte..."

Die Kaffeetasse war fast schon ein Rettungsanker, an dem sich Chris festhielt.

"... ich könnte es mir nie verzeihen. Aber wenn ich ihn zurückpfeife, dann ist er zurecht verärgert. Schließlich sind ja auch noch Kallenbach und Deichsel da, die Bechthold observieren. Verdammt, warum musste ich mich auch so um diesen Fall reißen! Ich will diese Verantwortung nicht."

"Mir ist nie ganz klar geworden, was für ein Verhältnis ihr habt. Manchmal bin ich fast schon eifersüchtig auf Mike, weil er dein Expartner ist. Ich habe das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, wenn ihr über irgendwelche alten Sachen redet. Ist schon verrückt, nicht?"

"Nicht wirklich, denn ich weiß auch nicht immer, was da zwischen uns ist. Neben dir ist er der Mensch, dem ich am meisten vertraue. Auch wenn wir immer wieder Probleme mit unserer Freundschaft haben, weil wir beide schrecklich stur sein können. Es liegt wohl auch daran, dass ich damals, als Mike den Unfall hatte, vor Klaus' Tür gestanden habe. Wenn Eddie nicht bei mir gewesen wäre... ich habe mich so hilflos gefühlt. Und ich habe ehrlich gesagt Angst, dass ich jemand anderem so eine Nachricht überbringen muss. Ich kann so was einfach nicht. Aber wenn die mich wirklich befördern wollen..."

"Tja, wenn wir diesen Fall wirklich so erfolgreich abschließen, wie es sich im Moment andeutet, dann haben die gar keine andere Wahl, als uns die Karriereleiter ein Stück nach oben zu schieben."

Inzwischen hatte der Sturm in Chris' Inneren soweit nachgelassen, dass er den Kaffee auch trinken konnte.

"Die Befürchtung habe ich auch. Eigentlich sollte ich froh darüber sein, denn wenn ich daran denke, wie oft ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen habe, nur um irgend so einen Arsch zu erwischen, dann schieben wir im Moment eine richtig ruhige Kugel. Wenn da nicht die Verantwortung wäre..."

"Willst du es ändern?"

"Nein, und wenn ich Weihnachten hinter mir habe, dann bin ich garantiert wieder froh, im warmen Büro zu sitzen."

Es war wirklich warm. Chris stellte seine Tasse auf seinen Schreibtisch, zog sein Jackett aus und hängte es über seinen Stuhl. Nach einem Moment überwand er sich und setzte sich auch wieder hin. Denn vom Rumrennen wurde seine Arbeit nicht getan. Doch für Engin war das Thema noch nicht durch.

"Und ich werde heilfroh sein, wenn du in der Zeit nicht mit Bechthold zusammengerasselt bist und ihr euch nicht gegenseitig an die Gurgel gegangen seid. Ich frage mich, was für ein Spiel ihr wirklich spielt. Aber ich hab's dir heute Morgen schon mal gesagt. Irgendwann kommst du nicht mehr drum herum, mir die Wahrheit zu erzählen. Spätestens wenn alles vorbei ist."

Es ist ein tödliches Spiel. Und solange ich lebe, wird es nie vorbei sein.

Doch Chris schwieg, nahm sich den Telefonmitschnitt, den er gestern schon durcharbeiten wollte, und versuchte, sich darauf zu konzentrieren.

Engin schien auch nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet zu haben, denn auch er war schon wieder in seine Akten vertieft.

Bis Engin Feierabend machte, arbeiteten sie sich durch die Telefonmitschnitte. Hin und wieder legte Chris seine Unterlagen zur Seite, um sich einige Notizen zu machen oder um in anderen Akten nachzuschlagen. Selbst das Telefon klingelte nicht.

Engin hatte um kurz nach sechs seinen Kram zusammengepackt - mit seinen neuen Büchern war er richtig schwer beladen - und sich vom Acker gemacht. Nun wartete Chris nur noch auf Mike.

Der tauchte um kurz nach halb sieben auf. Er klopfte kurz an, kam rein und ließ sich auf Engins Stuhl fallen. Er hatte wohl vorher noch geduscht und sah trotzdem ziemlich fertig aus.

"Naabend Mike! War es so schlimm, wie du aussiehst?"

"Frag besser nicht. Es war viel schlimmer! Und lass mich Kallenbach zwischen die Finger kriegen und er ist tot. Carola will sich Deichsel vorknöpfen."

Nicht schon wieder! Können die nicht einen Tag ohne Streit auskommen?

"Was ist passiert?"

"Die Ärsche haben so ganz rein zufällig vergessen, uns Bescheid zu sagen, dass Bechthold im Anmarsch war! Wir konnten gerade noch auf Tauchstation gehen, als wir seinen Wagen gesehen haben, aber das war haarscharf. Als wir den beiden über Funk den Marsch blasen wollten, da sagte uns Kallenbach in seinem scheinheiligsten Tonfall, dass er auf dem Einsatzplan übersehen hatte, wo wir heute eingesetzt waren. Wenn du ihn dir nicht vorknöpfst, dann werden wir das machen. Und dann wird einer von uns im Krankenhaus landen. Und ich werde es nicht sein. Das garantiere ich dir."

