Gut und Böse
Nicht das Rasseln des Weckers riss Chris aus seinem Schlaf, sondern ein stechender Kopfschmerz. Er fuhr hoch und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.
Shit, da ist ein Unsterblicher!
Chris stellte einen Rekord auf. Noch nie war er so schnell aufgestanden und in seine Jeans geschlüpft.
Auch wenn das ‚Sanctuary' Heiliger Boden war... Er ging lieber auf Nummer sicher, griff sich das Schwert, das neben dem Bett lag, und ging runter. Dabei versuchte er, sich lautlos zu bewegen, was ihm auch einigermaßen gelang. Selbst die Treppenstufen meisterte er geräuschlos, inzwischen wusste er die knarrenden Dielen zu umgehen.
Unten angekommen blickte er den Gang entlang und horchte. Es war weder etwas zu sehen, noch konnte er ein verräterisches Geräusch hören. Doch dann klingelte es an der Hintertür. Chris zuckt zusammen.
Dann entschied er sich und ging zum Hintereingang. Er sicherte die Tür, bevor er sie einen Spalt öffnete.
Zu seiner Überraschung war es Adam. Es konnte eigentlich nicht viel später als neun sein. Soweit er seinen Lehrer kannte, war es für ihn eine absolut ungewohnte Zeit.
"Moment. Ich muss die Sicherung abmachen."
Chris schloss die Tür wieder, entfernte die Kette und ließ Adam rein. Dieser zog die Augenbraue hoch, als er sah, dass Chris kaum bekleidet, mit nackten Füßen und dem Schwert in der Hand vor ihm stand.
"Ich habe dich wohl geweckt."
"Ja, wie spät ist es denn?"
So bissig, wie er jetzt nach der Zeit gefragt hatte, war es nicht mehr nötig, einen weiteren Kommentar zu Adams Feststellung abzugeben. Denn dies hätte Adam nur provoziert und Chris fühlte sich nicht wach genug, um Adam irgendwie standhalten zu können.
"Es ist viertel nach acht. Ach, habe ich dir nicht gesagt, dass ich heute recht früh vorbei kommen wollte, weil ich um sechs einen Flug nach New York habe? Entschuldige bitte, das war keine Absicht. Aber du warst gestern so schnell weg, dass ich es glatt vergessen habe."
Arschloch! Du kannst mich jetzt nicht ärgern. Ich gehe wieder ins Bett.
Chris drehte sich um, ignorierte Adam und ging wieder die Treppe hoch. Es war ihm egal, ob Adam ihm folgte oder nicht. Er hatte diese Machtspielchen im Moment einfach nur über. Vielleicht später, wenn er wach war. Aber Adam am frühen Morgen... Das war nichts, was Chris ertragen konnte.
In seinem Zimmer angekommen schlug er einfach die Tür hinter sich und vor Adams Nase zu. Er war froh, dass das dicke Holz Adams Flüche dämpfte. Chris drehte den Schlüssel im Schloss um, schob einen Stuhl unter die Klinke und zögerte.
Wenn er das jetzt durchziehen würde, dann wäre er seinen Lehrer los. Und das konnte er sich noch nicht leisten. Es war ja schon ein Wunder, dass Adam ihm überhaupt hinterhergelaufen war. Resigniert stellte er den Stuhl wieder an den Schreibtisch, drehte den Schlüssel und öffnete.
So wie ihn Adam angrinste, bedeutete es garantiert nichts Gutes.
Chris versuchte, dem zu entgehen.
"Lass mir zehn Minuten, um mich umzuziehen, dann bin ich bereit zum Training. Aber erwarte von mir um diese Uhrzeit nicht, dass ich wirklich gesprächig bin."
Adam schob Chris zur Seite und betrat das Zimmer. Doch dieses Grinsen wollte nicht von seinem Gesicht verschwinden.
"So, du bist also nur nach oben gegangen, um dich umzuziehen? Ja, ja, dann hast du auch bestimmt nichts dagegen, wenn ich im Zimmer warte?"
Wenn das meine einzige Strafe ist…
"Solange du deine Hände bei dir behältst, nicht."
"Ts, das ist nun schon so lange her… Du bist wirklich nachtragend."
Jetzt lehnte sich Adam an den Schreibtisch und kreuzte die Arme vor der Brust. Das Grinsen hatte sich gewandelt. Es war amüsierter. Und eben wegen dieses Lächelns hätte Chris ihm jetzt am liebsten noch einmal die Türe vor seiner nicht allzu hübschen Nase zugemacht. Aber da war ja noch die Tatsache, dass er sein Lehrer und Chris auf das Training angewiesen war.
"Nicht wirklich, aber bei dir… Ich habe da so meine Erfahrungen gemacht."
Chris war nicht prüde, aber so, wie er von Adam beobachtet wurde, während er sich aus dem Schrank seine Sachen suchte und als er den ersten Knopf der Jeans öffnete, um sie auszuziehen, war es ihm wirklich unangenehm.
So hat mich noch nicht mal Eddie angeschaut.
Chris stockte und sah Adam an.
Wenn er nicht besser und mein Lehrer wäre… dann wäre meine Faust schon längst in seinem Gesicht.
"Hättest du vielleicht die Güte wegzuschauen, während ich mich umziehe?"
Adam hob abwehrend die Hände, aber das Grinsen war von seinem Gesicht nicht wegzubekommen.
"Du bist wirklich ein Morgenmuffel. Gut, ich schau ja schon weg."
Als Adam sich zum Schreibtisch umdrehte, begriff Chris seinen Fehler.
Verdammt, da liegen noch die ganzen Blätter!
Doch es war schon zu spät. Adam hatte sie schon entdeckt. Trotz des Chaos. Er blickte zwar kurz auf die Bierflaschen und warf Chris einen bezeichnenden Blick zu, widmete sich aber dann den vollgeschriebenen Seiten. Und das Grinsen verschwand und wich einem neugierigen Ausdruck.
