Eddies Neuer
Normalerweise war es immer Chris, der als letzter Feierabend machte. Aber heute hielt er es nicht mehr aus. Denn seine Neugierde war ins Unermessliche gestiegen.
Deshalb packte er bereits um kurz vor sechs seinen Kram zusammen und machte sich auf den Weg zum Fitnesscenter. Engin hatte nur kurz hochgeschaut und ihm eine gute Jagd gewünscht.
Bevor Chris das Center betrat, wartete er einige Zeit in sicherer Entfernung im Auto und beobachtete das Gebäude. Auch wenn es nieselte, die Zeit nahm er sich. Er konnte nichts Verdächtiges feststellen. Auch all die Leute, die um diese Uhrzeit hineinströmten, wirkten ganz normal.
Alles im grünen Bereich.
Doch Chris ging auf Nummer sicher. Er funkte kurz das Team an, das gerade Bechthold observierte, und fragte nach, wo dieser sich aufhielt. Da er dies auch während der Arbeitszeit immer wieder mal machte, fiel es niemandem auf. Dann stieg er aus, zog seinen Staubmantel an und suchte den Hintereingang, den er auch schnell fand. Seit dem Fiasko bei der Vernissage mied er Gebäude, wo er keinen Fluchtweg hatte.
Als er dies gecheckt hatte, kehrte er zum Auto zurück und holte seine Sporttasche. Er wollte nach einem Probetraining fragen und sich unauffällig umhören. Er hegte keine Hoffnung, dass er direkt am ersten Abend etwas Wichtiges erfahren würde. Aber er hatte vor, sich in den nächsten Wochen jeden Abend dort blicken zu lassen.
Falls sie ein gutes Kampfsporttraining hatten, wäre es eventuell sogar eine Alternative zum Kampfsportcenter, denn er hatte das Gefühl, dass die Trainer ihm dort nicht mehr viel beibringen konnten.
Peinlich für sie, denn ihr Niveau ist nicht so hoch, wie ich damals gedacht hatte.
Nachdem er jedoch hineingegangen war und zum Empfang ging, wurde ihm klar, dass sein Plan nicht gut genug war.
Scheiße! Das ist ein Buzz!
Der Drang, sich nach dem anderen Unsterblichen umzusehen, war groß. Bei seinem Anruf vorhin war Bechthold noch in einem Meeting. Und für die Strecke von seiner Firma bis zum Fitnesscenter brauchte man mindestens eine halbe Stunde
Ich bin reingekommen, also ist klar, dass ich der Unsterbliche bin. Scheiße verdammte. Na, zumindest kann ich mir das Versteckspiel sparen... Und vielleicht ist der andere dumm oder überrascht genug, sich zu verraten.
Aber er sah niemanden, der sich in irgendeiner Art und Weise seltsam verhielt.
Um bei den restlichen Besuchern nicht weiter aufzufallen, ging Chris zur Rezeption, um sich anzumelden.
Doch dann bemerkte er einen großgewachsenen Mann, der zum Hinterausgang ging. Allerdings ohne sich vorher umzuziehen und mit der Sporttasche in seiner Hand. Und dieser Typ hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Eddies neuem Freund.
Sag, dass das nicht wahr ist! Eddie, du hast einen lausigen Geschmack!
Wenn er nicht sofort reagieren würde, dann wäre der Kerl weg. Er schenkte dem verdutzten Mädel, bei dem er gerade einchecken wollte, noch ein entschuldigendes Lächeln, schnappte sich seine Tasche und ging raus.
Die Tasche ließ er direkt am Eingang fallen und joggte zum Hinterausgang. Chris war froh, dass er inzwischen mit dem Schwert im Mantel laufen konnte, so dass man weder man weder seine Bewaffnung sah, noch dass er sich verhedderte und über sein Schwert stolperte, im schlimmsten Fall sogar hinfiel. Anfangs war ihm das oft genug passiert.
So sehr er auch übte, mit einer Tasche als zusätzliches Handicap konnte er es immer noch nicht.
Als er um die Ecke bog, war Thomas noch in Sichtweite. Chris beschleunigte seinen Schritt, um ihn einzuholen. Doch er wurde bemerkt und Thomas ließ seine Tasche fallen und sprintete los. Chris ließ ihn laufen und achtete nur darauf, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Da er sich in der Gegend auskannte, bestand für Chris keine Gefahr, in eine Falle zu geraten.
Und da er immer noch den Buzz im Kopf hatte, wusste er, dass er den Richtigen verfolgte.
Thomas bugsierte sich selbst ins Aus, als er nach einer Viertelstunde in eine Sackgasse einbog.
Chris legte an Tempo zu und versuchte, ihn einzuholen, bevor er sich in die Spielhalle am Ende der Straße rettete.
Aber er hatte nicht mit der Reaktion seines Gegners gerechnet.
Gerade wollte er ihn am Arm fassen, als dieser sich umdrehte und mit einem Messer zustach.
Chris, du bist ein Idiot! Du läufst gerade zum zweiten Mal in ein Messer rein!
Im Vergleich zu dem, was Chris jeden Sonntag mit Adam erlebte, war dieser Schmerz harmlos, auch war der Stich nicht wirklich gezielt gewesen. So wie es sich anfühlte, war das Messer an der untersten Rippe abgeglitten, und hatte nur eine Fleischwunde verursacht, ohne irgendwelche Organe zu verletzen.
Und mein Mantel hat die meiste Wucht abgefangen.
Chris ignorierte den Schmerz und griff an. Er vergaß vollkommen, dass er sich den Typen eigentlich nur hatte anschauen wollen und dass er ihn in die Enge getrieben hatte.
Mit einem Tritt entwaffnete er ihn und ein Schlag in den Magen ließ seinen Gegner gegen die Wand prallen. Eine Sekunde später hatte er sein Schwert gezogen und hielt es an Thomas' Kehle.
Ich bin schneller!
Doch was er sah, als er Thomas so in die Mangel nahm, verschlug ihm fast den Atem. Der Kerl schaute ihn mit einem flehenden Blick an, so dass er wie ein unschuldiger kleiner Junge wirkte.