Chris fuhr sich mit seinen Fingern durch die Haare. Das war gar nicht gut. Mike hatte sich in diesem Streit bisher immer zurückgehalten und Kallenbach abblitzen lassen, aber wenn jemand nicht nur sein Leben, sondern auch Carolas in Gefahr brachte, dann war es klar, dass er explodierte. Und Chris hatte versucht, sich soweit wie möglich zurückzuhalten, da er parteiisch war.

"Ist Kallenbach noch unten?"

"Nee, der ist gar nicht erst hier aufgetaucht. Der zählt wohl darauf, dass ich mich bis morgen wieder beruhigt habe und dass ich ihm dann nur ein paar Takte dazu sage. Aber da hat er sich geschnitten. Es reicht mir, endgültig. Das sind jetzt ein paar Jahre zuviel, in denen er meinte, mich terrorisieren zu können, nur weil ich schwul bin."

"Lass ihn in Ruhe. Ich knöpfe ihn mir morgen vor. Und wenn er's nicht einsieht, dann werde ich ihm mitteilen, dass er sich wieder bei Ehrenberger melden kann. Ich bezweifle allerdings, dass wir dann Ersatz für die beiden bekommen. Verdammt! Ich habe doch schon versucht, eure Dienste so zu legen, dass ihr euch nicht in die Wolle kriegen könnt. Kann das nicht ein Mal gut gehen?"

"Sag das nicht mir, sondern Kallenbach."

"Das werde ich. Und zwar klar und deutlich. Denn Bechthold hat euch vielleicht übersehen, aber Ursula nicht."

"So eine verdammte Scheiße! Woher weißt du das?"

"Wir haben heute der Buchhandlung einen kleinen Besuch abgestattet. Außer, dass wir massig Geld für Bücher ausgegeben haben, haben wir nicht wirklich was rausbekommen. Und dass Ursula dich gesehen hat, ist auch nur eine Vermutung von mir."

"Und wie wird es jetzt weitergehen?"

"Ich werde deine Fotos auch an die anderen Kollegen weiterleiten, mit der Empfehlung, dem Trio aus dem Weg zu gehen. Wir können auch nicht zu denen hingehen und ihnen empfehlen, sich von Bechthold fernzuhalten. Wer weiß, was für Hintermänner die haben. Ansonsten kann ich im Moment nicht viel machen. Wie du selbst weißt, haben wir nichts gegen sie in der Hand. Und wir haben schon zu wenige Leute, um uns um Bechthold und Konsorten zu kümmern. Es tut mir leid. Dafür hast du bei mir noch einen gut."

Mike nahm diese Entscheidung erstaunlich gelassen auf.

"Irgendwie habe ich damit gerechnet. Ich weiß ja selbst, was los ist. Aber was genau habe ich bei dir gut?"

Der will noch was.

Chris kannte Mike lang genug. Und die Art, wie er jetzt herumdruckste, sagte ihm, dass es nichts Dienstliches war.

"Sag einfach, was du von mir willst, und ich sage dir, ob ich's mache. Willst du einen Kaffee?"

Die Kaffeekanne war zwar schon halb leer, aber für zwei Tassen würde es reichen. Auch wenn Chris nicht wirklich daran glaubte, dass Mike um diese Uhrzeit noch zustimmen würde.

"Machst du ihn immer noch so stark, dass der Löffel stehen bleibt?"

"Anders schmeckt er doch nicht!"

"Gut, dann pack mir viel Milch und Zucker rein."

"Und was ist mit deinen Schlafproblemen?"

"Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte man meinen, dass du dich um mich sorgst. Aber so hoch, wie mein Adrenalinspiegel jetzt ist, kann ich diese Nacht eh nicht schlafen."

Adrenalinspiegel? Quatsch, du wirst die ganze Situation noch x-mal in Gedanken durchgehen und an dir selbst zweifeln. Deswegen wirst du nicht schlafen können.

"Glaube ich nicht. Wenn du erst mal wieder von deiner Palme runter bist, wirst du tief und fest schlafen und davon träumen, wie du Kallenbach ein blaues Auge verpasst."

"Klar, dann habe ich mich soweit beruhigt, dass ich morgen viel zu nett zu dem Arsch bin."

Chris stellte die volle Tasse vor Mike ab und setzte sich wieder hin. Mike nippte einmal an dem Gebräu und verzog dann das Gesicht.

"Du machst ihn inzwischen noch stärker. Aber er ist heiß und das ist doch schon mal was."

"Okay und jetzt hörst du auf rumzuquatschen und sagst mir, was du willst!"

Aber erst als Chris den ersten Schluck getrunken hatte, schien sich Mike zum Reden zu überwinden.

"Ich habe gestern nach unserem Gespräch mit Klaus telefoniert. Und er hat dasselbe Gefühl. Es fällt mir wirklich nicht leicht, dich darum zu bitten."

Jetzt war es für Chris klar, worum es ging.

Hoffentlich merkt er nichts.

"Wenn du so um den heißen Brei herumschleichst, dann kann es sich doch nur um Eddie handeln!"

So ruckartig, wie Mike die Tasse absetzte, und die Art, wie dieser Chris ansah, machte deutlich, dass Chris voll ins Schwarze getroffen hatte.

"Nun schau mich nicht so entgeistert an. Ich kenn' dich lang genug, um zu wissen, dass es außer Klaus nur noch einen anderen Menschen gibt, für den du dich so einsetzt. Worum geht es denn?"