Natürlich war es Chris' letzter Versuch gewesen, seine Gedanken zu sortieren, der obenauf lag. So wie Adam darauf starrte, war es zu spät, um ihn davon wegzulocken. Wenn etwas Adams Interesse geweckt hatte, dann war Chris die falsche Person, um ihn aufzuhalten. Er bezweifelte, dass es überhaupt jemanden gab.
Ich wollte ihn doch eh über Joe Dawson ausfragen. Vielleicht ist das der richtige Aufhänger.
Deswegen nutzte er den Moment und zog sich unbeobachtet um und war keine zwei Minuten später trainingsbereit.
"Du kannst dich wieder umdrehen, Adam. Wir können in die Katakomben."
Doch dieser hob nur abwehrend die Hand, angelte nach dem Stuhl, setzte sich hin und fing an, Chris' Notizen intensiv zu studieren.
Morgen kaufe ich mir ein Notebook. Garantiert.
So sehr Chris auch mit Adam über die Beobachter sprechen wollte, langsam machte er sich Sorgen, ob es wirklich richtig war, Adam seine Notizen lesen zu lassen. Am liebsten hätte er Adam vom Schreibtisch weggezerrt, aber er bezweifelte, dass er damit etwas erreichen konnte. Ganz im Gegenteil. Also versuchte er, Adam auf andere Gedanken zu bringen.
"Was ist jetzt? Erst tauchst du zu so einer nachtschlafenden Zeit auf, weckst mich, erwartest, dass ich gute Laune habe, und jetzt, jetzt liest du meine privaten Sachen. Und falls ich auch nur auf die Idee kommen sollte, dich davon abzuhalten, dann kann ich mir jetzt schon eine nette Todesart aussuchen, die du gleich an mir ausprobieren wirst. Das machst du zwar ständig mit mir, aber ich stehe immer noch nicht auf so was, genauso wenig wie auf die Art und Weise, in der du mich eben angestarrt hast."
Doch Adam reagierte nicht. Er schien gar nicht hinzuhören. Er blätterte durch die einzelnen Seiten und verglich sie miteinander. Dann hob er den Kopf und sah Chris an.
"Privat ist anders. Ich hätte nicht gedacht, dass du schon so viel über die Beobachter weißt und dass du daraus die richtigen Rückschlüsse gezogen hast."
"Ich bin Bulle und es ist mein Job, Puzzle zu lösen. Auch wenn sie noch so schwierig sind. Aber was meinst du genau? Ich habe mir gestern noch viele Gedanken gemacht."
"Das hier", dabei wedelte Adam mit einem Blatt. „Du hast scheinbar verstanden, was die Beobachter wollen und welche Ziele sie haben."
"Naja, ich würde bei denen eher sagen, dass der Weg das Ziel ist. Auch wenn das nicht meine Philosophie ist."
"Gut, du hast es also verstanden. Und was wirst du jetzt machen?"
Chris fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Am liebsten würde er jetzt auf und ab laufen, aber dazu war der Raum zu klein, besonders, wo Adam sich vor dem Schreibtisch so breit machte.
"Was kann ich schon machen? Gar nichts. Ich werde dafür sorgen, dass die Buchhändler Bechthold weiter observieren können, und falls ich selber mal in den Genuss eines Beobachters komme, kümmere mich darum, dass er nur das zu sehen bekommt, was ich will."
Adam nickte. "Ja, so mach ich es auch. Aber du hast Joes Namen mit sehr vielen Fragezeichen verziert. Wieso?"
"Er behauptet von sich, nur ein kleiner 08/15 Beobachter zu sein. Aber das nehme ich ihm nicht ab. Wegen seiner Behinderung und weil er inzwischen zu alt ist, kann er einfach nicht mehr im aktiven Dienst sein."
"Und wofür hältst du ihn?"
So hatte sich Chris das Gespräch mit Adam wirklich nicht vorgestellt.
Aber was habe ich erwartet? Das ist typisch Adam
Chris spielte mit, in der Hoffnung, dass dieser seine Vermutungen bestätigte oder verneinte und er nicht weiter im Dunkeln tappen musste.
"Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn ich das ganze mit der Hierarchie vergleiche, in der ich arbeite, dann ist er mindestens ein Einsatzleiter, wenn nicht mehr."
"Er koordiniert den Einsatz der Beobachter in Europa."
Gut, ich habe Joe unterschätzt.
"Wow, dann ist er ja ein richtig hohes Tier. Wie kommt es dann, dass er sich mit einfachen Unsterblichen abgibt?"
"Wer sagt dir dann, dass ich ein ‚einfacher' Unsterblicher bin?"
"Wenn ich jetzt nachhake, dann bekomme ich wieder zu hören, dass ich zu neugierig bin und dass ich mich nicht für deine Vergangenheit interessieren soll. Und wenn ich nicht frage, dann ist es auch wieder falsch."
Wieso schaffte Adam es immer, ihn mit seinen Kommentaren auf hundertachtzig zu bringen? Chris musste sich beherrschen, Adam nicht anzubrüllen.
"Gut, du hast gestern deine Lektion gelernt."
So trocken wie Adam antwortete, umso mehr musste Chris um seine Beherrschung kämpfen. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
"Dann können wir ja runtergehen und trainieren. Du willst doch früh weg."
Chris nahm sein Schwert und wollte den Raum verlassen, als Adam ihn zurückrief.
"Ich glaube, heute sollten wir weniger kämpfen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir etwas besprechen."
So müde, wie Chris noch war, sollte er eigentlich froh darüber sein. Aber er wusste nicht, worüber Adam mit ihm reden wollte. So oft sie auch in der Blue's Bar ihre Meinungsverschiedenheiten austrugen und obwohl er - zumindest bis zu diesem Wochenende - fast schon Panik vor den Treffen mit Adam gehabt hatte, er hatte nie das Gefühl gehabt, dass es etwas gab, was sie besprechen mussten. Aber ein Blick in Adams Gesicht zeigte ihm, dass er daran nicht vorbei kam.
"Gut, aber dann lass uns in die Küche gehen und ich koche uns einen Kaffee. Wenn ich den intus habe, dann bin ich wesentlich aufnahmefähiger."
"Gibt es auch ein Frühstück dazu?"
"Klar doch! Meine Omeletts sind einzigartig. Und sonst haben wir noch Toast da. Und wenn du darauf bestehst, dann kriegst du auch ein Bier."
"Was denkst du von mir?"
"Nur das Beste, Adam. Nur das Beste."
Eine halbe Stunde später fühlte Chris sich wesentlich besser. Der Kaffee wirkte und er war satt. Auch Adam schien nach dem Frühstück friedlicher aufgelegt zu sein. Auch wenn Chris bezweifelte, dass dies der richtige Ausdruck für Adam war.
Währenddessen hatten sie mal wieder eine ihrer üblichen Diskussionen über Gott und die Welt gehabt, aber es war bestimmt nicht das, was Adam mit Chris besprechen wollte.
Und jetzt wartete Chris darauf, dass Adam anfing. Nicht dass dieser Anstalten machte zu reden. Adam starrte in seinen Becher und schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein.
Um sich irgendwie zu beschäftigen, stand Chris auf, holte die Kaffeekanne und schüttete Adam und sich noch einmal die Tassen voll. Dieser bedankte sich sogar mit einem Nicken.
Chris brachte die Kanne zurück und setzte sich wieder gegenüber von Adam an den Tisch.
"Wie weit wärst du gestern bei Joe gegangen?"
Mit dieser Frage hatte Chris überhaupt nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, hätte ihn jede Frage überrascht.
"Wie meinst du das?"
Chris konnte sich denken, was Adam meinte, aber er wusste nicht, warum er – ausgerechnet er – ihn fragte. Adam sollte doch froh sein, dass er einen so guten Schüler hatte.
"Du weißt ganz genau, was ich meine. Wenn ich nicht ins Büro gekommen wäre, hättest du mehr gemacht, als nur zu drohen, seine Leute in den Knast zu stecken?"
"Ich wollte nur sichergehen, dass ich dich richtig verstanden habe. Wieso interessiert es dich? Dir war doch sonst immer daran gelegen, mir alles beizubringen, was ich brauche, um die Menschen in meiner Umgebung zu manipulieren. Warum ist es auf einmal so wichtig, dass du mit mir darüber sprechen musst?"
"Stimmt, ich habe dir alles beigebracht, was du wissen musst. Und doch habe ich meine Gründe für dieses Gespräch. Unter anderem hat Joe mich gefragt, auf welcher Seite du stehst und ob du eine Gefahr für die Beobachter werden könntest. Ich habe ihm zwar gesagt, dass er sich darüber keine Gedanken machen muss, aber ich brauche jetzt eine Antwort."
Bevor Chris antwortete, trank er einen Schluck Kaffee und starrte in die Tasse. Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt, es war bisher für ihn klar gewesen, dass er auf der Seite der Gerechtigkeit stand – was nicht unbedingt identisch mit irgendwelchen Gesetzestexten sein musste.
Ich will nicht über die unsichtbare Grenze gehen, auch wenn es schon passiert ist...
Ihm war bewusst, dass er sehr oft nah dran war, einen Schritt zu weit zu gehen und die unsichtbare Linie zu überschreiten. Und dass es auch schon Momente gegeben hatte, wo er diese Grenze überschritten hatte. Nur um es entsetzt festzustellen und anschließend wieder zurück zu springen.
Chris wusste, dass Adams Frage berechtigt war.
Denn gestern, gestern hatte er wieder vor der Grenze gestanden. Doch mit Adams Auftauchen war ihm auch die Entscheidung abgenommen worden, ob er die Linie überschreiten wollte oder nicht. Doch er entschied sich für eine neutrale Antwort.
"Wenn ich auf der anderen Seite stehen würde, dann hätte ich Bechthold schon längst beseitigt. Möglichkeiten hatte ich genug, ihn aus der Distanz zu erschießen und ihn dann endgültig zu erledigen. Aber auch wenn er nicht fair ist, ich werde ihm nur entgegentreten und ihn töten, wenn er es herausfordert. Ich bin kein eiskalter Killer. Ich will so etwas auch nicht werden. Genauso wenig, wie ich einem alten und fast schon hilflosen Mann Gewalt androhen würde. Gut, ich habe gestern versucht, ihn einzuschüchtern. Aber nicht mehr, als ich es auch bei einem Verhör machen dürfte. Da soll er sich keine Gedanken machen."
Adams Blick machte Chris unsicher. Er hatte den Eindruck, dass er nicht das gesagt hatte, was dieser hatte hören wollen oder erwartet hatte. Doch Adams Worte standen im Gegensatz dazu.
"Ja, so was in der Art habe ich als Antwort erwartet. Aber du solltest in anderen Dimensionen denken. So wie du dich dieses Wochenende verhältst, hast du in der letzten Woche in Frankfurt etwas gefunden, was dir Halt und den Mut gibt, mir zu widerstehen."
Chris wollte Adam stoppen, ihm sagen, dass seine Vermutung nicht stimmte. Und dabei brauchte er noch nicht mal zu lügen. Schließlich war er noch nicht mit Eddie zusammen. Er hatte nur den Entschluss gefasst, alles zu tun, um ihn zurückzugewinnen.
"Jetzt widersprich nicht, ich stelle für sie oder für ihn keine Gefahr da. Aber denk mal nach, was du machen würdest, wenn ein anderer Unsterblicher diese Person als Geisel nimmt und versucht, dich damit zu erpressen. Wie weit würdest du dann gehen?"
Chris ließ die Worte auf sich wirken und dann, dann stimmte er zumindest gedanklich zu.
Seine Befürchtungen treffen zu. Ich würde für Eddie gewissenlos über Leichen gehen. Scheißegal, wie viele dafür sterben würden.
Diese Erkenntnis gefiel ihm gar nicht. Er wollte nicht so werden. Er wollte immer zu den ‚Guten' gehören, auch wenn er seine selbstaufgestellten Regeln manchmal sehr stark strapazierte. Aber er wollte niemals zu einem Menschen werden, der über Leichen ging. Und jetzt machte ihm Adam klar, dass er in Extremsituationen diese Grenze ohne Hemmungen überschreiten würde.
So saß er einige Minuten schweigend da. Seine Ellbogen hatte er auf dem Tisch abgestützt und sein Gesicht verdeckte er mit seinen Händen. Er konnte Adam einfach nicht in die Augen sehen.
"Schön, du hast also kapiert, was für berechtigte Sorgen sich Joe macht."
Adam überraschte Chris, als er plötzlich anfing zu lachen. Er ließ seine Hände sinken und sah seinen Lehrer erstaunt an.
"Was für einen Grund hast du, jetzt zu lachen?"
"Ich amüsiere mich über deine Gewissensbisse. Du scheinst immer noch nicht kapiert zu haben, was du bist. Und auch nicht, was ich von dir will"
"Ich weiß, was ich bin! Aber du bist mir wirklich ein Rätsel."
"Nein, du weißt es noch nicht. Aber sag mir, was du glaubst zu sein."
Chris überlegte einen Moment, bevor er antwortete. Schließlich hatte er keine Lust, dass Adam seine Antwort mit irgendwelchen sarkastischen Kommentaren auseinandernahm.
"Zuallererst bin ich immer noch ein Mensch. Da ich unsterblich bin, habe ich die Möglichkeit, mehr zu erleben und mehr zu lernen als jeder andere. Aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann hätte ich mich gegen die Unsterblichkeit entschieden. Dieses gottverdammte ‚Spiel' macht mich zu einem Monster. Denn alles, was ich im Moment lerne, hat nur ein Ziel. Zu lernen, wie ich andere meiner Art töte, und das ist einfach nur Wahnsinn."
Nun sah er Adam herausfordernd an.
Dagegen kannst du nichts sagen.
"Du hast dabei vergessen, dass du selbst bestimmen kannst, wie weit du gehst."
"Ach ja? Gut, ich könnte mich auf Heiligen Boden zurückziehen, damit mich niemand köpft und ich auch niemanden töten muss. Aber das ist kein Leben und ich würde es als Dahinvegetieren bezeichnen. Und wie will ich jemals eine Beziehung haben, wenn ich ständig Angst haben muss, dass alleine durch mein Wesen mein Partner gefährdet ist und ich noch nicht mal in der Lage wäre, ihn zu verteidigen? Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens einsam zu sein. Dann lerne ich lieber zu kämpfen und muss mit den Folgen klar kommen."
"Nun reg dich wieder ab und setz dich hin. So habe ich es nicht gemeint."
Chris war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er aufgestanden war. Er wollte sich aber noch nicht wieder hinsetzen, dazu war er zu aufgewühlt. Er schob seinen Stuhl zur Seite, nahm seine Tasse, ging zur Anrichte und füllte den noch fast vollen Becher auf. Auf einen fragenden Blick von Chris schüttelte Adam den Kopf. Erst dann ging Chris zurück und setzte sich hin. Nach und nach leerte er seine Tasse. Und jedes Mal, wenn er auf seine Hände blickte, sah er keine Finger mehr, sondern Waffen. Er fühlte sich elend.
Adam brach nach einigen Minuten das Schweigen.
"Gut, ich versuche, es dir zu erklären. Du alleine bist für deine Moralvorstellungen verantwortlich. Du bist derjenige, der sagt ‚bis hierher und nicht weiter', und der auch entscheidet, wann du diese Grenze zwischen ‚Gut' und ‚Böse' überschreitest. Konntest du mir soweit folgen?"
Chris nickte und blickte dann wieder auf seine Kaffeetasse.
"Du bist dir bewusst, dass du gestern Abend, kurz bevor du gegangen bist, Joe nicht wirklich subtil bedroht hast? Ich meine deinen Kommentar wegen Amy."
"Stimmt, das habe ich. Es war... wie soll ich es ausdrücken... ja, die Retourkutsche für seinen ‚einfachen Beobachter'. Ich mag es nicht, wenn man mich für dumm verkauft."
"Damit hast du ihn aber härter rangenommen, als du es in einem deutschen Polizeiverhör darfst."
Woher kennt der die Vorschriften?
Gerade eben noch konnte Chris ein genervtes Aufseufzen verhindern.
"Stimmt, da hast du Recht."
"Gut. Gehe ich recht in der Annahme, dass du damit deine ganz persönliche Grenze ein klein wenig überdehnt hast?"
"Eigentlich schon. Aber das passiert mir hin und wieder. Normalerweise habe ich dann immer ein sehr schlechtes Gewissen und reiße mich zusammen und die nächsten Monate bleibe ich hinter der Linie."
Bei diesem Seelenstriptease fühlte Chris sich sehr unwohl. Aber was für eine andere Möglichkeit hatte er? Zumal er immer noch nicht wusste, was Adam von ihm wollte. Das war ihm einfach ein Rätsel. Doch er hatte das ungute Gefühl, dass Adam damit ein Ziel verfolgte. Und er würde nur davon erzählen, wenn Chris mitspielte.
"Hast du schon einmal deine persönliche Grenze verschoben? Gibt es Punkte, die du nicht mehr so... ‚eng' siehst wie noch vor einigen Jahren?"
"Wer macht das nicht? Am Anfang meiner Polizeikarriere da hatte ich wirklich hohe Moralvorstellungen. Damals war ich ein Idealist, der an das Gute im Menschen glaubte und mit seinem Job die Welt verändern wollte. Und inzwischen würde ich mich als Realisten bezeichnen. Der härter durchgreift, weil er weiß, dass er bestimmte Sachen einfach nicht ändern kann. Genauer kann ich es nicht beschreiben. Und ich weiß auch nicht, ob es das ist, was du wissen wolltest. Kommt darauf an, worauf du hinaus willst."
Adam antwortete nicht sofort. Er trank seinen inzwischen wohl kalten Kaffee und hielt Chris anschließend auffordernd seine Tasse hin. Dieser stand auf und füllte nach. Erst als Chris wieder saß, redete Adam.
"Überleg mal, wie sich deine Ansichten in den letzten zwanzig Jahren verändert haben. Aber du bist kein normaler Mensch mehr. Du bist unsterblich. Was denkst du, wie deine Grenzen in zweihundert oder in fünfhundert Jahren aussehen? Es geht mir nicht wirklich um Ausnahmesituationen, wie die Entführung einer wichtigen Bezugsperson und wenn du dich anschließend rächen willst, sondern wie deine alltägliche Einstellung zu ‚Gut' und ‚Böse' aussieht. Du musst eben akzeptieren, dass du für Personen, die dir wichtig sind, notfalls über Leichen gehen kannst, aber in zweihundert Jahren gehst du vielleicht ohne jeden Grund über Leichen. Einfach weil du es kannst."
Und jetzt endlich verstand Chris, was Adam wollte. Es würde nichts bringen, Adams Spekulationen abzustreiten, denn sie waren noch nicht mal so unwahrscheinlich. Und das war das Erschreckendste. Er hatte ja selbst gemerkt, wie er sich in den letzten Monaten verändert hatte. Dass er inzwischen bereit war, andere Unsterbliche zu töten, nur um selbst zu überleben.
Ich will es nicht und werde doch zum Monster.
Aber das konnte doch nicht alles sein, was Adam wollte. Das passte nicht zu ihm.
"Warum machst du mich darauf aufmerksam? Was willst du?"
"Ich will nichts von dir. Ich dachte nur, dass es an der Zeit ist, dass du dir dessen bewusst bist. Denn jetzt kannst du daran arbeiten, dass du dir über deine Grenzen klar bist und sie einhältst."
"Aber warum sagst ausgerechnet du es mir? Du bist doch derjenige, der immer so tut, als ob er das Böse für sich gepachtet hat."
Entgegen Chris' Erwartungen blieb Adam ernst.
"Ich bin dein Lehrer. Auch wenn du vielleicht einen anderen Eindruck hast, nehme ich diesen Job doch sehr ernst. Und ich wünsche mir, dass es bei mir eine Person gegeben hätte, die mich früher einmal darauf aufmerksam gemacht hätte."
Und da war wieder einmal Chris' übliches Problem mit Adam. Wenn er jetzt nachhaken würde, dann würde er wieder einen Anschiss von Adam bekommen. Aber würde er nicht fragen, würde er monatelang darüber grübeln. Aber er fand eine Formulierung, mit der er das Problem umschiffen konnte.
"Hätte es denn etwas geändert? Und bereust du wirklich, was du früher gemacht hast? Du wirkst nicht so."
Zum ersten Mal, seit sie dieses seltsame Gespräch begonnen hatten, umspielte ein Grinsen Adams Lippen.
"Deine Formulierungen werden ja richtig, hmm, ja… diplomatisch. So gefällt es mir. Du lernst."
Hab' ich denn eine andere Chance? Gott, was bist du für ein arroganter Arsch.
Aber Chris beherrschte sich. Er war einfach nicht in der Stimmung für einen Streit. Das eben Gehörte beschäftigte ihn viel zu sehr.
"Ich kann ja behaupten, dass du ein guter Lehrer bist. Aber bis ich unliebsame Antworten so elegant umschiffen kann wie du, muss ich noch viel lernen."
"Gut, mit diesem Spruch hast du dir die Antwort verdient."
Doch entgegen seiner Zusage ließ Adam ihn zappeln. Er starrte einen Augenblick in seinen Becher und Chris hatte den Eindruck, dass er sich an längst vergangene Ereignisse erinnern wollte.
"Es ist nicht so, dass ich meine Vergangenheit bereue. Ich habe damals jeden Augenblick intensiv gelebt. Nie war ich so lebendig wie damals. Weißt du, ich hatte die Macht, die absolute Macht, aber wenn du zehntausend Menschen ohne irgendwelche Schuldgefühle getötet hast, dann ist es irgendwie… du wirst es nicht glauben, aber es langweilt. Es gibt nichts Neues mehr. Und dann, dann habe ich gemerkt, dass ich anfing, andere Prioritäten zu setzen. Diese Macht, alles zu tun, was immer ich wollte, ohne Rücksicht zu nehmen, war nicht mehr wichtig."
Adam stockte, stand auf und ging ans Fenster. Chris sah nur noch seinen Rücken. Wagte aber nicht, eine Zwischenfrage zu stellen. Aus Sorge, dass Adam dann wieder sämtliche Rollos runterfahren und blocken würde.
Eine Minute später drehte Adam sich wieder um und Chris wurde von seinem Gesicht eingefangen. Es war nicht mehr die kühle und fast schon emotionslose Maske, die er kannte. Nein, dieser Gesichtsausdruck war… Chris fand nur ein Wort, das diesen Ausdruck auch nur annähernd beschreiben konnte. Er war wild. Wild und ungezügelt. Und auch wenn Chris es nie gedacht hatte. Adam wirkte gefährlicher als jemals zuvor.
Ist das der wahre Adam? Gott, den will ich gar nicht kennen.
Und eine Sekunde später war es weg. Adam hatte wieder seine übliche Maske aufgesetzt, ging zum Küchentisch, setzte sich hin, nahm die Kaffeetasse und sprach weiter.
"Ich konnte zwar vorher schon lesen, aber zu diesem Zeitpunkt entdeckte ich die Faszination von Büchern. Ich habe Dante, Plato und so viele andere kennen und schätzen gelernt. Und auf einmal kapierte ich, dass es so etwas wie Moral und Wertvorstellungen gab. Und dass es Unrecht ist, Menschen zu töten, nur weil ich gerade Lust darauf hatte. Du hast es zwar als Scherz bezeichnet, aber der Ausdruck ‚Geißel der Menschheit' passt. Und heute wünsche ich mir, dass ich auch einen Lehrer gehabt hätte, der mir das gesagt hätte, was ich dir heute gesagt habe. Reicht dir das?"
"Eine Frage hab ich noch. Wie kommst du heute mit diesem Teil deiner eigenen Geschichte klar? Es gibt da den Spruch, dass einen die Vergangenheit immer einholt."
Das Lachen von Adam war kalt und humorlos und die ersten Nackenhaare richteten sich bei Chris auf.
"Gott, bist du hartnäckig. Gibt man dir den kleinen Finger, dann nimmst du den ganzen Mann."
Das ist Eddies Spruch, nicht deiner!
"Dich will ich nicht ganz. Ganz sicher nicht. Doch wenn du mir schon so viel zum Verdauen gibst, dann interessiert mich, wie du mit deiner Vergangenheit, vor der du mich ja warnst, klarkommst."
Statt Chris irgendwie fertig zu machen, schaute Adam auf seine Tasse. Dann blickte er wieder hoch.
"Im Gegensatz zu dir hatte ich kein Gewissen, als ich zu dem - wie nennst du es, ach ja Monster - wurde. Und ich kann im Gegensatz zu den Leuten, die glauben, über meine Vergangenheit Bescheid zu wissen, sehr gut damit klarkommen. Es gibt manchmal Jahre, in denen ich überhaupt nicht mehr daran denke. Doch dann, dann wache ich irgendwann mitten in der Nacht schreiend aus einem Albtraum auf…Du brauchst gar nicht erst zu raten, wovon ich geträumt habe... Diese seltenen Momente reichen mir voll und ganz. Aber jetzt noch eine Frage. Kommst du mit meiner Vergangenheit klar?"
Muss er mir solche Fragen stellen?
Es war ja nicht so, dass Adam gerade etwas erzählt hatte, was Chris nicht schon längst vermutet hatte. Aber zwischen vermuten und sicher wissen war immer noch ein Unterschied.
Chris wusste keine Antwort. Denn der Mann, der vor ihm saß, hatte sich ja nicht wirklich verändert. Er war immer noch das zynische Arschloch, das ihm jedes Wochenende das Leben zu Hölle machte. Und doch sah er ihn mit anderen Augen.
Aber was hat er eigentlich über sich erzählt? Ich weiß im Endeffekt keinen Deut mehr über ihn. Nur frage ich mich immer mehr, wie alt er wirklich ist.
Doch Adam wollte jetzt etwas hören. Und Chris hatte keine Antwort. Er entschied sich, ehrlich zu sein.
"Ich weiß es nicht. Tut mir leid, Adam, aber ich weiß es wirklich nicht. Du erzählst mir, dass du mal ein Massenmörder warst, es nicht wirklich bereust, aber dann wünschst du dir doch, es anders gemacht zu haben. Dabei kenne ich noch nicht mal irgendwelche Zusammenhänge. Was soll ich jetzt denken?"
Chris zuckte mit den Schultern. Im Moment wusste er wirklich nicht weiter. Er blickte Adam an, konnte aber nicht erkennen, was dieser dachte.
"Die Zusammenhänge sind unwichtig. Es ist ja nicht nur so, dass ich damals anders war. Es waren ganz andere Zeiten und bis vor zweihundert Jahren war ein Menschenleben nicht wirklich etwas wert. Natürlich dachten die Adeligen über sich selbst anders. Wenn sich die Welt so weiter entwickelt, wie ich befürchte, dann werden wir in spätestens einhundert Jahren wieder ähnliche Zustände haben. Dann wird Anarchie und Chaos herrschen. Aber ich werde nie wieder so werden, wie ich damals war."
Chris hatte das dumpfe Gefühl, dass sein Lehrer mit seiner Vision von der Zukunft recht haben könnte, schob den Gedanken aber schnell wieder zur Seite, da er sich anderweitig konzentrieren musste.
"Adam, gib mir etwas Zeit zu verdauen, was du mir heute vor den Bug geknallt hast. Es ist einfach zu viel und ich habe das Gefühl, dass mir der Kopf platzt."
Der Blick, mit dem ihn Adam jetzt musterte, gab Chris das Gefühl, nackt und hilflos zu sein. Doch dann nickte Adam.
"Was hältst du davon, wenn ich dir bis nächsten Samstag Zeit gebe? Ich komme Freitag aus den Staaten zurück und wir treffen uns Samstagabend bei Joe auf ‚neutralem Boden'."
Und was wird mit meiner Ausbildung, wenn ich nicht damit klarkomme? Ich habe doch keine andere Wahl, als zu akzeptieren.
Doch Adam schien mal wieder Chris' Gedanken zu lesen.
"Wenn du dir Sorgen wegen des Schwerttrainings machst... An deiner Technik gibt es nicht mehr viel auszusetzen. Es fehlt nur noch der Feinschliff und du musst an deiner Geschwindigkeit arbeiten. Also nichts, wozu du mich noch wirklich brauchst. Es wird halt nur einige Monate länger dauern. Und der Rest... Das kannst du nur in einem wirklichen Kampf auf Leben und Tod und durch jahrhundertelange Erfahrung lernen. Da kann ich dir nicht helfen."
Bevor sich Chris eine Antwort zurechtlegen konnte, stand Adam auf und ging. Die Tür schloss er leise und ließ einen mehr als nur nachdenklichen Chris zurück.
Einige Minuten später stand er auf und räumte die Küche auf. Dann ging er in die Katakomben.
Chris hatte in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, dass das Durcharbeiten der unterschiedlichsten Schlag- und Stichtechniken seinen Kopf frei machte.
Doch heute half es nicht. Nichts konnte Chris von dem ablenken, was Adam ihm gesagt hatte. Immer wieder hörte er Stimmen in seinem Kopf, auch wenn es nur einzelne Worte waren. Es war grausam.
Gut...
Ausfallschritt nach rechts. Angriff. Chris versuchte, seinen imaginären Gegner in die Brust zu treffen. Dann ging er wieder in die Ausgangsposition, wartete ab und machte Abwehrbewegungen, als würde er angegriffen.
Böse... Grenze...
Er griff seinen unsichtbaren Feind hart an, als könne er so die Stimmen vertreiben.
Macht... Unsterblichkeit... Gewissensbisse...
Doch sie waren immer noch da, lauter als vorher. Chris arbeitete sich durch eine Stichkombination mit besonders aufwendiger Beinarbeit.
Grenze... Prioritäten... Heiliger Boden... Monster...
Er hob sein Schwert zur Abwehr.
Schuldgefühle... Leiche… Mord… töten… Vorschriften… Waffen… Macht… Schwerter… köpfen… Gut… Böse… Hemmungen… Schuld… Sühne… Verantwortung… Gut… Böse… Grenze...
"Stopp!"
Chris realisierte, dass er in embryonaler Haltung in einer Ecke kauerte und in den leeren Raum geschrieen hatte. Aber in diesem Moment konnte er nicht anders reagieren. Er hatte das Gefühl, dass sich zu der gehässigen kleinen Stimme, die immer in seinem Kopf herumspukte, noch ein ganzer disharmonischer Chor hinzugesellt hatte.
Gut… Böse… Grenze…
"Hört auf!"
Und dann herrschte Stille. Wohltuende Stille.
Chris wusste nicht, wie lange er in dieser Ecke gehockt und versucht hatte, seine eigenen Dämonen zu bekämpfen. Doch scheinbar war er im Moment der Sieger geblieben.
Fragt sich nur, wie lange.
Das erste, was er wieder ganz bewusst wahrnahm, war ein Klappern. Dann merkte er, dass es seine Zähne waren, die vor Kälte aufeinander schlugen. Obwohl es in dem Gewölbe eher kühl war, seine Kleidung war durchgeschwitzt und verdreckt. Es war aber nicht die äußere Kälte, die Chris zu schaffen machte, dank Adam hatte er damit Erfahrung. Erstmalig fühlte er auch tief in seinem Inneren eine eisige Kälte. Dazu kam, dass er nicht genau wusste, wie lang er schon unten war, aber er befürchtete, dass es zu lange war. Chris versuchte aufzustehen und fiel stöhnend zurück, da seine Beine eingeschlafen waren und einfach die Arbeit verweigerten.
Es dauerte einige Minuten, bis das Blut wieder soweit zirkulierte, dass er aufstehen konnte.
Dann suchte er das Schwert und ging hoch. Als erstes stellte er sich unter die Dusche, um sich wieder aufzuwärmen. Dass er sich dabei sehr gründlich abseifte, war fast schon ein Ritual. Normalerweise bedeutete Aufwärmen in Paris immer, dass er vorher gestorben war. Und getrocknetes Blut abzuwaschen, war weder angenehm noch schön.
Mit dem Badetuch um die Hüften ging er einige Minuten später in sein Schlafzimmer, um sich frische Kleidung zu holen. Die Sachen, die er vorher getragen hatte, waren schmutzig und klamm. Nebenbei angelte er sich aus der Schreibtischschublade seine Notreserve. Neunzigprozentige Leysieffer Schokolade. Kalorienbombe pur und angeblich sollte es ja auch eine Ausschüttung von Glückshormonen bewirken. Obwohl sich Chris in den letzten Monaten dazu zwang, neben Kaffee auch noch andere Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, musste er ständig kämpfen, sein Gewicht zu halten. Durch sein intensives Training verbrannte er mehr Energie als jemals zuvor in seinem Leben und Glücksgefühle brauchte er jetzt ganz dringend.
Nachdem Chris die Schokolade ausgewickelt hatte und das erste Stück im Mund hatte, schaute er zum ersten Mal auf die Uhr. Und erstarrte. Schaute weg und schaute wieder hin. Doch die Anzeige hatte sich nicht verändert. Es war immer noch zehn Uhr abends. Viel später, als er befürchtet hatte.
Wo ist nur die Zeit geblieben?
Chris wusste es nicht und versuchte, den Tag zu rekonstruieren. Adam war am Morgen kurz nach acht aufgetaucht. Sie hatten zusammen gefrühstückt. Das Gespräch, das sie anschließend geführt hatten, war zwar sehr intensiv gewesen, hatte aber bestimmt nicht länger als eine Stunde gedauert. Also war Adam etwa zwei Stunden geblieben. Dann war er in die Katakomben gegangen, um das Gehörte in irgendeiner Art zu verarbeiten. Chris konnte sich aber nur an die erste halbe Stunde seines Trainings erinnern. Und dann, dann waren da nur noch die Stimmen in seinem Kopf gewesen.
Dass ihm die bewusste Erinnerung an den Großteil des Tages fehlte, wollte ihm nicht in den Kopf. Und seinen Flug nach Frankfurt konnte er auch vergessen. Laut Flugplan musste die Maschine seit zehn Minuten in der Luft sein.
Verdammte Scheiße. Ich muss doch morgen wieder arbeiten.
Die Telefonnummer der Flugreservierung der Lufthansa hatte Chris abgespeichert. Denn er hatte in den letzten Monaten mehrfach umgebucht, da sich seine Trainingszeiten nach Adam richteten. Und wenn dieser sonntags nur zwei Stunden mit ihm trainierte, dann hatte Chris einen früheren Flug nach Frankfurt genommen. Auch wenn er sich manchmal fragte, warum er das tat. Schließlich war er in Frankfurt genauso allein wie in Paris.
Selbst wenn er jetzt zum Flughafen fahren würde, es war zu spät für den letzten Flug. Chris konnte nur noch hoffen, dass am Montag der erste Flug nicht ausgebucht war.
Doch er hatte Pech und konnte erst für elf Uhr reservieren.
Engin wird gar nicht glücklich sein.
Deswegen versuchte Chris, Engin zu erreichen, um ihn vorzuwarnen. Doch dessen Handy war ausgeschaltet. Chris hinterließ einen Spruch auf dessen Mobilbox und hoffte, dass Engin sie auch abhören würde.
Sein nächster Weg führte in die Küche, wo er sich etwas zu essen machte. Dabei überlegte er, welche Ausrede er Engin präsentieren konnte, warum er seinen Flug verpasst hatte, und beschloss, keine Erklärung abzugeben.
Er denkt dann sicher, dass ich mich nicht von Amanda trennen konnte oder dass wir nicht aus dem Bett gekommen sind...
Auch wenn das Fleisch in der Pfanne brutzelte, Chris hatte das Gefühl, von der Stille erdrückt zu werden. Die Ruhe war fast schon unheimlich. Selbst die Bässe aus der Kneipe waren heute nicht zu hören. Deswegen schaltete er das Radio ein. Doch zehn Minuten später nervte ihn das Gedudel und er machte es wieder aus. Da war die Stille doch noch angenehmer.
Zwanzig Minuten später war Chris fertig. Das Geschirr war abgeräumt und es war spät genug, um ins Bett zu gehen. Müde war er auch.
Als er im Schlafzimmer das Chaos auf seinem Schreibtisch sah, wurde ihm klar, dass er im Moment versuchte, seine Probleme zu verdrängen. Und er wusste auch, dass das Aufschieben nichts brachte. Sonst würde er irgendwann noch größere Probleme haben.
Wenn die eine Methode nicht funktioniert... dann muss ich es mir halt erarbeiten. Es geht doch nichts über eine gute Polizeiausbildung. Ich schreib jetzt alles auf, was ich weiß, und dann kommt das Ergebnis wie von selbst.
Entschlossen nahm Chris die leeren Bierflaschen, brachte sie in die Küche und kam mit einer Wasserflasche zurück.
Die Notizen über die Beobachter sah er kurz durch und vernichtete sie anschließend. Es reichte, wenn er sein Wissen im Kopf hatte.
Dann saß er vor einem leeren Blatt und wusste nicht weiter. Polizeiausbildung schön und gut, aber wie sollte er anfangen? Was wollte er sich erarbeiten? Auf welche Grundlagen konnte zurückgreifen und was konnte er als Fakten niederschreiben?
Einer Sache war er sich sicher. Er wollte niemals die Seiten wechseln und ‚böse' werden. Chris war sich bewusst, dass zwischen Gut und Böse sehr viele Graustufen existierten. Die Frage war nur, wo er seine persönlichen Grenzen setzte.
Bin ich eigentlich noch ein ‚Guter'?
Das war Knackpunkt, vielleicht die Grundlage, auf die er aufbauen konnte.
Systematisch schrieb Chris alle Punkte auf, die er an sich als positiv oder negativ bewertete.
Um zwei Uhr morgens und zwei Flaschen später war er damit fertig. Genau so fertig war er auch mit seinen Nerven. Denn noch nie waren ihm die kurzen Momente aufgefallen, in denen er rücksichtslos seinen Kopf durchsetzte, nur auf ein Ziel fixiert. Mochte dieses Ziel noch so leuchtend sein, so ging es nicht weiter. Denn wenn er weiter nach dem Standpunkt ‚Der Zweck heiligt viele Mittel' gehen würde, dann würde er über kurz oder lang genau so werden, wie Adam angedroht hatte. Und das wollte Chris nicht. Niemals.
Chris ging in die Küche und schüttete sich frischen Kaffee auf. Schwarz und sehr stark. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Und um acht Uhr morgens hatte er drei Kannen geleert, war mit seinen Notizen zwar noch nicht fertig, aber sich sicher, dass er einen guten Anfang geschafft hatte.
Mein ganz persönlicher Leitfaden fürs Weiterleben... und ausarbeiten werde ich es am Laptop.
Auch wenn Chris unsterblich war, seine Hand schmerzte von der übermäßigen Belastung. Er legte den Stift zur Seite und massierte sein Handgelenk. Er streckte und dehnte sich, stand auf, ging unter die Dusche und zog sich frische Klamotten an.
Zwischendurch versuchte er noch, Engin zu erreichen und hatte Glück. Er teilte seinem Partner mit, dass er heute einen Tag Urlaub nehmen müsste, was Engin kommentarlos akzeptierte. Schließlich hatte Chris noch alte Urlaubstage auf seinem Konto und vor zwei Wochen von der Personalabteilung eine Aufforderung bekommen, diese endlich zu nehmen. Als Chris Engin den Brief gezeigt hatte, hatte dieser nur müde gelächelt und seinen Brief mit gleichlautenden Inhalt vorgezeigt. Die Arbeit ließ ihnen einfach keine Zeit, um Urlaub zu machen.
Zwanzig Minuten später war er auf dem Weg zum Flughafen. Hundemüde, aber doch mit dem guten Gefühl, einen weiteren Schritt geschafft zu haben.
Aber ich will nie wieder einen Schritt zu weit gehen.
Doch Chris wusste ganz genau, dass nur der Vorsatz bei ihm nicht ausreichen würde. Er hatte es sich doch schon oft genug vorgenommen und immer wieder damit gebrochen. Harte Arbeit war angesagt, damit er in der Zukunft sein Temperament unter Kontrolle bekam und nicht noch einmal in die Nähe der Grenzen kommen würde.
tbc.