Dabei war der Körper alles andere als unreif. Chris schätzte ihn auf knapp 1,90 Meter. Und jeder Zentimeter strahlte Sex pur aus. Und doch wirkte Thomas so unschuldig. Als ob er darauf warten würde, von ihm entjungfert zu werden.
Was überlege ich da gerade?
Dieses Mal musterte Chris seinen Gegenüber kritischer und versuchte, ihn zu fassen. Aber es ging nicht. Da war diese Mischung aus Panik, Unschuld und Sexappeal, die dieser Mann ausstrahlte, aber Chris hielt es für eine Fassade.
Denn jemand, der so schnell auf eine mögliche Bedrohung reagierte und sich aus dem Staub machen wollte, der hatte mehr Erfahrung im Wegrennen, als Chris jemals bekommen wollte.
Und in seinem Hinterkopf spuckte noch die Erinnerung an sein erstes Training mit Adam herum. Da war er der Unterlegene gewesen und hatte versucht, genau diesen Trick anzuwenden. Nur war er noch nicht einmal halb so gut gewesen wie Thomas. Im Nachhinein wunderte sich Chris, dass Adam überhaupt darauf reingefallen war.
Oder hat er mir damals etwas vorgespielt, um herauszufinden, wie weit ich gehe?
"Bitte!"
Die Stimme hatte ein samtiges Timbre, bei dem Chris normaler Weise ein Schauer über den Rücken gelaufen wäre. Aber nicht jetzt. Jetzt wollte er wissen, was hinter der Fassade steckte. Andererseits interessierte ihn auch, wie weit Thomas gehen würde. Schließlich war er ja Eddies Lover. Deswegen ging Chris erst mal auf dieses ‚Spiel' ein.
"Bitte was?"
Sein Tonfall war noch härter und rauer, als er beabsichtigt hatte. Aber es hatte eine Wirkung auf Thomas. Er zuckte zusammen und schien vor Angst zu schrumpfen.
"Bitte töten Sie mich nicht!"
"Und was für einen Grund sollte ich haben, dich nicht zu töten?"
"Ich bin unbewaffnet, das wäre kein fairer Kampf. Ich gebe Ihnen, was Sie wollen, aber bitte lassen Sie mich am Leben."
Sicher doch, mein ‚Kleiner', aber aus anderen Gründen, als du denkst.
Dass Thomas' Zunge rein zufällig in einer äußerst erotischen Art und Weise die Lippen befeuchtete, hatte Chris fast schon erwartet.
Sämtliche Aggressionen waren verflogen. Dafür war die Show, die ihm gerade geboten wurde, einfach nur zu gut. Und Chris gestand sich ein, dass er sie genoss, auch wenn er nicht vorhatte, mit Eddies Freund etwas anzufangen. Aber der Gedanke, etwas zu besitzen, was auch Eddie besaß, war verführerisch.
Doch Chris widerstand dieser Versuchung, denn er hatte sich geschworen, dass nur ein einziger Mann für ihn in Frage kam.
Und dass er diesen Mann irgendwann zurückbekommen würde.
Auch wenn es nur ein Wunschtraum ist.
Mit einem Grinsen ging er bei Thomas auf Tuchfühlung.
"Ich wüsste da etwas, was ich von dir haben will."
Dabei glitt seine freie Hand fast schon liebkosend über dessen Körper. Thomas wehrte sich nicht. Er blieb passiv und schien trotzdem den Eindruck zu erwecken, Chris' Berührungen zu genießen. Doch nicht lange. Denn als Chris das erste Messer aus einer verborgenen Tasche am Oberschenkel zog, da versteifte er sich. Und als Chris sein Schwert senkte, es wieder in den Mantel verstaute und Thomas in den Polizeigriff nahm, da ließ der die Maske fallen und versuchte, sich zu wehren.
Doch er hatte keine Chance. Dafür war er einfach nicht gut genug. Er schien schon mal trainiert zu haben, aber gemessen an Chris' Trainingsstand waren seine Reflexe einfach nur lausig.
Nachdem Chris seine Durchsuchung beendet und alle Waffen entfernt hatte, ließ er ihn los, achtete aber darauf, Thomas keine Fluchtmöglichkeit zu bieten.
"So, du wolltest mir alles geben, was ich will. Steht dein Angebot immer noch?"
"Verdammt! Wer sind Sie und was wollen Sie? Wenn Sie meinen Kopf wollen, dann nehmen Sie ihn. Aber mich bekommen Sie nur, wenn Sie mich auch anschließend laufen lassen."
"Ich will weder dich, noch deinen Kopf."
Ganz gelassen verschränkte Chris seine Arme vor der Brust und wartete ab.
Er wurde mit einem taxierenden Blick belohnt, der so gar nicht zu diesem jungen Körper passte. Und der unschuldige Ausdruck war auch verflogen.
"Was wollen Sie denn? Geld habe ich keins und irgendwelche besonderen Fähigkeiten auch nicht. Ich bin ein schlechter Schwertkämpfer und meine Selbstverteidigung ist auch miserabel. Meine Ausweispapiere habe ich noch nicht mal selbst gefälscht, sondern von einem Profi machen lassen."
"Nein, das will ich auch nicht. Aber deine Körpersprache ist einfach nur genial. Bring mir bei, wie man so unschuldig und unerfahren wirkt. Dann lass ich dich laufen."
Bechthold wird sein blaues Wunder erleben.
"Was soll denn das? Sie haben es doch gar nicht nötig, so eine Show abzuziehen! Ich dagegen muss all meine Fähigkeiten einsetzen, um überhaupt am Leben zu bleiben. Ich weiß nicht, wie Sie Ihre ersten Jahre als Unsterblicher überlebt haben, aber für mich ist das der einzige Weg, da selbst mein Lehrer meinte, dass ich in einem ehrlichen Kampf auch nach einhundert Jahren Training keine Chance hätte, weil ich zu langsam bin."
"Wie lange hat er dich denn unterrichtet?"