Bitte lass mich nicht mit Eddie zusammentreffen, das würde ich nicht ertragen.

Mike brauchte einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

"Ich habe dir ja gestern schon gesagt, dass Eddie einen Neuen, Thomas, hat und ich dabei ein seltsames Gefühl habe. Iris kann ihn nicht ausstehen. Sie behauptet, dass er kein Rückgrat hat, und Klaus sagte mir gestern, dass Thomas zu den Typen gehört, denen er niemals einen Kredit geben würde, egal wie viele Sicherheiten dieser hätte. Und da ich garantiert Ärger bekomme, wenn ich über diesen Kerl Nachforschungen anstelle-"

"... da wäre es dir lieber, wenn ich das machen würde, da Eddie und Iris sowieso nicht mehr mit mir reden."

Chris wusste nicht genau, was er sagen sollte. Mikes Bitte war verlockend. Es würde ihn wieder in Eddies Leben involvieren, konnte aber auch sehr viel Ärger bedeuten.

Aber er wusste nicht, wie viel er riskieren konnte, ohne dass Bechthold aufmerksam würde.

Nachdenklich trank er seinen Kaffee. Dann blickte er Mike an.

Dieser war sichtlich erleichtert, dass er es hinter sich hatte, war aber nervös, weil Chris sich nicht äußerte.

"Ich weiß, dass ich da viel von dir verlange, schließlich ist Eddie dein Ex..."

Mehr wusste Mike nicht mehr zu sagen.

Chris beschloss, ihm weiterzuhelfen.

"Ist er nicht auch dein Ex? Und Eddie kann sich trotz allem, was er sich damals geleistet hat, keinen besseren Freund wünschen."

Chris fuhr mit den Fingern durch seine Haare.

"Ich habe eigentlich gehofft, dass bei Eddie und mir nach dem Ende der Beziehung eine ähnliche Freundschaft übrig bleibt wie bei euch beiden, aber ich war damals einfach nicht in der Lage, das vernünftig hinzubekommen. Leider."

Wenn du den wahren Grund kennen würdest...

"Ich mach's. Aber nicht deinetwegen, sondern für Eddie."

Mike schien ein Stein vom Herzen zu fallen.

"Danke, du weißt schon wofür."

"Nicht dafür. Und jetzt musst du mir nur noch sagen, was du über diesen Thomas weißt."

"Tja, du wirst mich für verrückt erklären, aber ich habe da schon was vorbereitet."

Der Umschlag, den Chris wenige Augenblicke später in seinen Händen hielt, sah genauso aus wie der, den Mike ihn am Vortag gegeben hatte. Er balancierte ihn auf der Handfläche und schätzte die Seitenzahl. Dann sah er Mike an.

"Du hattest wirklich zu viel Zeit."

Mike hatte den Anstand, leicht zu erröten.

"Soviel, wie du denkst, ist es nicht. Hauptsächlich einige Fotos, und das, was er in Frankfurt macht. Über seine Vergangenheit habe ich nichts rausbekommen können. Er ist Schweizer und scheint weder eine Schule besucht, noch irgendwo gearbeitet zu haben. Aber seine Ausweispapiere sind echt."

Chris öffnete den Umschlag und als erstes fielen die Fotos heraus.

Gutaussehend ist er ja, ob er auch so gut im Bett ist?

Das Ziehen in seinem Magen kam nicht von ungefähr. Und Chris bereute es, auf Mikes Idee eingegangen zu sein. Denn für sein Seelenleben war diese Sache nichts.

Er vergaß vollkommen, dass Mike noch vor ihm saß, und verlor sich in Erinnerungen, denn ein Foto zeigte Thomas Arm in Arm mit Eddie. Und Eddie lachte ihn in einer Art und Weise an, die Chris zu gut kannte.

"Chris?"

Als er zu Mike schaute, sah er den besorgten Ausdruck in dessen Augen.

"Ja?"

"Eigentlich ist es ja eure Sache, denn ihr müsstet ja alt genug sein, um zu wissen, was ihr macht..."

Doch dann stockte Mike, schien nicht den Mut zu haben, weiter zu reden.

"Was willst du damit sagen?"

Egal was, es soll mich nur von dem Bild ablenken.

"Gut, du bist mein Expartner und Eddie ist mein Exfreund. Und ich kenne euch beide lange genug. So wie du dich die letzten Monate verhältst, genauso hat Eddie sich verhalten, bevor ihr ein Paar wurdet. Du bist vielleicht etwas subtiler und verpackst es besser, aber du gierst nach jeder Information, die du über Eddie bekommen kannst. Scheißegal, ob er jetzt einen Neuen hat oder seine Werkstatt erweitert. Hauptsache irgendetwas. Und dein Blick, wenn ich über ihn rede... Lange Rede, kurzer Sinn: Ich nehme es dir nicht ab, dass du nur Freundschaft für ihn empfindest. Da steckt mehr hinter. Vielleicht ist es dir nicht bewusst. So, und jetzt schmeiß mich raus."

Das saß. Mike kannte ihn viel zu gut. Und Chris wusste einfach nicht, was er dazu sagen sollte. Nur ruhig sitzen bleiben konnte er nicht. Er stand auf und lief unruhig auf und ab. Schließlich blieb er vor dem Fenster stehen und blickte hinaus. Ihm war bewusst, dass Mike ihn die ganze Zeit beobachtete.

Irgendwann brach Mike das Schweigen.

"Wieso machst du nicht mit Amanda Schluss und redest mit Eddie? Denn er liebt dich auch noch. Gut, er würde dir erst mal Feuer unterm Arsch machen und dich zappeln lassen, aber das müsste es dir doch wert sein."

Doch Chris wusste, dass es nicht ging. So sehr er es sich auch wünschte, er war noch unerfahren und hatte noch keinen einzigen echten Kampf gehabt. Das Risiko für Eddie war einfach viel zu groß.

Vielleicht, wenn ich meinen ersten Kampf überlebe, dann kann die Haselmaus wieder zum Habicht werden und ich werde um Eddie kämpfen. Aber noch ist es zu früh.

"Es geht nicht, Mike. Es heißt ja, dass heutzutage alles möglich ist. Aber das stimmt nicht. Es stimmt einfach nicht. So sehr ich Eddie mag. Es würde nicht gut gehen. Es tut mir leid."

Chris lehnte seinen Kopf an die Fensterscheibe. Sie war kalt und jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Vielleicht sollte ich einfach zu Bechthold gehen und ihn herausfordern. Wenn ich's überlebe, red' ich mit Eddie.

"Mein Angebot von gestern steht noch."

"Welches Angebot?"

"Dass ich für dich da bin, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Du scheinst alles in dich reinzufressen. Und das ist nicht gut für dich."

"Danke, vielleicht werde ich irgendwann darauf zurückkommen, aber rechne nicht heute, morgen oder irgendwann in der nächsten Zeit damit."

Das mit Bechthold lasse ich besser. Meine Chancen sind einfach zu schlecht. Und ohne Kopf nimmt mich Eddie bestimmt nicht.

"Dann werde ich halt warten. Aber ich denke, es ist besser, wenn ich mich um Thomas kümmere."

"Wieso?"

Chris drehte sich um und sah Mike direkt in die Augen.

"Glaubst du wirklich, dass ich beim Anblick von Eddies Freund ausraste und ihn verprügele? Nein, ich will, dass Eddie glücklich wird. Und dazu braucht er einen neuen Partner. Aber da du dir schon solche Sorgen machst, überprüfe ich ihn. Was du machst, wenn der Junge wirklich Dreck am Stecken hat, ist dein Problem. Ich werde mich nicht einmischen."

"Du hast dich im letzten Jahr sehr verändert, Chris. Du warst noch nie ein Weichei. Doch seitdem du dich von Eddie getrennt hast, bist du richtig hart geworden. Dir selbst gegenüber, nicht anderen gegenüber. Und ich frage mich, was dich dazu gebracht hat."

Diesem erwartungsvollen Blick konnte Chris nichts entgegensetzen. Er drehte sich wieder um und starrte aus dem Fenster. Doch antworten konnte er nicht.

"Verdammt Chris! Fahr nicht wieder alle Mauern hoch!"

Chris hörte, wie Mike aufstand, doch statt zu gehen, kam er auf ihn zu. Dann spürte er, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.

"Klaus behauptet, dass ich mein Helfersyndrom von Iris habe. Und genau wie Iris kann ich inzwischen sehr hartnäckig sein, wenn ich glaube, dass es sich lohnt. Also glaub ja nicht, dass ich dich in Ruhe lasse. Ich habe damals gedacht, dass Eddie meine Hilfe braucht und du der Arsch bist. Aber das stimmt nicht. Und was da genau zwischen dir und dieser Amanda läuft, das werde ich auch noch herausbekommen. Denn mein Instinkt sagt mir, dass irgendetwas nicht stimmt. So, und jetzt geh ich. Die Unterlagen über Thomas lass ich dir da. Du kannst dich melden, wenn du was herausgefunden hast."

Damit ließ Mike Chris' Schulter los und wollte gehen. Die Türe hatte er schon geöffnet, als Chris ihn zurück rief.

"Hast du nicht was vergessen, Mike?"

Dieser stoppte. Chris drehte sich um und grinste ihn an. Eigentlich war ihm gar nicht danach zumute, aber der verwirrte Gesichtsausdruck auf Mikes Gesicht war Belohnung genug.

"Was denn?"

"Vor lauter Helfersyndrom hast du vergessen, mich noch mal zu fragen."

"Wovon redest du? Ich weiß nicht, was du willst."

"Iris wird gar nicht glücklich sein, wenn du mich nicht fragst."

Da ging Mike ein Licht auf.

"Gott, Weihnachten! Stimmt. Was hat Engin gesagt? Hat er schon was vor?"

"Ich könnte ja sagen, dass wir über die Weihnachtstage nur dann euren Dienst machen, wenn du dein Helfersyndrom bei mir auf Eis legst. Aber ich habe das komische Gefühl, dass Klaus, Carola und Iris dann auf mich sauer sein werden, weil du dich gegen den Urlaub entscheidest."

Mike nickte zustimmend.

"Sie werden zwar sauer auf dich sein, aber für mich haben sie vollstes Verständnis. Ich bin nicht bestechlich."

"Ich weiß. Das ist eine der Eigenschaften, die ich an dir schätze. Engin hat zugestimmt. Buch den Flug und schick uns eine Postkarte."

Chris sah, dass Mike zu einer Erwiderung ansetzte.