"Was interessiert es Sie denn? Verdammt! Ich hasse es, solche Tricks anzuwenden, aber ich will nicht sterben. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ich mich für mein Überleben prostituiere und bestimmt nicht das letzte Mal. Und doch…"
Aber Thomas sprach nicht weiter. Und Chris wusste ‚dank' seines ersten Trainings mit Adam viel zu genau, was jetzt in dessen Kopf vorging. Dabei war der Ekel, so etwas zu machen, noch das geringere Problem.
"Komm, ich lad' dich zu einem Bier ein. Du kannst dir aussuchen, wo wir es trinken. Ich bin übrigens Christoph Schwenk, aber du kannst mich Chris nennen."
Thomas' Blick war abschätzend. Doch dann nickte er.
"Irgendwo hier in der Nähe gibt es einen kleinen Pub. Ich kenne mich aber nicht gut genug aus, um zu sagen, wo es ist. Man ist dort ungestört und kann sich gut unterhalten. Und ich bin Thomas Patane. Ob du mich Thomas, Tom oder Tommy nennst, ist mir egal. Ich mag alle Versionen."
"Meinst du den Irish Pub, ‚The Puddys'?"
Thomas nickte wieder.
"Dann bist du eben in die falsche Richtung gelaufen. Wir müssen am Fitnesscenter vorbei, um dorthin zu kommen. Dann können wir auch gleich unsere Sporttaschen wieder einsammeln. Vorausgesetzt, sie haben keine Beine bekommen."
Ohne einen weiteren Kommentar von Thomas abzuwarten, drehte Chris sich um und ging zurück zum Fitnesscenter. Er ließ Thomas die Möglichkeit, sich jederzeit aus dem Staub zu machen, aber dieser tat es nicht.
Erstaunlicher Weise waren beide Taschen noch da und Chris und verstaute seine im Auto. Dann wartete er auf Thomas, der auf der Rückseite des Gebäudes geparkt hatte.
Ich sollte auch in der Nähe des Hinterausgangs parken.
Als dieser ihn eingeholt hatte, wollte Chris sich umdrehen und mit ihm zum Pub gehen. Doch Thomas hielt ihn am Arm fest.
"An deiner Stelle würde ich in diesem Aufzug nicht in eine Kneipe gehen."
"Wieso? Was stimmt daran nicht?"
"Dein Hemd ist voller Blut!"
"Scheiße! Schon wieder eins ruiniert! Und ich hasse es, Hemden zu kaufen."
Eddie hatte es ausgesucht. Damals in San Francisco, kurz bevor…
Von diesem Einkaufsbummel waren nur noch wenige Teile übrig geblieben. Wenn Chris geahnt hätte, dass es zu einer Konfrontation kommen würde, dann hätte er es niemals angezogen.
Um nicht weiter nachzudenken, öffnete Chris den Kofferraum und wühlte in der Tasche. Das schwarze T-Shirt, das er herauszog, war zwar nicht wirklich warm, aber würde weniger Aufsehen erregen. Zwei Minuten später war er umgezogen. Er warf nur einen kurzen Blick auf die Stelle, die Thomas mit seinem Messer erwischt hatte. Die Wunde musste ein Kratzer gewesen sein, denn sie war verheilt. Dabei spürte er die ganze Zeit Thomas' Blicke auf seinem Körper.
Als Chris sich umdrehte und Thomas ansah, erwiderte er den Blick. Und Chris fragte sich, wie lange Thomas schon auf diese Art und Weise um sein Überleben kämpfte.
Dann verliere ich lieber meinen Kopf als so zu leben.
Doch er fand nicht die richtigen Worte, deswegen hielt er seinen Mund und ging schweigend vor.
Im Pub setzten sie sich in eine Nische. Links und rechts von ihnen waren die Tische unbesetzt. Das erste Bier tranken sie schweigend. Chris wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. Und Thomas schien ähnliche Probleme zu haben.
Irgendwann verlor Chris die Geduld.
Jetzt oder nie.
"Es tut mir leid."
"Bitte?"
"Dass ich dich verfolgt habe. Ich bin kein Kopfjäger. Aber ich musste einfach wissen, wer hinter dem Buzz steckte. Da du mich erkannt hast, als ich reinkam, musste ich herausfinden, wer du bist."
Thomas spielte mit seinem Bierglas und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Langsam machte Chris sich Sorgen. Sorgen um diesen Mann, den er vor einer halben Stunde fast umgebracht hatte, weil er ein anderer Unsterblicher war und ganz besonders weil er etwas mit Eddie hatte.
Ich bin verrückt! Und sollte mich von Mike fern halten. Das Helfersyndrom ist ansteckend.
Doch dann sah Thomas auf und schaute ihn an. Es war ein offener und ehrlicher Blick.
"Ich kann es verstehen. Und zu entschuldigen brauchst du dich auch nicht. Schließlich habe ich auch versucht, dich niederzustechen."
Chris machte eine abwehrende Handbewegung.
"Das war gar nichts. Eigentlich nur ein Kratzer, der ziemlich geblutet hat. Ich habe beim Training schon schlimmere Verletzungen gehabt."
"Das ist etwas, was ich immer vermeiden will. Es tut Hölle weh, wenn ich mich verletze, und ich hasse Schmerzen. Gott, wieso kann ich nicht in Ruhe mein Leben leben? Wieso muss es dieses verdammte Spiel geben? Es ist doch schon Strafe genug, dass ich alle paar Jahre alle Brücken hinter mir abbrechen und wieder von vorne anfangen muss."
Er ist also älter als ich.
"Das kann ich nur zu gut verstehen. Denn es dauert nicht mehr lange, bis ich hier meine Brücken abbrechen muss und ich habe jetzt schon Angst vor diesem Moment."
Dass Amanda ihn davor gewarnt hatte, einem anderen Unsterblichen sein wahres Alter zu verraten, war Chris sehr wohl bewusst. Aber er hatte das Gefühl, dass Thomas diese Information nicht gegen ihn verwenden würde.
Eddie vertraut ihm. Und ich weiß, warum weder Mike noch Klaus ihn fassen können, er ist halt unsterblich.