"Und jetzt gehst du besser, bevor ich es mir noch anders überlege. Du und Engin. Ihr glaubt wirklich, dass ihr mir noch helfen könnt. Wieso solltet ausgerechnet ihr mir helfen können! Ich bin wirklich alt genug, um entscheiden zu können, dass ihr nicht die Hilfe seid, die ich brauche."

Denn es ist für euch gefährlicher, als ihr denkt. Und ich bringe euch nicht in Gefahr.

"Etwa Amanda?"

Mikes Stimme hatte einen sehr ironischen Unterton.

"Wenn du nicht zustimmst, dann müssen wir dich halt zu deinem Glück zwingen. Früher oder später haben wir Erfolg. Nacht Chris."

Bevor Chris noch etwas sagen konnte, war Mike raus und hatte ihm die Türe vor der Nase zu gemacht.

Er stand einen Moment vor der geschlossenen Tür. Dann drehte er sich mit einem Kopfschütteln um und ging zu seinem Schreibtisch.

Zeit für den Feierabend. Ich muss noch zum Training.

Als er seine Sachen zusammenpacken wollte, fiel sein Blick auf die Bilder von Thomas. Obenauf lag das Bild mit Eddie. Er hob es hoch und betrachtete es. Er studierte jede Linie von Eddies Gesicht. Dann nahm er auch die anderen Bilder und packte alles wieder in den Umschlag.

Bevor er ins Bett ging, würde er sich alles in Ruhe anschauen. Wenn dieser Thomas eine Gefahr für Eddie werden war, dann würde er es herausfinden.

Als Chris zu Hause mit seinem allabendlichen Training fertig war, holte er sich in der Küche ein Bier und setzte sich an seinen Computer. Seine Neuerwerbungen hatte er auf dem Stapel neben seiner Matratze gelegt. Inzwischen war es schon ein beachtlicher Berg, den er abarbeiten wollte.

Nach einer Stunde Recherche gab Chris auf. Entweder interessierte sich dieser Thomas nicht für Internet und Computer oder er schien wirklich nicht zu existieren.

Aber es erklärte nicht, warum es für ihn eine gültige Geburtsurkunde aus Solothurn gab, sein Name aber weder in den Abschlussklassen der örtlichen Schulen auftauchte noch in irgendeinem Verein gelistet war. Nur in einem Frankfurter Fitnesscenter war er Mitglied. Dabei war er laut Ausweis gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt und gehörte eigentlich der Internetgeneration an.

Viel zu jung für Eddie.

In der Zwischenzeit hatte Chris auch die zweite Bierflasche geleert. Nicht, dass er in irgendeiner Art und Weise betrunken war, aber es entspannte ein wenig. Es war genau das, was er brauchte, um einschlafen zu können.

Den Wecker für den nächsten Tag stellte er etwas früher, denn er wollte sich als erstes Kallenbach vorknöpfen. Chris kannte ihn lang genug, um zu wissen, dass er vor jeder Schicht im Büro einen Kaffee trank und mit Deichsel quatschte.

Dabei fragte sich Chris, worüber die beiden eigentlich redeten. Deichsel war doof wie Brot, dagegen war Kallenbach wirklich intelligent. Nur schade, dass er sie nutzte, um Mike das Leben zur Hölle zu machen.

Aber das werde ich ihm morgen austreiben. Endgültig.

Bevor er sich hinlegte, nahm er noch einmal die Fotos von Thomas und betrachtete sie. Er nahm sich vor, dem Fitnesscenter am nächsten Tag auch einen Besuch abzustatten. Vielleicht würde er da ja etwas über Eddies mysteriösen Lover herausfinden.

Das bin ich Eddie schuldig.

Doch wirklich gut schlafen konnte er nicht, dazu hatte er viel zu seltsame Träume. Am nächsten Morgen konnte er sich aber nicht mehr an den Inhalt erinnern. Er wusste aber noch, dass er in einem dieser Träume Eddie in seinen Armen gehalten hatte. Es war ein Gefühl absoluter Geborgenheit gewesen. Und dann wachte er wieder alleine auf. Ohne Eddie.

Dementsprechend gut war auch seine Laune, als er sich auf den Weg zur Arbeit machte.

Vor dem Büro, das sich vier Teams teilen mussten, blieb Chris kurz stehen. Er hörte nur ein leises Gemurmel aus dem Raum, konnte die Stimmen eindeutig dem Dreamteam zuordnen. Sie schienen, wie Chris gehofft hatte, alleine zu sein.

Chris klopfte kurz an, öffnete die Tür und trat ein.

Kallenbachs und Deichsels Gesprächsthema schien zwar spannend zu sein, denn Deichsel rollte sein Zigarillo zwischen den Finger, aber scheinbar war ihre Unterredung nicht für fremde Ohren bestimmt, denn sie verstummten abrupt als Chris hineinkam.

"Einen schönen guten Morgen. Wie kommt es, dass sich unser ‚Chef' doch einmal bei uns blicken lässt? Oder wolltest du gar nicht zu uns, sondern hast dich in der Tür geirrt?"

Kallenbach at his best. Du Arsch wirst gleich dein blaues Wunder erleben.

"Ich weiß nicht, wie du mir nach dem gestrigen Tag noch einen guten Morgen wünschen kannst."

"Meinst du wegen der Sache mit Mike und Bechthold?"

Chris konzentrierte sich voll und ganz auf Kallenbach. Er brauchte keinen Blick an Deichsel zu verschwenden, denn der war nicht intelligent genug, um aus eigenem Antrieb zu handeln. Dafür spurte er nach Kallenbachs Befehlen. Kallenbach bräuchte nur mit der Augenbraue zu zucken und Deichsel würde springen. Egal, wie groß die Gefahr für ihn wäre.

"Was sollte ich sonst meinen?"

"Hätte ja sein können, dass die französischen Kollegen sich doch mal mit deiner Freundin beschäftigt hätten. Erst einen ehemaligen Autoschieber und jetzt eine Diebin. Und dabei fällst du auch noch die Karriereleiter nach oben. Ich frag' mich nur, wie du das machst."

Kallenbach setzte seine Kaffeetasse ab und schaute Chris herausfordernd an.

"Es tut mir leid, dass Bechthold beinahe über Mike und Carola gestolpert ist, ich habe es im Dienstplan übersehen."

Doch diese stille Genugtuung in Kallenbachs Gesicht sagte etwas ganz anderes.

"Ich hätte aber nicht gedacht, dass Niemcek wie ein braves Hündchen zu dir gelaufen kommt und alles petzt."

"Er kam eher wie eine wütende Dogge angestürmt und hat gedroht, dass du Bekanntschaft mit seinem Haken machen würdest, wenn ich nicht mit dir rede. Wenn du es so ausdrückst, dann kann man sagen, dass ich ihn für heute an die Kette gelegt habe."

"Ach? Und was willst du uns sagen? Ich habe mich auch schon bei Niemcek entschuldigt. Was soll ich denn sonst noch machen? Der gute Junge ist halt ein wenig empfindlich. Da kann ich doch nichts für."

Es reicht. Das geht zu weit.

Chris bewegte sich so schnell, dass Kallenbach zu spät merkte, was dieser vorhatte. Und als er es realisierte, da war es zu spät, denn Chris stand vor ihm, packte ihn am Kragen und schob ihn rückwärts durch den Raum, bis er die Wand im Rücken hatte.

"Okay Kallenbach. Ich sage dir eins. Sollte ich noch ein Mal eine Beschwerde von Mike und Carola über dich bekommen, dann bist du dran. Dann wirst du am eigenen Leibe spüren, was es bedeutet, mit mir Ärger zu bekommen. Und mein Auftritt damals wird im Vergleich dazu nur kalter Kaffee sein. Hast du das verstanden?"

Dass Kallenbach nur noch recht wenig Luft bekam, war Chris egal. Und als Kallenbach nicht reagierte, da drückte er ihm ganz bewusst noch ein ganz klein wenig mehr die Luft ab.

Irgendwann nickte Kallenbach.

Als die Türe geöffnet wurde, da zuckten alle zusammen. Keiner hatte mit einer Störung gerechnet.

"Oh, Entschuldigung, ich komme später wieder."

Carola, du bist ein Schnellmerker.

Das Schloss schnappte ganz leise ein, als Carola die Tür von außen schloss.

Genauso leise waren auch die nächsten Worte, die Chris an Kallenbach richtete.

"Und sollte Mike und Carola auch nur ein Haar gekrümmt werden und ich habe den triftigen Verdacht, dass du daran nicht ganz unschuldig bist, dann pfeife ich auf sämtliche Vorschriften und mach dich so fertig, wie du es noch nie im Leben warst. Dann wirst du dir wünschen, dass ich Mike nicht an die Leine genommen hätte. Haben wir uns verstanden?"

Dieses Mal nickte Kallenbach sofort.

"Braver Junge, dann denke auch noch dran, dass ihr gut auf Bechthold aufpasst, und ich werde euch lobend in meinem Abschlussbericht erwähnen. Sind wir uns da einig?

Wieder kam von Kallenbach ein zustimmendes Nicken.

Jetzt ließ Chris los. Kallenbach griff sich an den Hals und schnappte fast panikartig nach Luft.

"Deichsel, meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, dass du dich um deinen Partner kümmerst? Ich glaube, er könnte ein Glas Wasser vertragen. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag."

Damit drehte sich Chris um und ging an Deichsel vorbei nach draußen.

Der schnappt ja fast genauso nach Luft wie Kallenbach. Das macht ihn aber auch nicht attraktiver. Wenn er doch nur etwas Hirn hätte…

Die Tür schloss er fast lautlos.

Und sah in die grinsenden Gesichter von Mike und Carola.

"Wollt ihr einen Kaffee? Ich lad euch ein. Das Büro würde ich an eurer Stelle heute nicht betreten."

"Wieso? Carola sagte mir gerade, dass du ihnen den Marsch geblasen hast."

"Stimmt, aber man soll den beiden auch etwas Zeit geben, das Ganze zu verarbeiten. Deichsel ist da nun mal nicht der schnellste."

Das Grinsen auf ihren Gesichtern wurde noch eine Spur breiter und sie folgten Chris kommentarlos in sein Büro.

Engin war auch schon da und hatte den Kaffee aufgeschüttet. Als er sah, wer hinter Chris reinkam, zog er nur die Augenbraue hoch.

"Morgen zusammen. Stimmt das, was die Buschtrommeln verkünden?"

"Was sagen denn die Buschtrommeln?"

"Die Kurzversion lautet, dass Mike gestern Kallenbach über Funk zusammenscheißen wollte, weil er euch gefährdet hat, er euch aber mit 'ner sehr lahmen Ausrede den Wind aus den Segeln genommen hat."