"Einen Moment!"
Thomas hatte seine passive Haltung aufgegeben und sah Chris ganz genau an.
"Willst du damit sagen, dass-"
"Das Geburtsdatum in meinem Personalausweis der Wahrheit entspricht. Ja, das wollte ich damit ausdrücken."
"Du willst mich verarschen. So schnell wie du dich bewegt hast und vor allem WIE du dich bewegt hast, so kämpft kein Anfänger."
Bei meinem Lehrer bleibt man nicht lange ein Anfänger.
Aber das behielt Chris für sich. Er wollte Thomas ja nicht seine ganze Lebensgeschichte erzählen.
"Ach? Wie viele Kämpfe hast du denn schon überstanden, um das beurteilen zu können?"
Die Antwort wurde von Thomas fast geflüstert. Es schien ihm peinlich zu sein.
"Noch keinen einzigen. Ich habe jahrelang wie ein Besessener trainiert, doch gebracht hat es nichts. Deswegen habe ich immer meine Beine in die Hand genommen und bin gelaufen, wenn ein anderer Unsterblicher auftauchte. Und wenn ich nicht schnell genug war, dann habe ich mich angeboten. Egal, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ich bin halt für alle interessant. Besonders weil ich als Unsterblicher nicht so leicht kaputt gehe wie normale Menschen. Irgendein Vorteil muss mein Aussehen ja haben. Aber manchmal wünsche ich mir, hässlich zu sein, du hast keine Ahnung, was das bedeutet…"
Chris war froh, dass in diesem Moment der Wirt kam und ihnen neue Getränke brachte. So kam er um eine Antwort herum.
Und wünschte sich gleichzeitig weit weg, denn sie begaben sich auf Terrain, das Chris einfach nur unangenehm war.
Nicht wegen des Themas an sich. Das hatte ihm Eddie damals abgewöhnt. Aber er verfluchte seine Unfähigkeit, die passenden Worte zu finden.
Das passiert mir im Moment viel zu oft. Ich sollte mal wieder den Macho herauskehren, dann erwartet niemand von mir eine .
"Ich habe eine Ahnung, denn mir ist beinah etwas Ähnliches passiert. Und es hat gereicht, um mir regelmäßige Albträume zu bescheren. Und ich bezweifele, ob man sich jemals daran gewöhnt."
"Ich habe mich jedenfalls noch nicht daran gewöhnt. Und dabei passiert es mir viel zu oft. Gott, jetzt sitze ich zum ersten Mal seit Jahren mit einem anderen Unsterblichen zusammen und ich lamentiere über meine Probleme. Dabei müsstest du doch auch genügend Sorgen haben, wenn du wirklich noch so jung bist, wie du gerade behauptest."
"Dafür hatte ich bis vor kurzem eine Lehrerin. Auch wenn sie nicht auf alles eine Antwort wusste, sie war auf ihre Art und Weise eine große Hilfe. Und in der letzten Zeit bin ich jedem Problem aus dem Weg gegangen."
Adam bringt mir zwar bei, was ich zum Überleben brauche, aber mit ihm werde ich bestimmt nicht über meine Probleme reden.
"Mein Lehrer ist tot. Er ist nie einem Kampf aus dem Weg gegangen und irgendwann traf er dann auf einen Besseren. Ich hasse dieses gottverdammte Spiel."
"Ich auch, denn wenn es das nicht geben würde, dann hätte ich wenigstens eine Beziehung."
So, jetzt war es raus. Chris hoffte, dass Thomas darauf reagieren würde.
Doch dieser schaute ihn nur an und schwieg.
"Habe ich einen Fettnapf erwischt? Oder warum schaust du mich so an?"
"Nein, mein schlechtes Gewissen regt sich gerade wieder."
"Komisch, ich kenne dich noch nicht lange, aber ich habe nicht unbedingt den Eindruck, dass du ein Gewissen hast."
Zum ersten Mal sah er Thomas grinsen. Nicht so wie auf dem Foto mit Eddie, aber er war eindeutig sehr amüsiert.
"Stimmt. Nicht solange es irgendwelche unsterblichen Ärsche betrifft. Aber Edgar..."
Er stockte und schien nach Worten zu suchen, trank etwas, lehnte sich zurück und sprach dann weiter.
"Du hast Recht. Besonders für mich ist es sehr riskant, eine Beziehung einzugehen. Ich wollte es auch nicht, aber es hat mich volle Kanne erwischt. Zuerst waren wir Freunde mit einem gemeinsamen Hobby. Gemeinsam einen Oldtimer zu restaurieren verbindet. Und dabei hat er mir sein Herz ausgeschüttet, was in seiner Vergangenheit beziehungsmäßig gelaufen ist. Dem Arsch, der ihm das Herz gebrochen hat, möchte ich mal gegenüberstehen. Den mach ich fertig. Und wie es dann ums Ganze ging, da brachte ich es einfach nicht über mich, ihn zurückzuweisen. Ich wollte einfach nicht, dass er schon wieder eine Enttäuschung erlebt."
Es ist meine Schuld. Und du weißt gar nicht, wie weh mir das getan hat.
Der Schmerz saß tief. Und das Wissen, dass ein andere Unsterblicher Eddie tröstete, die Nächte mit ihm verbrachte und auch neben ihm aufwachte, machte es nicht leichter.
"Liebst du ihn?"
"Es gibt Tage, da mache ich mir Vorwürfe, weil ich so egoistisch bin und bei ihm bleibe. Dann glaube ich, dass ich ihn nicht genug liebe, denn dann müsste ich in der Lage sein, ihn aufzugeben. Doch wenn er noch im Halbschlaf seinen Namen murmelt, er heißt übrigens auch Chris, und bei mir Trost sucht, dann weiß ich, dass er ohne eine Stütze kaputt geht. Deswegen bleibe ich."
Oh Gott, Eddie. Was habe ich dir angetan?
Thomas schien ein ganz anderes Problem zu haben.
"Gott, wieso erzähle ich dir das? Ich bin doch sonst keine Plaudertasche und zuviel getrunken habe ich auch nicht. Und was ich dir gerade erzähle, kannst du gegen mich verwenden. Hast du eine Droge in das Bier getan?"
Ja, das Wissen über einen Lover macht dich angreifbar. Aber ich bin der letzte, der eine Gefahr für Eddie sein könnte.
Chris schüttelte den Kopf.
"Nein, keine Drogen. Vielleicht liegt es daran, dass du weder deinen Kopf verloren hast, noch in meinem Bett bist. Wann trifft man schon einen Unsterblichen, der kein Interesse am Spiel hat? Bechthold hat es."
"Wer ist Bechthold?"
"Georg Bechthold. Er ist Russe und Inhaber der Bechthold Im- und Export GmbH mit Sitz in Frankfurt. Und leider auch ein ziemlich unangenehmer Unsterblicher. Da er sogar besser ist als meine Lehrerin Amanda, habe ich ein größeres Problem, sollte ich in seine Finger geraten…"
Thomas' Gesichtsausdruck wurde sehr nervös und alarmiert.
"Ist er groß, massig gebaut, wirkt, als ob er irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt wäre und hat eine Glatze?"
Die Beschreibung stimmte und Chris nickte. Thomas' Gesichtsausdruck veränderte sich. Chris konnte es fast schon panisch nennen."
"Verdammte Scheiße, den Mistkerl kenn' ich. Ich bin ihm vor zwanzig Jahren so gerade eben entkommen. Aber ich kann doch jetzt nicht weg!"
Thomas' Panik wich Resignation, aber Chris begriff seine Reaktion nicht.
"Bitte?"
"Ich habe zusammen mit Edgar einen Vertrag mit einem Oldtimer-Salon abgeschlossen. Der bindet mich für ein Jahr. Wenn ich das nicht durchziehe, dann geht Edgar Pleite und ich befürchte, dass er dann niemandem mehr traut. Da lasse ich mich zum ersten Mal seit Jahrzehnten auf einen Sterblichen ein und dann passiert mir das. Scheiße, Merde, fucking Bullshit."
Hatte Thomas recht? Würde sich Eddie wirklich abkapseln, wenn dieser ihn verlassen würde? Diese Frage stellte sich Chris eher rhetorisch. Er wusste, dass Thomas Recht hatte.
Wieso nur? Wieso konntest du dir keinen normalen Liebhaber aussuchen? Nur ein einziges Mal.
"Ich habe Frankfurt auch noch nicht verlassen. Auch wenn der Gedanke an Bechthold wie ein Damoklesschwert über mir hängt."
"Und wieso bist du so bescheuert? Der Kerl ist gewissenlos und ein guter Kämpfer. Normaler Weise würdest du jetzt nur noch einen Kondensstreifen von mir sehen, so schnell wäre ich weg. Wenn ich mich nicht mit Leib und Seele auf Edgar eingelassen hätte. Dabei kenne ich ihn gerade mal zwei Monate."
"Vielleicht ist er etwas Besonderes?"
"Ja und? Mein und sein Überleben sollte wichtiger sein. Aber er knabbert doch noch an dem Ende der letzten Beziehung. Wie soll er es denn verkraften, wenn ich auch noch seine berufliche Zukunft zerstöre?"
Chris rang mit sich. Wenn er Thomas dieses Angebot machte, dann würde er noch mehr Verantwortung auf sich nehmen und wenn es schief ging, dann wäre auch Eddie dran.
Wieso immer ich? Wieso pack' ich nicht einfach meine Sachen und haue ab?
Aber so einfach ging das nicht. Das fiel auch nicht mehr unter dem Begriff Helfersyndrom. Es entsprang seinem Schuldgefühl, das er Eddie gegenüber hatte. Allein wie er damals die Beziehung beendet hatte.
Amanda lag falsch. Sie kannte Eddie nicht. Vielleicht hätte ich mit ihm reden sollen. Dann wären wir jetzt noch glücklich und würden Gott-weiß-wo leben.
Doch für diese Vorwürfe war es zu spät. Jetzt musste er aus dem ganzen Schlamassel das Beste machen. Das Beste für Eddie.
"Hast du keine Reserven? Als Schweizer hast du doch keine Probleme, ein Nummernkonto zu bekommen! Und so alt wie du scheinbar bist, hast du doch genug angespart. Erzähl ihm was von einer Erbschaft in Amerika, die du nur dort antreten kannst. Und biete ihm an mitzukommen."
Thomas lachte auf. Es war ein sehr bitteres Lachen.
"Tja, meine letzte Begegnung mit einem Unsterblichen endete nicht nur in seinem Bett, sondern er hat auch mein Konto leer geräumt. Das Geschäft, das ich mit Edgar aufziehen will, hat auch egoistische Hintergründe. Ich brauche das Geld, um wieder Reserven aufzubauen. Deswegen wollte ich auch für eine gewisse Zeit sesshaft werden."
"Was ist denn an eurem Geschäft so besonders?"
"Dass ich schon an den Oldtimern geschraubt habe, als es noch Neuwagen waren. Ich kenne die Kisten in- und auswendig. Wenn ich schon nicht zum Kämpfen tauge, das kann ich. Dazu kommt Edgars Talent und eine bereits sehr gut gehende Werkstatt."
Chris hatte den Eindruck, dass Eddie sehr wichtig für Thomas war. Das war ein Grund, ihm zu vertrauen und ein Angebot zu machen.
"Was hältst du von einem Deal?"
"Ein Deal unter Unsterblichen? Vergiss es. Denn da ziehe ich immer den Kürzeren."
Damit hatte Chris nicht gerechnet.
Ich muss über Unsterbliche noch sehr viel lernen.
"Willst du es denn gar nicht hören?"
Thomas beugte sich vor und sah Chris direkt in die Augen.
"Jetzt hör mir mal gut zu. Es ist sehr angenehm, mit dir in dieser Kneipe zu sitzen und dir von meinen Sorgen zu erzählen. Aber gib mir einen guten Grund, warum ich dir in irgendeiner Art und Weise vertrauen sollte. Du bist ein Unsterblicher und somit mein Feind. Ich bin nur hier, weil ich dir dankbar bin, dass du weder meinen Arsch noch meinen Kopf wolltest. Aber erwarte keinen Deal. Never."
"Oh, dann hast du deine herzzerreißende Liebesgeschichte nur erzählt, weil du mich unterhalten wolltest? Und du hast dir alles aus den Fingern gesogen. Verdammter Mistkerl! Und ich glaube dir auch noch? Du bist ein begnadeter Schauspieler!"
Ich bringe ihn um!
Chris versuchte verzweifelt, die Wut, die in ihm hochkochte, unter Kontrolle zu bringen. Am liebsten hätte er sich auf Thomas gestürzt. Doch das ging nicht. Nicht in der Öffentlichkeit. Dafür musste er sich einen anderen Ort suchen.
Der Palmengarten wäre nicht schlecht. Eine Parkanlage, die nachts abgeschlossen war. Mit Schlössern, die er innerhalb weniger Sekunden knacken konnte.
"Und? Wie ist da oben die Aussicht?"
Erst da merkte Chris, dass er aufgestanden war. Und Thomas schien das gar nicht zu stören, denn er hatte sich bequem zurückgelehnt und die Arme vor seiner Brust verschränkt.
"Nun komm wieder von deiner Palme runter. Ich habe dich nicht angelogen, aber das Misstrauen sitzt tief. Besonders wenn du einen Lehrer hattest, der für jede Unterrichtsstunde eine ganz besondere Gegenleistung verlangte. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir sofort und bedingungslos vertraue. Irgendwie nehme ich dir nämlich den jungen und unerfahrenen Unsterblichen nicht ab. Dazu bist du zu…"
Thomas stockte. Er schien nach Worten zu suchen.
"Naja, du hast dafür die falsche Ausstrahlung. Du bist einfach zu aggressiv und zu dominant, als dass ich dir die Story abnehmen würde."
Oh Mann, und gleich erzählt er mir noch, dass ich steinalt sein soll. Wenn ich schon so auf ihn wirke, wie will ich dann jemals Bechthold davon überzeugen, dass ich von nix Ahnung habe?
"Was meinst du, warum du mir das beibringen sollst, jung und unschuldig zu wirken? Ich bin über vierzig und seit fast zwanzig Jahren im Polizeidienst. Was meinst du, wie lange man da unschuldig bleibt? Vergiss es, das gewöhnt man dir ab, wenn du als Bulle auf die Straße gehst."
"Das soll also mein Anteil an dem Deal sein. Dass ich dir beibringe, die Maske eines jungen, unschuldigen Unsterblichen aufzusetzen?"
Genau das wollte Chris von Thomas. Und keinen Deut mehr. Außer vielleicht einigen Informationen über Eddie. So konnte er nur zustimmend nicken.
"Und was kannst du mir als Gegenleistung anbieten?"
"Ich arbeite inzwischen beim Zoll im Bereich Drogenhandel und Organisierte Kriminalität. Rein zufällig überwacht meine Einsatzgruppe Georg Bechthold, der wahrscheinlich der Chef einer Russenmafia ist. Wir überwachen jeden seiner Schritte und ich kann dich warnen, wenn er in deine Nähe kommt."
Thomas schien interessiert, winkte aber nach kurzem Nachdenken ab.
"Warum solltest du das tun? Es wäre doch viel praktischer, zu diesem Bechthold zu gehen und meinen Kopf anzubieten, dafür, dass er dich in Ruhe lässt. Ich könnte es auch machen. Dann wäre ich dich und Bechthold los und brauchte noch nicht mal mit einem von euch ins Bett zu steigen."
"Das ist nicht mein Stil. Ich mache so was nicht."
Wie sollte er Thomas überzeugen, ohne preiszugeben, dass er es nur tat, um Eddie zu schützen?
"Ich mache so was nicht…", äffte Thomas Chris nach. "Oh Mann, du musst wirklich noch sehr jung sein. Denn merk dir eins: Für das Überleben macht man früher oder später alles. Egal, ob du mit jemanden ins Bett steigst oder deinen besten Freund verrätst. Das Überleben ist wichtiger."
Wieso hört er sich genauso an wie Adam? Gab es keinen anständigen Unsterblichen? War Amanda nur die Ausnahme gewesen?
Doch Thomas war noch nicht fertig. Er warf noch mal einen Blick in die Runde. Chris' Augen folgten seinen. Da sich die anderen Anwesenden aber nicht für sie interessierten, fuhr er fort.
"Glaubst du wirklich, dass ich noch keinen Kopf genommen habe, weil ich keinen Kampf hatte? Oh nein, mein Lieber. Was meinst du, wie schnell ich die Ärsche im Bett abgelenkt bekomme? Und wenn die dann denken, dass ich ihnen ‚liebevoll' durchs Haar wuschel, dann macht es knack und ihr Genick ist gebrochen. Denn die meisten wollen mich ficken und sich dann auch noch meinen Kopf holen. Und da spiele ich nicht mit. Also, gib mir einen guten Grund, warum du glaubst, dass ich dich nicht verrate und mir hinterrücks deinen Kopf hole?"
Chris hatte das Gefühl, dass Thomas ihn am liebsten anschreien würde, es aber ließ, um kein Aufsehen zu erregen. Und doch war diese Stimme eindringlich und forderte eine sofortige Antwort.
"Eddie vertraut dir. Und du sorgst dich um ihn."
Oh Scheiße! Das wollte ich doch gar nicht sagen.
Chris konnte an Thomas' Mienenspiel ganz genau erkennen, dass er Eins und Eins zusammenzählte und erkannte, was diese Zwei bedeutete.
"Das erklärt alles."
Mehr brauchte Thomas nicht zu sagen. Chris sprang auf, nahm seinen Mantel, suchte Geld raus, legte es auf den Tisch und rannte raus.
Aus dem Nieselregen war inzwischen ein Dauerregen geworden, kalt und unangenehm. Genauso wie Chris sich fühlte.
Doch nach wenigen Schritten blieb er stehen. Wegrennen brachte es nicht. Denn dazu war es zu spät.
Er hatte Thomas seine schwache Stelle preisgegeben. Und gefährdete damit Eddie. Mehr als jemals zuvor.
Aber wieso habe ich tief im Innern das Gefühl, ihm trauen zu können? Nach all dem, was er mir gerade erzählt hat. Ist meine Menschenkenntnis so falsch? Oder sind Unsterbliche wirklich nicht mit normalen Maßstäben messbar?
Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.
"Tja, ich habe heute wohl meinen sozialen Tag, denn normaler Weise wärst du jetzt tot."
Und ich wäre keine Gefahr mehr für Eddie.
"Das wäre für mich das geringere Problem. Denn wenn du genauso schlecht zielst wie eben, dann würde ich dich killen, bevor ich an der Verletzung sterbe."
Die Hand schüttelte Chris ab.
"Bei einem Kampf bestimmt, denn da gerate ich immer in Panik, aber jetzt hätte ich alle Zeit der Welt gehabt..."
Chris hoffte, dass Thomas gehen würde, wenn er ihm lang genug den Rücken zudrehte und ihn ignorierte. Aber diesen Gefallen tat er ihm nicht. Er blieb einfach neben ihm stehen und wartete ab.
Irgendwann hielt es Chris nicht mehr aus und drehte sich um.
"Und? Warum stichst du nicht zu?"
"Hat man dir schon mal erzählt, dass du verrückt bist? Du glaubst an das Gute im Menschen. Und dann... dann erzählst du mir den wahren Grund, warum du mich schützen willst, und auf einmal will ich, dass du Grund hast, an mich zu glauben. Nur wegen Edgar."
"Das ist Eddie. Er hat Iris' Talent geerbt, Unmögliches möglich zu machen. Nur nutzt er es nicht hemmungslos aus."
Die Straßenbeleuchtung spendete nur ein trübes Licht, es regnete und es war schweinekalt. Trotzdem wurde Chris warm. Ob das an dem Grinsen auf Thomas' Gesicht lag?
"Stimmt, Iris ist sehr anstrengend. Sie mag mich nicht. Und mit Edgar hat sie deshalb mehr oder weniger den Kontakt abgebrochen. Selbst Weihnachten will sie nicht mit ihm verbringen. Edgar gibt es nicht zu, aber es tut ihm weh. Kannst du mir eine Frage ehrlich beantworten?"
"Ich versuche schon die ganze Zeit, ehrlich zu dir zu sein. Aber scheinbar bin ich überzeugender, wenn ich lüge."
"Tja, wenn du dein Leben damit verbringst, deine Unsterblichkeit zu verheimlichen, dann wirst du wirklich gut im Lügen. Wie stehst du zu Edgar?"
Musste Thomas ausgerechnet das fragen? Die Wahrheit würde ihm wahrscheinlich nicht wirklich gefallen. Deswegen schwieg Chris.
"Weißt du es nicht oder willst du nichts sagen, weil du Edgar in Gefahr bringst? Mann, ich will hier nicht ewig im Regen rumstehen. Wenn du wirklich das willst, was ich denke, dann hilft dir das Schweigen nicht."
"Du bist ein Mistkerl!"
Wieso musste Chris in den letzten Tagen nur so ein Chaos der Gefühle durchleben? Erst Mike, dann Engin und jetzt auch noch Thomas, der ihn eigentlich gar nicht kannte.
Dieser quittierte Chris' Kommentar mit einem Hochziehen der Augenbrauen, jedenfalls glaubte Chris, dies erkennen zu können.
"Stimmt, aber ich glaube nicht, dass du viel besser bist. Also spuck's aus. Schließlich weißt du ja auch, was ich für ihn empfinde."
"Eben das ist das Problem."
"Ach so ist das… Ts, dabei dachte ich, dass du um ihn kämpfen würdest."
Verspotten kann ich mich auch alleine.
"Sag mal, seit wann meinen alle, mit mir über meine Gefühle sprechen zu wollen? Ich bin nicht der Typ dafür. Das ist nicht mein Ding. Und wird es auch nie sein."
"Das ist mir egal. Und ich habe keine Lust mehr. Schau zu, mit wem du den Deal machst. Mit mir nicht."
Und Thomas drehte sich um und ging und ließ Chris im Regen zurück.
Verdammt, der kann mich doch nicht so stehen lassen.
Es ging Chris nicht mehr um einen Deal und Unterricht, sondern um die Tatsache, dass Eddie mit einem anderen Unsterblichen zusammen war. Das Problem war nicht die Beziehung, sondern die Gefahr, die von Thomas ausging.
Okay, auch die Beziehung.
Doch als Thomas keine Anstalten machten, anzuhalten oder sich umzudrehen, da merkte Chris, dass er vielleicht der bessere Kämpfer war, aber Thomas ihm ansonsten haushoch überlegen war.
"Verdammt Thomas! Bleib stehen."
Doch der bog um die Ecke, als hätte er Chris nicht gehört. Wenn Chris noch irgend etwas erreichen wollte, musste er Thomas folgen. Er überwand sich und lief hinter ihm her. Doch auch als er Thomas eingeholt hatte, machte dieser keine Anstalten, stehen zu bleiben.
Dass Gewalt keine Lösung war, wurde Chris regelmäßig von Engin gepredigt; besonders wenn er seinem Computer einen harten und grausamen Tod androhte, aber hier hatte er das Gefühl, keine andere Wahl zu haben.
Und so packte er Thomas an der Schulter und drängte ihn in den nächsten Hauseingang.
"Ach? Hast du es dir anders überlegt und willst mein Angebot doch noch annehmen?"
Die Körpersprache war eindeutig. Und Chris ließ ihn los, als ob er sich verbrannt hätte.
"Thomas, lass den Scheiß! Warum spielst du mit mir?"
"Wird nicht unser ganzes Leben von einem Spiel bestimmt, in dem ich sonst nur der Looser bin?"
Aber der amüsierte Unterton schwächte die bitteren Worte ab. Doch dann wurde Thomas wieder ernst.
"Doch diesmal ist der Einsatz für dich höher. Oder niedriger. Das hängt von deiner Antwort ab."
"Gut, du bekommst, was du willst. Mein sehnlichster Wunsch ist, Eddie zurück zu bekommen. Aber ich habe weder aktive Kampferfahrung, noch bin ich ein so begnadeter Schauspieler wie du es bist. Und durch ihn oder mit ihm bin ich angreifbar und wenn ich daran denke, was Bechthold mit ihm anstellt, sollte er es jemals erfahren, wird mir übel. Also sag mir, was ich machen soll?"
"Das ist doch ganz einfach. Trainiere weiter und wenn du meinst, mit ihm fertig werden zu können, dann forderst du Bechthold heraus. Wenn du ihn besiegst, dann wirst du auch mit anderen Unsterblichen keine Probleme haben. Jedenfalls solange du es schaffst, den Typen aus dem Weg zu gehen, die meinen, dass es das Spiel wirklich gibt und dementsprechend auf der Jagd sind. Und solange bleibe ich bei Edgar und passe auf ihn auf. Ich bin eh nicht der Typ, der länger als zwei, vielleicht drei Jahre an einem Platz bleibt. Du brauchst mit mir nicht um ihn zu kämpfen, ich trete da freiwillig zurück. Und wenn Edgar die Wahl hätte... Ich weiß, wer da der Gewinner ist."
Chris ließ Thomas los und trat einen Schritt zurück.
"Und was ist, wenn Bechthold dich will, und dafür Eddie als Druckmittel nimmt? Die Gefahr ist doch immer noch da."
"Stimmt, aber im Gegensatz zu dir kann ich ihm aber deutlich klar machen, dass Edgar zwar eine nette Bettgeschichte ist, ich aber nicht mein Leben für ihn riskiere. Ein - wie sagt man es so schön- Restrisiko ist immer noch vorhanden. Aber genauso gut kann er bei einem Autounfall sterben."
Da hatte Thomas sicher recht und Chris fragte sich, ob es irgendeine Alternative gab. Aber die fand er nicht. Genauso wenig, wie er den Haken an der Sache fand. Deswegen stimmte er nach kurzem Nachdenken zu.
"Anders werde ich ihn nicht zurückbekommen, das stimmt. Aber ich frage mich, warum du mir dieses Angebot machst. Da ist doch irgendetwas faul."
"Nö, dafür habe ich bei dir einen Gefallen gut. Und das kann irgendwann für mich überlebenswichtig sein. Du weißt, was und wie ich bin. Schlag ein und Eddie ist bei mir in den besten Händen."
"Und was ist mit dem Unterricht?"
"Vergiss es. Unschuld ist nicht dein Ding. Das kriegst du nicht hin, aber ich kann dir einige Tricks zeigen, mit denen du Bechthold überzeugst, dass du absolut untrainiert bist und vom Spiel keine Ahnung hast. Den Deal würde ich eingehen."
Thomas hielt Chris seine Hand hin.
"Wieso nur habe ich das Gefühl, einen Pakt mit dem Teufel abzuschließen, wenn ich jetzt einschlage?"
Doch Thomas grinste nur und Chris ergriff dessen Hand.
Eddie ist es wert.
"Und was hast du jetzt noch vor?", wollte Chris wissen.
"Ich fahre nach Hause und nehme eine heiße Dusche. Denn mir ist kalt. Was du machst, ist mir ziemlich egal. Ich gebe dir noch meine Handynummer und wir telefonieren, wann wir uns treffen. Jetzt hab' ich meinen Planer nicht mit. Sonst noch was?"
"Wenn du so fragst... Du kannst mein Gewissen nicht beruhigen und eine heiße Dusche klingt sehr gut."
Erst als Chris zu Hause unter der Dusche stand, realisierte er, dass der Wunschtraum, Eddie irgendwann einmal in seinen Armen zu halten, sich an diesem Abend zu einer berechtigten Hoffnung gewandelt hatte.
Trotz der damit verbundenen Gefahren für Eddie.
Falls Eddie bereit ist, das Risiko einzugehen.
Denn noch einmal würde Chris seine Unsterblichkeit nicht verheimlichen und dieses Mal Eddie die Entscheidung überlassen. Er hoffte, dass sich Eddie für ihn entscheiden würde.
Aber um ihn wiederzubekommen, musste er sich selbst beweisen, dass er gut genug war, um ihn auch zu schützen.
Das bedeute aber, dass er sich einem Kampf stellen musste, wäre es nun Bechthold oder irgendein anderer Unsterblicher. Und das bedeutete, dass er einen anderen Menschen töten musste.
Kann ich das? Kann ich töten, um selber zu überleben? Oder besser, kann ich töten, um Eddie zu schützen?
Ohne zu zögern, beantwortete Chris diese Frage mit Ja und verschwendete daran keinen weiteren Gedanken; schließlich hatte er beim Training mit Adam oft genug versucht, diesen zu erwischen und umzubringen. Und wenn es ihm irgendwann gelingen würde, Adams Deckung zu durchbrechen, dann würde er hemmungslos zustechen und keine Gnade kennen.
Auch wenn er Adam nicht endgültig töten würde, hielt Chris es doch vergleichbar und war sich bewusst, jemanden umbringen zu können.
Jetzt noch mehr als jemals zuvor, denn statt des ‚einfachen' Kampfes ums Überleben hatte er jetzt wieder ein Ziel in seinem Leben. Er wollte zurück zu Eddie. Und das so schnell wie möglich.
Als er wenige Minuten später erfrischt ins Schlafzimmer kam, da schien ihn der Teddy auf seinem Bett anzugrinsen.
"Keine Bange, mein Junge, du kommst bald wieder nach Hause."
Dann merkte Chris, was er da tat und stockte.
Ich bin wirklich schon zu lange allein.
Kopfschüttelnd drehte er sich um und ging in seinen Trainingsraum. Den restlichen Abend verbrachte er mit dem Durcharbeiten komplizierter Schritt- und Bewegungsfolgen, und er machte weniger Fehler als jemals zuvor.