Chris hatte zwischenzeitlich zwei Tassen für Carola und Mike gefüllt. Er selbst musste darauf verzichten, weil sie nicht mehr Geschirr hatten. Während sich Carola und Mike ans Fensterbrett lehnten, setzte Chris die Kaffeemaschine noch einmal an.

Mike setzte zu einer Antwort an, bekam aber von Carola einen leichten Stoß in die Seite, der ihn verstummen ließ.

"Das stimmt. Und es reicht uns endgültig. Die beiden sind reif, wenn die noch mal einen gehässigen Kommentar von sich geben. Aber so, wie Chris die beiden eben rund gemacht hat, werden wir wohl lange Ruhe haben."

Den entrüsteten Blick seines Partners versuchte Chris zu ignorieren. Inzwischen hatte er sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt.

"Das ist gemein, Chris! Diese Show hätte ich zu gerne gesehen!"

"Oh, ja! Du hast da was verpasst. Ich bin zufällig in ihre Auseinandersetzung hineingeraten, aber das was ich gesehen habe, hat mir sehr gut gefallen."

Hörte er da richtig? War da in ihren Worten eine Anspielung? Fragend blickte Chris zu Mike. Der musste schließlich am ehesten wissen, was seine Partnerin dachte, doch der zuckte bloß mit den Schultern.

"Soviel war doch da gar nicht zu erkennen. Würde mich wundern, wenn du mehr als meinen Rücken gesehen hättest."

"Ja, aber auch ein schöner Rücken kann entzücken, besonders wenn die dazugehörige Hand Kallenbach die Luft abdrückt. Ach, ich wäre gerne geblieben, aber ich hielt es für ratsam, dass du das Ding alleine durchziehst."

Wie lange ist Carola eigentlich schon solo? Sie braucht einen Mann! Unbedingt!

"Danke."

"Dafür brauchst du mir nicht zu danken. Aber der Blick auf Deichsels Gesicht war auch schon Gold wert."

"Ja, wie ein Fisch auf dem Trockenen."

Und alle lachten.

Chris tat es leid, dass er diese fast schon ausgelassene Stimmung zerstören musste.

"Mike, Carola! Müsst ihr nicht so langsam die Jungs von der Nachtschicht ablösen?"

"Ich habe gestern Abend noch Schmidtchen angerufen und ihm gesagt, dass Mike und ich wahrscheinlich etwas später kommen würden, weil wir noch ein Hühnchen mit Kallenbach zu rupfen hätten. Da wusste ich aber nicht, dass Mike dich eingeschaltet hatte. Wir können also noch in Ruhe unseren Kaffee trinken."

"Wow, du denkst aber auch an alles."

Und Chris fing auch noch den bewundernden Blick auf, den Engin Carola zuwarf. Und die Art, wie sie zurückblickte.

Oh nein! So dringend nun auch nicht! Nicht mit Engin.

Da musste Chris noch ein ernsthaftes Wort mit Engin wechseln, denn wenn dieser wirklich auf den Gedanken kam, sich auf Carola einzulassen, dann würde er schneller unter dem Pantoffel stehen, als er Piep sagen konnte.

Engin schien aber Chris' warnende Blicke nicht zu bemerken, denn er ging direkt zum Angriff über.

"Sehr lange können wir hier aber trotzdem nicht mehr sitzen. Was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend irgendetwas zusammen unternehmen? Zum Beispiel schwimmen gehen. Dann könnten wir auch Thorsten mitnehmen."

Oh nein!

Doch Carola stoppte ihn. Es schien aber Bedauern in ihrer Stimme zu liegen.

"Tut mir leid, wir sind heute bei meiner Mutter zum Abendessen eingeladen. Da kann ich nicht absagen. Aber wir sollten mal einen Termin ausmachen, wenn wir alle Zeit haben."

"Dann lass uns doch mal ein dienstfreies Wochenende raussuchen und wir fahren Chris in Paris besuchen. Es wird doch Zeit, dass wir seine Amanda nicht nur von irgendwelchen Fahndungsaufrufen kennen lernen."

Du Mistkerl! Das gibt Rache.

Mike wollte wohl seine Drohung vom Vortag unbedingt wahr machen und Chris blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

"Sicher, sagt Bescheid, wann ihr aufschlagen wollt, dann bereite ich für euch die Gästezimmer vor."

"Das hört sich doch richtig klasse an. Nur schade, dass ich solo bin, denn mit einem netten Mädel wäre es doch doppelt so schön."

Dabei versuchte Engin, Carola einen schmachtenden Blick zuzuwerfen, den sie aber nicht bemerkte, da sie Chris anschaute. Dann schien sie seine Taktik durchschaut zu haben.

"Und wo Chris jetzt weiß, was wir vorhaben, wird er unsere Dienste so legen, dass wir in den nächsten Monaten garantiert kein freies Wochenende haben."

"Spätestens Weihnachten habt ihr frei!"

"Klar, aber nur weil ihr dann unseren Dienst übernehmt und wir dann in Norwegen sind!"

Dafür bekam Mike einen undefinierbaren Blick von Carola.

"Was verschweigst du mir? Wieso übernehmen die zwei unseren Dienst und seit wann fährst du nach Norwegen?"

"Nicht ich, wir!"

Carola stellte die Kaffeetasse hinter sich, stemmte die Hände in die Seite und schaute Mike herausfordernd an.

"Jetzt hör auf, in Rätsel zu sprechen, und sag, was los ist."

"Ich wollte es dir heute erzählen, denn ich habe erst gestern Abend von Chris die Zusage bekommen, dass die Zwei wirklich für uns einspringen. Kurz gesagt, Iris hat ihr Traumhaus in Norwegen gekauft und will dort mit uns allen Weihnachten feiern. Sie war so intelligent, erst letzten Freitag mit dem Plan rauszurücken, wo eigentlich schon feststand, dass wir über Weihnachten Dienst haben. Und ich wollte es dir erst sagen, wenn ich irgendjemand gefunden hatte, der für uns die Schichten übernimmt. Ich wollte euch nicht enttäuschen, wenn es doch nicht klappt."

Statt einer Antwort fiel Carola Mike um den Hals und knutschte ihn ab.

"Hey! Was ist mit uns? Schließlich opfern wir uns für euren Urlaub."

"Wenn du nicht so faul auf deinem Allerwertesten sitzen würdest, dann bekämst du auch eine Umarmung, aber so…"

Carola schien Mike gar nicht los lassen zu wollen und knuddelte ihn durch. Was dieser sich auch gerne gefallen ließ.

Engin sah ein, dass er im Moment keine Chancen hatte, und wandte sich zu Chris.

"Dich brauche ich doch gar nicht zu fragen, ob du heute mit mir schwimmen gehst."

"Stimmt, aber ich bin heute nicht im Kampfsportcenter. Mike hat einen Job für mich."

Das ist die Rache für Paris.

"Habe ich da irgendetwas verpasst? Wenn Mike dich überredet, den Urlaub zu tauschen, und dich dann noch für irgendetwas einspannt… Ich ahne Schreckliches. Wenn Klaus nicht da ist, dann kommt er immer auf dumme Ideen."

Carola löste sich von Mike, nahm ihre Kaffeetasse und schaute Chris an.

"Er macht sich Sorgen um Eddie und hat mich gebeten, mir seinen Neuen etwas näher anzuschauen."

"Und macht dabei den Bock zum Gärtner. Mike, das war keine gute Idee von dir."

Interessiert beobachtete Chris die Blicke, die die Zwei wechselten. Carola schien gar nicht mehr so glücklich zu sein.

"Du mit deinem Helfersyndrom! Das wird ja immer schlimmer! Oder hast du es mir bisher immer erfolgreich verheimlicht? Komm, wir können Pauly nicht ewig warten lassen. Danke für den Kaffee und dass du Kallenbach zurecht gestutzt hast, Chris. Wir müssen jetzt…"

Carola hatte sich vor Mike aufgebaut und sah ziemlich sauer aus. Auch Mike war das nicht entgangen.

"Ähm, ja, ich glaube da verweigere ich die Antwort, Carola. Sonst petzt du alles Klaus."

Damit drehte er sich um und stellte seine Tasse neben die Kaffeemaschine ab.

"Rufst du mich denn an, wenn du was rausgefunden hast, Chris?"

Chris fand es schon amüsant, wie resolut Carola inzwischen mit Mike umsprang und besonders witzig fand er Engins Gesicht nach dieser Szene. Das Kapitel Carola war abgehakt, noch bevor es begonnen hatte.

"Sicher, ich habe gestern noch etwas im Internet recherchiert, aber nichts über seine Vergangenheit herausbekommen. Dafür aber ein Fitnessstudio, wo er gelistet ist. Das werde ich heute Abend persönlich überprüfen."

"Noch mal danke für alles."

"Schick mir eine Postkarte und dann sind wir quitt. Du hast mich mit deiner Bitte vor einem Drachen gerettet."

Mike konnte nicht mehr viel sagen, denn Carola schob ihn vor sich zur Tür raus. Als sie weg waren, konnte sich Engin einen Kommentar nicht verkneifen.

"Was meinst du? Grün-blau?"

"Nee, ein fluffiges Gelb."

"Kann auch sein. Fragt sich nur, ob er den Pantoffel von Klaus oder Carola bekommen hat. Was ist nur in ihn gefahren? Der weiß sich doch sonst zu wehren."

Mit einem dicken Grinsen im Gesicht stand Chris auf, holte Mikes Kaffeetasse und füllte sie. Er war zu faul, um sie in der Küche zu spülen.

"Ich denke, dass Carola Recht hat. Wenn Klaus weg ist, dann denkt er zuviel nach und kommt auf dumme Gedanken. Denk nur an seinen Alleingang, den er sich mit den Buchhändlern geleistet hat. Und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen und versucht, alles mit viel Geduld zu überstehen."

"Und wenn er sich auch noch in Eddies Leben einmischt... Wie kommt es, dass er ausgerechnet dich darum bittet, sich darum zu kümmern?"

Chris setzte sich wieder hin und nahm die Akte, die er zuletzt bearbeitet hatte.

"Weil Thomas mich nicht kennt und ich eh schon Streit mit Iris und Eddie habe…"

"Und ich weiß, warum du Iris zuerst genannt hast. Warum müssen die interessanten Frauen eigentlich immer so anstrengend sein?"

"Woher soll ich das wissen?"

Engin schien auch nicht wirklich eine Antwort erwartet zu haben. Und Chris konnte sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren.