Der Einsatz

3. Januar 2005, Frankfurt

Für den ersten Arbeitstag im neuen Jahr hatte Krause um vierzehn Uhr eine Besprechung angesetzt. Dabei sollten sich Vertreter aller Abteilungen, die an dem Einsatz beteiligt waren, erstmalig treffen.

Es gab keine feste Tagesordnung, geplant war ein Brainstorming, das die Ideen und Möglichkeiten bündelte.

Vom Zollkriminalamt sollten vier Leute dabei sein. Chris hatte neben Engin auch noch Mike und Kallenbach dazu bestimmt und hoffte, dass die beiden ihre Fehde soweit vergessen konnten, um vernünftig zu arbeiten. Da sie nur ‚ausgeliehen' waren und eigentlich zur Kripo gehörten, sollten sie auch als Verbindungsleute zur Polizei arbeiten. Deswegen hatte die Kripo, die beim Zugriff die meisten Leute im Einsatz haben würde, nur einen weiteren Vertreter zur Besprechung geschickt. Martin Becker saß bei Kallenbach und schien sich blendend zu unterhalten

Um kurz vor zwei saßen sie im großen Besprechungsraum und warteten, dass Krause mit den Kollegen aus Frankreich, Russland und Berlin zu ihnen stoßen würde. Wolfgang Bronski von der Hamburger Kripo war schon eingetroffen und hatte sich nach einer kurzen Begrüßung irgendwo in der Mitte einen Platz gesucht und arbeitete sich durch die Unterlagen, die Chris vorbereitet und auf die Plätze gelegt hatte. Auch Roland Beienberg von der RILO Köln war bereits eingetroffen und hatte sich neben Bronski gesetzt. Er hatte eine Tasse mit Kaffee vor sich stehen und schien der Dinge zu harren, die kommen würden. Ihn kannte Chris noch gar nicht, aber hatte im Moment nicht den Nerv, sich um ihn zu kümmern.

Mike und Kallenbach hatten sich die am weitesten auseinanderliegenden Plätze ausgesucht und schwiegen sich an.

Chris hatte sich als erstes eine Tasse Kaffee organisiert und beobachtete seinen Partner. Engin hatte das Laptop und den Beamer für sich beansprucht und überprüfte, ob auch alles so funktionierte, wie er es haben wollte. Schließlich sollte sowenig Zeit wie möglich verschwendet werden. Da man sich für heute auf Englisch zur allgemeinen Verständigung geeinigt hatte, fühlte Chris so etwas wie Lampenfieber. Als leitender Beamter musste er einen Überblick über die Ermittlung geben.

Deswegen hatte er die letzten Tage damit verbracht, mit Engins Hilfe ein Manuskript zu verfassen.

Es war Chris nicht leichtgefallen, sich auf das Manuskript zu konzentrieren, seine Gedanken waren ganz woanders. Bei Eddie und bei seinen Chancen, gegen Bechthold zu bestehen.

Eigentlich war es ja verrückt. Um Bechthold zu einem Kampf zu fordern und nicht von seinen eigenen Leuten wegen Mordes verhaftet zu werden, würde er alle austricksen müssen.

Auch Engin und Mike. Und das wird extrem schwer, weil sie schon misstrauisch sind. Besonders Engin weiß schon viel zu viel.

Einen Plan hatte Chris noch nicht, aber tausend mehr oder weniger verrückte Ideen. Und die realistischsten Einfälle hatte er passwortgeschützt auf seinem Laptop abgelegt und versuchte, sie zu einem Plan auszuarbeiten.

Dieses Doppelleben war für Chris äußerst anstrengend. Auf der einen Seite spielte er allen den pflichtbewussten Bullen vor, der nichts anderes im Kopf hatte, als Bechthold und die gesamte Mafia hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Und auf der anderen Seite trainierte er wie ein Besessener, um Bechthold kurz vor dem Zugriff zum Kampf fordern zu können und zu töten. Je länger er wartete, umso mehr Zeit hatte er zu lernen und umso größer waren die Chancen, ihn zu besiegen. Auch wenn er ohne unsterblichen Lehrer auskommen musste. Der Gedanke, dass er anschließend Eddie ein halbwegs sicheres Leben an seiner Seite bieten konnte, war Ansporn genug.

Das Hauptproblem war, dass er sowohl die Polizei als auch die Beobachter so weit ablenken musste, damit Bechthold für einige Zeit unbeaufsichtigt war. Damit er nicht irgendwann des Mordes überführt wurde, durfte niemand von seinem kleinen Geheimnis erfahren.

Es reichte, wenn sein Gewissen sich meldete, weil er ohne wirklichen Grund Bechthold töten wollte.

Ich könnte genauso gut weggehen und bräuchte mir keine Gedanken um einen Kampf zu machen. Aber dann müsste ich jede Hoffnung, noch einmal mit Eddie zusammen zu sein, endgültig begraben. Und irgendwann werde ich nicht mehr weglaufen können und muss mich einem unsterblichen Gegner stellen...

Dann musste Chris auch noch das Problem lösen, wie er anschließend Bechtholds Leiche beiseite schaffen konnte, ohne dabei erwischt zu werden oder verräterische Spuren zu hinterlassen.

Beim heutigen Stand der Technik war dies keine leichte Aufgabe.

Den Gedanken, dass er auch verlieren könnte, verdrängte Chris rigoros. Je positiver er an die Sache heranging, desto geringer war die Gefahr zu sterben.

Ein Geräusch schreckte Chris aus seinen Gedanken und er merkte, dass er die ganze Zeit unruhig auf und ab gelaufen war. Zudem fühlte er auch noch die Blicke aller Anwesenden auf sich.

Hoffentlich schieben sie es aufs Lampenfieber.

Dann blickte Chris zur Tür. Inzwischen war noch jemand eingetreten. Das Räuspern dieser Person hatte ihn aus dem Grübeln gerissen.

Ob sie aus Berlin und für die Koordination zuständig ist? Ansonsten haben sich doch nur Männer angemeldet. Nur die Berliner haben uns noch nicht mal einen Namen durchgegeben, weil die angebliche alle Fachleute nach Asien geschickt hatten. Arrogante Bande!

Sie lächelte Chris an. Und da ging ihm ein Licht auf.

Es lag wohl an der sehr konservativen Kleidung, grauer Rock, weiße Bluse und grauer Blazer, und dass ihre Haare nicht mehr blond, sondern dunkelbraun waren, dass er sie im ersten Moment nicht erkannt hatte.

Aber ihr Lächeln, das war unverkennbar. Und Chris bekam Magenschmerzen.

Mein Gott, was macht denn Helen hier?

Als hätte er nicht schon genug Probleme gehabt. Helen würde bestimmt neue verursachen. Sie kannte Chris lang genug und im Gegensatz zu den anderen hatte sie seine Veränderung nicht langsam und allmählich mitbekommen, sondern wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.

Blieb nur noch die Frage, ob sie sich einmischen würde oder nicht.

Als das Lächeln auf Helens Gesicht erstarb und einer unsicheren Miene Platz machte, da wusste Chris, dass er den ersten Fehler gemacht hatte. Er versuchte, ihn zu überspielen.

"Helen? Bist du es wirklich? Du hast dich sehr verändert."

Mit einigen Schritten überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und nahm Helen in den Arm. Sie war noch nie dick gewesen. Aber als er sie berührte, da hatte Chris den Eindruck, dass sie nur aus Haut und Knochen bestand.

Sie arbeitet viel zu viel. Und ernährt sich wahrscheinlich nur von Kaffee. Und es gibt niemanden, der sich um sie kümmert.

Es irritierte Chris, dass in ihm ein so warmes Gefühl für Helen aufstieg. Doch sie schien nichts von seiner Verwirrung zu bemerken, sondern erwiderte seine Umarmung und gab ihm auf jede Wange ein Küsschen.

"Du bist mir nicht böse, dass ich jetzt hier bin?"

Chris wusste nicht, warum Helen diese Frage stellte. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen und der Kontakt bestand nur noch aus sporadischen Anrufen und gelegentlichen Mails.

"Wieso sollte ich dir böse sein?"

Helen löste sich von Chris und schaute ihn prüfend an.

"Du weißt wirklich nicht, worauf ich anspiele. Ich habe mir schlicht und einfach Sorgen gemacht, dass du das Gefühl hast, dass ich dir den Fall wegnehmen will. Schließlich werde ich für die internationale Koordination zuständig sein."

"Nein, das Gefühl habe ich nicht."

Mit einem Kopfschütteln wollte Chris Helen endgültig klar machen, dass sie sich deswegen nicht sorgen sollte. Aber wenn er ihren Blick richtig deutete, dann war sie noch nicht überzeugt.

"Hör mal, Helen. Ich mag zwar ein elender Sturkopf sein. Aber erstens kenne ich meine Grenzen und weiß, dass ich bei der internationalen Koordination restlos überfordert wäre, und zweitens ist es eigentlich Mikes Baby. Ihm ist es zu verdanken, dass wir hier und heute zusammen sitzen und einen ganzen Clan hochgehen lassen können."

"Ganz sicher?"

"Ja, die Stunden, die ich jetzt schon in die Sache investiere, reichen mir. Ich brauche deine Arbeit nicht. Und wenn du mir dann anschließend auch noch die Presse vom Hals hältst, dann wäre ich sogar glücklich."

Ein vorsichtiges Grinsen erschien auf Helens Gesicht.

"Du hast dich in der Hinsicht nicht verändert. Keine Lust auf Publicity?"

"Keine Lust auf Rummel um meine Person. Du weißt doch, was ich damals von dem Schaulaufen gehalten habe, das du mir aufgezwängt hattest."

"Dafür bin ich mit dir zur Eintracht gegangen!"

Engins Räuspern erinnerte Chris daran, dass sie nicht alleine waren und wie unhöflich sein Verhalten war.

"Hast ja recht, Engin! Also, bevor Krause mit dem Rest auftaucht, möchte ich dir meine Mannschaft vorstellen. Sie sind für unseren Erfolg genauso verantwortlich wie auch ich."

"Erfolg haben wir erst dann, wenn alle verhaftet und verurteilt sind. Du bist da etwas voreilig."

"Gott, sind wir hier bei der Kripo oder beim Zoll? Kallenbach, haben Sie auf Ihre alten Tage noch den Job gewechselt?"

Die sauertöpfische Miene musste Helen eigentlich alles sagen. Aber Kallenbach ließ es sich nicht nehmen, noch einen Kommentar abzugeben.

"Ganz freiwillig bin ich nicht hier. Aber da Schwenk ein Amtshilfeersuchen an Ehrenberg gestellt hatte, in dem er Deichsel und mich angefordert hatte, konnten wir nicht nein sagen."

"Stimmt, vergiss aber bitte nicht zu erwähnen, dass er bereits zwei Monate vorher Carola und mich angefordert hatte, Detlef Maria."

Bei diesem sarkastischen Unterton in Mikes Stimme rechnete Chris damit, dass Kallenbach an die Decke gehen würde. Er konnte ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken.

Bei den beiden ist es aussichtslos. Die werden sich nie vertragen.

Aber bevor die beiden wieder anfingen, sich richtig zu streiten, griff dieses Mal Engin ein. Er ging auf Helen zu und reichte ihr die Hand.

"Kümmern Sie sich nicht um die beiden Streithähne. Die sind unglücklich, wenn sie keinen Grund haben, um sich in die Wolle zu bekommen. Ich bin Engin Korpak und wenn ich alles richtig verstanden habe, dann verdanke ich Ihnen meine Wohnung."

"Dann sind Sie also Chris' Partner. Da müssen Sie aber sehr viel Geduld haben. Ich bin Helen Renmark, aber sagen Sie doch bitte Helen zu mir."

Helen ergriff Engins Hand und schüttelte sie.

"Gut, aber dann bin ich Engin. Schön, dich kennen zu lernen. Ich habe schon viel von dir gehört."

"Hat Chris von mir erzählt? So kenn' ich ihn ja gar nicht."

"Chris weniger. Eddie hat damals einige Anekdoten zum Besten gegeben."

Allein die Erwähnung von Eddies Namen brachte Helen dazu, sich zu versteifen. Auch konnte Chris erkennen, dass ihr Gesichtsausdruck merklich kühler wurde.

Das ist fast zehn Jahre her. Und sie ist immer noch eifersüchtig. Worauf eigentlich?

Chris hatte bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie in den letzten Jahren miteinander telefoniert hatten, immer das Thema Beziehung umgangen. Da Helen inzwischen mit ihrem Beruf verheiratet war, hatte sie auch nie groß nachgefragt. Chris hatte den Eindruck, dass es bei ihr, nach dem Ende ihrer Beziehung, keinen anderen Mann gegeben hatte. Er hatte ihr noch nicht mal erzählt, dass er mit Eddie zusammen war. Schließlich kannte er Helen und wusste, wie allergisch sie auf Eddie reagierte. Ganz besonders, wenn man ihr so etwas am Telefon und nicht persönlich sagte.

Doch bevor Helen in irgendeiner Art und Weise reagieren konnte, ging die Tür auf und Krause trat in Begleitung von Carstensen von der Staatsanwaltschaft und zwei anderen Männern ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte Chris, dass es gerade erst kurz nach zwei war, daher konnten sie einigermaßen pünktlich anfangen.

"Oh Gott, das ist Vincent!"

So entsetzt Engin auch war, er bewies so viel Verstand, diesen Kommentar nur zu flüstern. Trotzdem bekamen Chris und Helen ihn mit. Chris konnte sich das Grinsen nur schwer verkneifen, dagegen war Helens Blick eher fragend, doch sie kam nicht mehr dazu, der Sache auf den Grund zu gehen.

Carstensen ergriff das Wort. Er stellte seine Begleitung als Vincent Besnier und Andreij Halin vor und begrüßte auch Helen, Bronski und Beienberg.

Als sich die Nachzügler einen Sitzplatz suchten, setzte sich Helen neben Mike. Chris hatte den Eindruck, dass sie einige private Worte wechselten.

Wenn ich Pech habe, dann quetscht sie Mike aus und erfährt, dass ich was mit Eddie hatte. Dann war's das mit einem schönen Abend.

Aber Chris hatte keine Zeit mehr, sich weitere Gedanken zu machen, denn Krause machte ihm mit einer Geste klar, dass jetzt die Zeit für den Auftritt gekommen war. Er sammelte seine Unterlagen zusammen und nickte Engin zu, damit er den Beamer anwarf.

Die nächste halbe Stunde verbrachte Chris damit, einen Überblick über die Ermittlung und die verdächtigen Personen zu geben.

Natürlich reichte den Teilnehmern an dem Meeting dieser Kurzfassung nicht und sie stellten anschließend sehr viele Fragen.

Im Geiste dankte Chris Amanda, Adam und Joe. Ohne den ständigen Kontakt und die Diskussionen mit ihnen wäre er jetzt aufgeschmissen gewesen. So war sein Englisch flüssig und sicher.

Um die Show nicht alleine abzuziehen, bezog er auch Engin und Mike in die Fragerunde ein. Chris versuchte es auch bei Kallenbach, aber dessen Englisch reichte dafür nicht aus.

Um vier Uhr waren sie dann alle mit den Informationen, die Chris und seine Mannschaft gegeben hatten, zufrieden.

Krause hatte zehn Minuten Pause angesetzt und danach wollten sie mit dem Brainstorming beginnen.

Bevor Chris reagieren konnte, war Helen schon aufgestanden, hatte ihn am Arm gepackt und in einen Nebenraum geschleift.

Sie schloss die Tür hinter sich und drehte sich anschließend mit vor der Brust verschränkten Armen zu ihm um.

"Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich kam mir eben bei der Unterhaltung mit Mike wie ein absoluter Idiot vor. Erst fängst du was mit Eddie an und dann machst du wegen einer exotischen Französin Schluss mit ihm. Und du hast mir nie was davon erzählt. Was sollte das?"

Oh, sie ist sauer…

"Hör mal, Helen. Es ist nicht so, dass ich es dir nicht erzählen wollte. Es ist nur so, dass ich nie den passenden Moment gefunden habe. Wie hätt's dir gefallen, wenn ich es dir beiläufig in einer Mail oder am Telefon mitgeteilt hätte? Das wollte ich persönlich machen."

"Und warum hast du das nicht gemacht?"

"Das wollte ich doch! Erinnerst du dich, wie ich dich vor drei Jahren zur Sylvesterfeier eingeladen hatte? Da du arbeiten musstest, wollte ich dich sogar im Januar besuchen kommen, aber nein, deine Arbeit war dir wichtiger. Tut mir leid, aber ich laufe dir nicht hinterher. Willst du sonst noch was von mir?"

So sehr sich Chris auch über die Art ärgerte, wie Helen versuchte, ihn für ihren oberflächlichen Kontakt während der letzten Jahre verantwortlich zu machen, auf die Palme brachte sie ihn damit nicht. Und er wusste auch wieso.

Die Beziehung zu Helen war abgeschlossen. Er liebte sie nicht mehr. Damals, als er sich entschied, nicht mit nach Berlin zu gehen, da hatte er sie noch geliebt. Doch jetzt war nur noch Freundschaft übrig geblieben.

Auch Helen schien gemerkt zu haben, dass sie etwas zuviel von Chris verlangte.

"Es tut mir leid. Ich habe, glaube ich, gerade etwas überreagiert."

Sie rieb sich ihre Arme. Es wirkte nicht mehr wie eine Abwehrreaktion, eher als ob sie sich unsicher war.

Chris ging zu ihr und nahm sie in den Arm.

"Das haben wir wohl beide. Doch du hattest damals wohl schon das gesehen, was ich nicht sehen wollte."

"Und trotzdem seid ihr nicht glücklich geworden. Schade eigentlich, auch wenn ich euch nicht gesehen habe, ihr habt bestimmt gut harmoniert."

"Ja, schade... der Froschkönig und sein Prinz."

Dieser Vergleich war so etwas von verrückt, dass Chris grinsen musste. Auch Helen kicherte leise vor sich hin, sie wusste ganz genau, worauf er anspielte.

"Im Gegensatz zu mir hat er dich wenigstens erfolgreich gegen die Wand geklatscht."

"Nur dass das 'und wenn sie nicht gestorben sind' auch auf uns nicht zugetroffen hat."

Aber ich bekomme meinen Prinzen zurück. Garantiert.

So standen sie noch einige Minuten eng umschlungen da und schauten aus dem Fenster. Die Aussicht auf die in der Dämmerung beleuchtete Skyline von Frankfurt war aus diesem Büro atemberaubend.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Engin kam rein und Chris fühlte seinen musternden Blick.

"Ich will ja nicht stören, aber Krause will weitermachen. Die zehn Minuten sind rum."

"Danke."

Chris löste sich von Helen, streichelte ihr noch einmal kurz über die Wange, was ihm ein trauriges Lächeln einbrachte, und verließ den Raum, um sich wieder in die Arbeit zu stürzen.

Eine halbe Stunde später riss die Vibration seines Handys Chris aus einer Diskussion mit Beienberg. Eigentlich hatte er alle Anrufe auf Carola umgeleitet und sein Diensthandy im Büro gelassen. Für den Notfall hatte er jedoch ein anderes Handy bekommen, von dem nur Carola die Nummer hatte.

Er entschuldigte sich bei dem RILO-Mann, stand auf, entfernte sich weit genug von der Diskussion, um die anderen nicht zu stören, und nahm dann den Anruf an.

"Hallo Chris! Carola hier. Bitte ruf ganz dringend Bernhard Neuendorf an. Er besteht darauf, mit dir persönlich zu sprechen, ich glaube, er vertraut sonst niemandem. Jedenfalls behauptet er, dass Bechthold seine Bodyguards beseitigt hätte und ihn verfolgen würde."

Scheiße, scheiße, scheiße. Ich habe befürchtet, dass so was passiert. Warum wollte der Junge nicht auf mich hören?

"Was ist mit dem Team, das an Bechthold dran ist?"

"Fehlanzeige, sie haben Bechthold vor einer Stunde verloren. Rote Ampel und ein geschlossener Bahnübergang. Wir haben keine Ahnung, wo er steckt. Ich habe die Teams von den anderen Observationen abgezogen und sie strategisch günstiger positioniert, um ihn wieder zu finden. Zudem hat die Frankfurter Polizei den Auftrag, uns zu informieren, wenn sie den Wagen sehen. Aber es ist inzwischen dunkel und die Chancen"

Einen Vorwurf konnte Chris niemandem machen und Carola hatte alles unternommen, was er auch hätte machen können. Auch war es nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Und bisher war Bechthold immer kurze Zeit später wieder aufgetaucht. Deswegen unterbrach er sie.

"Warte einen Moment, Carola… Mike!"

Dieser war in der Diskussion vertieft, blickte aber hoch, als er Chris' Ruf hörte.

"Wenn ich richtig informiert bin, dann steht doch für heute Nachmittag kein Termin auf Bechtholds Liste, ich hab' aber heute Morgen nicht mehr viel mitbekommen, da ich das Meeting vorbereitet habe. Hat sich da noch was geändert?"

"Nein, wir haben da auch keine anderen Informationen. Er hatte nur heute Morgen einen Termin mit einigen Geschäftspartnern, bei denen wir davon ausgehen, dass sie nichts über die illegalen Machenschaften wissen."

Er unterbrach und sah auf seine Uhr.

"Wenn bei ihm alles normal läuft, dann macht er in einer halben Stunde Feierabend und lässt sich nach Hause fahren."

"Scheiße, verdammte. Er ist schon vor über einer Stunde weggefahren und wir haben ihn verloren. Und Neuendorf steckt in der Klemme."

Mikes Gesicht wurde schneeweiß. Er hatte erkannt, was das bedeuten konnte. Für mehr hatte Chris keine Zeit mehr, es kam jetzt auf jede Minute an. Er blickte sich nach Engin um. Der schien schon mitbekommen zu haben, dass etwas nicht stimmte, und schaute zu ihm.

"Mike, du übernimmst hier, bitte. Engin, du kommst mit mir."

Dann wandte er sich wieder zum Telefon.

"Carola, wir sind unterwegs. Neuendorf hat leider einige schlechte Erfahrungen gemacht und er ist zu wichtig, da muss ich mich selbst drum kümmern. Hast du die Nummer, über die er sich gemeldet hatte? Und hat er dir gesagt, wo er war?"

Die Nummer und die Ortsangabe schrieb Chris noch auf dem Notizblock mit, dann beendete er das Gespräch, riss den Zettel ab und ging zu Krause. Mit wenigen Worten erklärte er ihm, was los war und dass er weg müsste. Mit einem knappen Nicken bekam er das Okay, die Sitzung zu verlassen.

Im Laufschritt verließen Chris und Engin das Büro, bevor die anderen wirklich realisierten, was los war.

Auf dem Weg in die Tiefgarage informierte Chris seinen Partner.

Engins Reaktion war dementsprechend.

"Schöne Scheiße. Und was hast du vor?"

"Ich muss erst mal herausfinden, wo Bernhard genau ist. Dann sammeln wir ihn ein. Und egal, wie sehr er sich wehrt, er muss jetzt ins Zeugenschutzprogramm. Das Ganze ist viel zu heiß, als dass er noch in Frankfurt rumlaufen kann."

"Was hat denn Carola gesagt, wo er steckt?"

"Der gurkte eben mit seinem Wage irgendwo durch Neu-Isenburg. Ich rufe ihn an, sobald wir im Auto sitzen. Hoffentlich fährt er in der Dunkelheit nicht durch irgendwelche einsamen Gassen, sondern bleibt auf Hauptverkehrsstrassen. Nur dort ist er halbwegs sicher."

"Waren nicht die Jungs vom BKA für seine Sicherheit zuständig?"

"Ja, die haben da die größeren Erfahrungen und auch die entsprechend ausgebildeten Leute. Bernhard sollte rund um die Uhr von zwei Beamten aus Wiesbaden überwacht werden. Ich verstehe nicht, was da schiefgelaufen ist."

Bevor sie in die Tiefgarage gingen, machten sie noch einen kurzen Abstecher, um ihre Waffen aus den Schließfächern zu holen.

Beim Anlegen der Waffe stockte Engin.

"Scheiße! Ich habe was vergessen!"

"Vergiss es, wir haben keine Zeit, wir müssen los."

"Womit? Unser Dienstwagen ist in der Inspektion."

Chris wollte sich gerade seine Jacke überziehen und lossprinten, als er realisierte, was dies bedeutete. Er stockte nur kurz. Schließlich hatte er noch eine Alternative. Er legte wieder an Tempo zu.

"Dann nehmen wir halt meinen Wagen. Das Blaulicht ist ohne Sirene und wir haben keinen Funk drin, aber bis wir uns ein anderes Auto besorgt haben... ich will gar nicht erst daran denken."

"Hast recht. Selbst um von Mike die Schlüssel zu bekommen, müssen wir wieder nach oben und verlieren mindestens zehn Minuten…"

Damit war das Thema abgehakt und sie joggten die Treppen runter.

Zwei Minuten später waren sie in der Tiefgarage angekommen. Im Gegensatz zu Chris war Engin ziemlich außer Atem. Chris steuerte direkt seinen Audi an, setzte sich auf den Beifahrersitz und überließ seinem Partner das Steuer.

Gut, dass mir Krause letztens noch das Blaulicht genehmigt hat. Heute kann ich es wirklich gebrauchen. Bin doch noch kein reiner Bürohengst.

Wenige Augenblicke, nachdem sie die Garage verlassen hatten, zeigte das Handy Empfang und Chris wählte Bernhards Nummer.

Bernhard ging auch sofort an den Apparat.

"Hallo Bernhard! Chris hier. Was ist los?"

Die Stimme des Jungen klang selbst durch das Telefon sehr aufgeregt, fast schon panisch.

"Ich hab' heute um vier Uhr Feierabend gemacht und wollte noch kurz einkaufen, bevor ich nach Hause fuhr. Im Geschäft bemerkte ich, dass meine Schatten, Martin und Tobias, nicht mehr in meiner Nähe waren. Die sind doch sonst nie mehr als zwanzig Meter weit weg. Auf wen kann ich mich eigentlich noch verlassen? Und als ich mich suchend umblickte, da sah ich im nächsten Gang meinen Onkel und seine rechte Hand Sergeij Gesse. Ich habe da Angst bekommen, habe das Geschäft verlassen, mich in meinen Wagen gesetzt und habe versucht, sie abzuhängen. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Ich kann niemandem mehr trauen. Onkel Georg bringt mich um, wenn er mich erwischt."

Es war nur eine Vermutung, aber Chris hatte das Gefühl, dass Bernhard über eine Freisprechanlage telefonierte.

Ist auch besser so. Dann hat er beide Hände am Steuer.

"Bernhard, bleib' ruhig. Wenn du in Panik gerätst, dann wird alles viel schlimmer. Ich bin schon im Auto, unterwegs zu dir. Du musst mir nur sagen, wo ich dich jetzt finden kann."

So kalt es im Wagen auch war, Chris fing an zu schwitzen. Das, was er da gerade hörte, war gar nicht gut.

"Ich bin jetzt auf der Isenburger Schneise zwischen Neu-Isenburg und Frankfurt-Niederrad unterwegs."

Diese Straße sagte Chris überhaupt nichts, auch Engin zuckte mit den Achseln.

Gut, dass wir mit meinem Auto fahren.

"Warte einen Moment, Bernhard, ich muss schauen, wie ich am schnellsten dorthin komme."

Der Name war schnell ins Navigationssystem eingegeben und als das Ziel aufleuchtete, da musste Chris sich beherrschen, um nicht unkontrolliert loszufluchen.

Die Straße führte quer durch den Frankfurter Stadtwald und schien ziemlich einsam gelegen zu sein. Auch Engin bekam es mit und ordnete sich entsprechend auf der Schnellstraße ein.

"Bernhard, schau, dass du möglichst wieder auf eine belebte Straße kommst. Je belebter, um so besser, denn in einer Menschenmenge kann Bechthold dich nicht einfach so angreifen. Verstanden?"

Doch aus seinem Telefon kam nur noch ein Rauschen. Die Verbindung war unterbrochen.

"Verdammte Scheiße, Mist elender."

Auf Engins fragenden Blick reagierte Chris nicht, sondern wählte die Nummer noch einmal. Nichts, nur eine Stimme vom Band, die um eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter bat.

"Nimm's Blaulicht und tritt auf den Pinn, Engin. Bernhard ist nicht mehr erreichbar. Und ich hab' ein ganz übles Gefühl."

Während sie sich mit Blaulicht durch den Frankfurter Berufsverkehr quälten, wurde jede Minute für Chris zur Ewigkeit. Immer wieder versuchte er, Bernhard zu erreichen. Vergeblich.

Engin schien zu wissen, was mit Chris los war, er versuchte noch nicht einmal, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Nach dem fünften Versuch gab Chris auf und wählte stattdessen Carolas Nummer. Sie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

"Carola, ich habe die Verbindung zu Neuendorf verloren. Wir sind mit Blaulicht unterwegs, aber wenn der Verkehr so weiterläuft, dann brauchen wir noch mindestens fünfzehn Minuten, bis wir seine letzte bekannte Position erreicht haben. Ist eins von unseren Teams in der Nähe vom Stadtwald zwischen Neu-Isenburg und der Galopprennbahn?"

"Pauly hatte sich eben von Neu-Isenburg gemeldet. Ich hatte ihn sicherheitshalber nach Neuendorfs erster Meldung dorthin geschickt. Wo sollen sie genau hin?"

"In die Isenburger Schneise. Die führt durch den Stadtwald und endet kurz vor der Galopprennbahn. Wenn irgendwas Besonderes ist, sollen sie sich sofort melden. Ansonsten sollen sie anhalten, bevor sie auf die Kennedyallee fahren. Wir treffen sie dort. Und gib ihnen bitte auch noch Neuendorfs Kennzeichen."

"Alles klar, das Kennzeichen und die Marke hab ich mir schon rausgesucht. Ich informier' sie."

"Danke. Du bist klasse. Hast du schon die Zeit gefunden, etwas über die Jungs vom BKA rauszufinden? Die können doch nicht einfach so verschwunden sein."

"Nichts. Ich hab ihre Dienststelle informiert. Die können sie weder über Funk, noch über Handy erreichen. Aber sie melden sich bei mir, wenn sie was wissen."

Damit beendeten sie das Gespräch.

Gut, dass Carola mitgedacht hat. Jetzt haben wir noch eine Chance.

Der Verkehr war die Hölle. Alle Ampeln waren auf rot und Engin musste sich trotz Blaulicht konzentrieren, keinen Unfall zu bauen.

So gerne Chris auch sonst an Engins Fahrstil herummäkelte, jetzt ließ er seinen Partner so fahren, wie er es für richtig hielt. Jede Ablenkung könnte, zumindest für Engin, tödlich enden.

Zehn Minuten später überquerten sie endlich den Main, als Chris' Handy wieder klingelte.

"Ja, ich höre."

"Sie haben Neuendorfs Auto gefunden. So wie sie's mir geschildert haben, ist er von der Straße gedrängt worden. Der Junge ist weg. Die Spurensicherung ist informiert und unterwegs."

Als Chris nicht reagierte, redete Carola weiter.

"Tut mir leid, Chris."

Chris erwachte aus seiner Erstarrung. Er hörte, wie traurig und deprimiert sich Mikes Partnerin anhörte.

"Du kannst nichts dafür, du hast alles perfekt gemacht. So ist es nun mal in unserem Job, manchmal sind die anderen schneller. Wir fahren hin und melden uns."

"Gut, bis nachher."

Klack. Carola hatte aufgelegt. Einen Moment starrte Chris sein Handy an. Die Versuchung, es einfach aus dem Auto zu schmeißen, war groß. Aber er beherrschte sich und steckte es in seine Jacke.

"Machs Blaulicht aus. Wir brauchen es nicht mehr. Bechthold war schneller. Auf die zwei Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an."

"Was ist mit Bernhard?"

"Weg, sein Wagen ist von der Straße abgedrängt worden."

"Scheiße."

Währenddessen hatte Engin das Blaulicht ausgeschaltet und sich in den fließenden Verkehr eingeordnet.

Eine viertel Stunde später bog Engin in die Isenburger Schneise ein. Nach etwa fünfhundert Metern sah Chris im Scheinwerferlicht auf der rechten Seite rotes Flatterband und direkt dahinter Paulys geparkten Wagen.

Engin parkte den Audi ein Stück weiter. Chris sprang aus dem Wagen, bevor sein Partner den Motor abgestellt hatte, und ging zu Pauly und Herzog.

"N'abend."

"Hallo Chris. Tut mir leid, aber der Junge ist weg."

"Carola hat es mir schon erzählt. Gibt es irgend etwas Besonderes?"

"Nicht wirklich. Neuendorfs Auto ist von einem wesentlich schwereren Wagen von der Straße abgedrängt worden. Hier kannst du es gut sehen."

Pauly beleuchtete mit seiner Maglite Bernhards alten Golf und Chris konnte sehr gut die verschrammte Seite und den eingedrückten Spiegel sehen.

Dafür, dass Bechthold noch was von ihm will, ist er nicht zimperlich mit ihm umgesprungen.

"Da hat er aber keine Rücksicht genommen."

Damit sprach Engin genau das aus, was alle anderen dachten.

"Wenn ich es nicht besser wüsste... es kommt mir vor wie aus einem schlechten Krimi. Der arme Kerl. Was Bechthold wohl mit ihm vorhat?"

Auf Paulys Frage hatte Chris keine Antwort. Doch sein Magen, der ihm schon seit Helens Auftauchen Probleme machte, fuhr nun Achterbahn.

"Verdammt, jetzt beobachten wir Bechthold schon so lange. Wieso muss er uns ausgerechnet heute durch die Lappen gehen?"

Auf Engins Kommentar reagierte Chris nicht weiter. Er hatte in dem Moment realisiert, dass es auch noch die Beobachter gab.

Mit etwas Glück haben die Bechthold nicht verloren. Aber wie komm' ich an sie ran, ohne dass es auffällt?

So wie es an der Unfallstelle aussah, hatte die Polizei keine Spur mehr von Bechthold. Selbst wenn, wie sollten sie Bernhard in Sicherheit bringen, ohne die gesamte Aktion zu gefährden?

Mist, Bechthold ist mir einen Schritt voraus.

"Komm, Engin. Hier können wir außer dumm rumstehen nichts mehr machen. Lass uns fahren."

Doch bevor er wieder zum Auto ging, hatte er noch eine Frage und drehte sich wieder um.

"Sach mal Pauly, hat der Golf eigentlich eine Freisprechanlage?"

"Keine Ahnung, ich habe nur kurz mit der Taschenlampe ins Innere geleuchtet, um zu schauen, ob noch jemand drin ist."

"Kannst du mir denn mal deine Lampe geben? Ich bleib' auf dem Asphalt und ruiniere der Spurensicherung nichts."

Zögernd reichte Pauly Chris seine Taschenlampe. Dieser nahm sie und ging wieder einen Schritt auf den Golf zu. Dann leuchtete er hinein. Zuerst konnte Chris nichts erkennen, aber dann sah er auf der Beifahrerseite die Halterung fürs Handy. Sie war leer.

Chris machte die Lampe aus und reichte sie seinem Kollegen.

"Danke, sagt bitte Carola Bescheid, wenn die Spurensicherung was Besonderes findet. Und den Rest lese ich morgen in euren Berichten."

Dass er damit den Jungs gerade eine weitere Überstunde aufgebrummt hatte, interessierte Chris nicht weiter. Denn in ihm keimte ein Verdacht, warum Bechthold sich an Bernhard vergriffen hatte.

Kein guter Gedanke. Hoffentlich sehe ich Gespenster.

Bevor Engin etwas sagen konnte, lief Chris mit langen Schritten zu seinem Wagen und nahm auf der Fahrerseite Platz. Engin saß noch nicht ganz, als Chris auch schon mit quietschenden Reifen losfuhr.

"Hey! Was soll das? Du fährst doch sonst nicht wie eine Wildsau. Ich hab mich noch nicht mal angeschnallt."

Chris wusste zwar, wie er herausbekommen konnte, wo Bechthold Bernhard versteckt hielt, aber er hatte keine Ahnung, wie er an Bernhard rankommen sollte, ohne dass die Alarmsirenen in Bechtholds und seinem Kopf losgingen. Es gab da eine Möglichkeit, aber die behagte Chris überhaupt nicht.

Aber schließlich hat er sich angeboten. Hoffentlich steht er es durch, ohne dass ich ihn anschließend auf'm Friedhof besuchen muss. So eine Scheiße.

Kurz bevor es wieder auf die Kennedyallee ging, bog Chris in einen schmalen Waldweg ein, schaltete Beleuchtung und Motor aus.

"Was soll das, Chris?"

"Ich habe da eine Idee. Wenn mein Verdacht stimmt, dann setz' ich dich gleich an der nächsten Bahnstation ab. Es reicht, wenn ich meine Karriere ruiniere."

Der Köder ist ausgelegt...

Im Auto war es stockdunkel. Chris konnte so gerade eben einen Schatten von Engin erkennen, aber sein Tonfall sagte alles.

"Du spinnst. Und jetzt sag, was los ist. Ich werde meine Klappe halten, aber so schnell wirst du mich nicht los. Denn ich fühle mich Bernhard mindestens genau so verpflichtet wie auch du."

...und geschluckt.

Es war nicht fair, Chris war sich dessen voll und ganz bewusst, und wenn er eine andere Wahl gehabt hätte, dann hätte er Engin rausgehalten. Nicht genug, dass sein Partner jetzt mitspielte, bestimmt wollte Engin auch nicht mehr bis Ende des Monats warten, um Chris' Geheimnis zu erfahren.

Im Gegensatz zu Bernhard hat er aber eine Wahl. Ich kann den Jungen nicht einfach an Bechthold ausliefern. Nicht um mein Leben zu retten. Der Preis ist zu hoch.

Die Zeit würde nicht ausreichen, um Engin komplett einzuweihen, aber ganz ohne Informationen ging es auch nicht. Die Frage war nur, ob Engin ihm glauben würde.

"Darum geht es nicht. Erinnerst du dich, was ich vor einiger Zeit mal über mein Verhältnis zu Bechthold gesagt habe?"

"Du hast viel geredet, aber wirklichen Inhalt hat es nie gehabt."

"Ich habe gesagt, dass Bechthold andere Menschen verletzen und sogar töten wird, nur um mir zu schaden. Und ich befürchte, dass einer seiner Leute beobachtet hatte, wie ich Bernhard letztens aus der Straßenbahn geholt habe. Und jetzt hat er sich den Jungen geschnappt, um mich mit ihm zu erpressen."

"Du spinnst. Er ist sein Patenonkel. Auch wenn die zwei ihre Differenzen haben, wird er Bernhard deinetwegen nicht angreifen."

Chris fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.

"Ich wünsche, dass du Recht hast. Aber wenn ich jetzt Bernhards Handynummer anrufe, dann wette ich, dass Bechthold rangehen wird. Und dann sehen wir ja, ob sich meine Befürchtungen bewahrheiten."

"Das ist doch vollkommen verrückt. Ihr seid beide verrückt. Das kann doch einfach nicht wahr sein."

Engin schüttelte seinen Kopf so heftig, dass das Auto anfing zu schaukeln. Und damit erfüllte sich Chris' Befürchtung. Wenn sein Partner schon den ‚einfachen' Teil nicht glauben konnte, wie würde er reagieren, wenn er von seiner Unsterblichkeit erfuhr?

"Es ist viel schlimmer, als du glaubst."

Bevor Engin darauf etwas sagen konnte, steckte Chris sein Handy in die Freisprechanlage. Wenn dieser sich nicht mit Worten überzeugen ließ, dann musste Chris es halt mit Taten beweisen. Doch bevor er Bernhards Nummer wählte, drehte sich Chris noch einmal zu seinem Partner.

"Egal, was jetzt passiert. Sei still. Wenn es Bechthold ist, dann soll er den Eindruck bekommen, dass ich alleine bin."

Jetzt nickte Engin.

Es klingelte nur zwei Mal. Dann wurde abgehoben.

"Hallo! Wer ist am Apparat?"

Der harte Akzent war für Chris unverkennbar.

Bechthold. Keine Frage. Nun lass uns spielen. Auch wenn du jetzt die Regeln bestimmst, habe ich noch einige Asse im Ärmel. Hoffentlich hat dir Bernhard verheimlicht, dass ich ein Bulle bin.

"Hallo! Wer sind Sie? Ich möchte Bernhard Neuendorf sprechen."

Das leise Lachen, das durch die Boxen klang, erzeugte bei Chris eine Gänsehaut.

"Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie sich so schnell melden. Das wird Bernhard bestimmt freuen."

"Wer sind Sie denn?"

"Bechthold, ich heiße Georg Bechthold. Langsam sollten Sie sich meinen Namen doch merken."

"Was wollen Sie? Ich möchte Bernhard sprechen."

Chris bemühte sich, seiner Stimme einen ungeduldigen Klang zu geben. Als ob er nicht wüsste, was Bechthold wollte.

"Sie werden den Jungen schon sprechen. Später. Erst will ich mit Ihnen reden. Und jetzt werden Sie mir nicht einfach den Hörer auflegen."

"Ach, ja? Wie wollen Sie das denn verhindern?"

Wieder ertönte aus dem Lautsprecher Bechtholds Lachen. Eindeutig amüsierter, aber nicht weniger gefährlich.

"Ganz einfach. Je schneller Sie auflegen, umso größer wird das Päckchen sein, das sie morgen vor Bernhards Haustür finden werden. Und wenn Sie es auspacken, dann werden Sie abgeschnittene Gliedmaßen des Jungen finden. Wenn Sie jetzt auflegen, wird es seine Hand sein. Später vielleicht ein Ohr oder sein kleiner Finger. Was halten Sie von dem Deal?"

"Sie sind ja vollkommen verrückt. Der Junge ist Ihr Patenkind. Dem können Sie doch gar nichts antun. Sie sind einfach nur pervers und ich werde nicht mehr mit Ihnen reden."

"Ich habe seine Eltern umbringen lassen, was sollte mir schon an dem Kind liegen? Wo er Sie doch bevorzugt. Nein, er ist nur ein Werkzeug, mehr nicht."

"Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir? Ich kenn' Sie ja noch nicht mal."

Um den panischen Unterton in seine Stimme zu legen, brauchte sich Chris nicht wirklich anzustrengen.

"Das macht nichts, dafür kenne ich Sie. Ich will Sie treffen. Morgen früh um neun Uhr sind Sie vor Bernhards Wohnung, da werden Sie ein kleines Päckchen finden, das Ihnen zeigt, wie ernst es mir ist. Und danach rufen Sie mich an. Ich glaube, die Geschichte, dass Sie die Polizei rauslassen sollen, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen."

Klack.

Bechthold hatte aufgelegt.

Verdammt, warum muss ich nur Recht haben?

Eine Minute saß Chris schweigend da. Auch wenn das Gespräch in etwa so gelaufen war, wie er es befürchtet hatte, war es nicht einfach zu verdauen. Der Deal, den Bechthold anbieten würde, war einfach zu durchschauen. Sein Leben für Bernhards.

Da spiel' ich nicht mit! Meine Regeln sind nicht deine Regeln. Du mieser Arsch wirst dich noch wundern.

In der Zwischenzeit hatte sich auch Engin von dem Gehörten etwas erholen können.

"Du hattest Recht."

Es war eine simple Feststellung. Nicht mehr.

"Und was sollen wir jetzt machen?"

Ja, jetzt wird es zu unserem Spiel. Verdammt, dabei wollte ich dich raushalten, doch ohne dich geht es nicht.

"Ich werde genau das machen, was Bechthold will."

Bevor sein Partner zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr Chris fort.

"Ich werde die Polizei aus dem Spiel raushalten, genau wie er es sich gewünscht hat."

"Aber wir sind doch"

"Nein!"

Es rutschte Chris heftiger raus, als er beabsichtigt hatte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Denn mit Wut im Bauch hatte er keine Chance, gegen Bechthold zu bestehen. Wütend sein war gleichbedeutend mit Fehler machen, das durfte er sich nicht erlauben, wenn Bernhard überleben sollte.

"Engin, wenn wir die Kollegen einschalten, sind wir für die halbe Nacht außer Gefecht gesetzt, und es ist schneller neun Uhr, als mir lieb ist. Und ich will kein Päckchen finden. Ich will Bernhard rausholen. Jetzt und sofort. In einem Stück. Ist das klar?"

"Und wie willst du das machen? Wir wissen doch noch nicht mal, wo er ist."

"Wir nicht, aber ich wette, dass es da drei Buchhändler gibt, die es mir sagen werden."

Plötzlich fühlte Chris, wie sich Engins Hand auf seine Schulter legte. Und dann wurde er kräftig durchgeschüttelt.

"Verdammt noch mal. Jetzt rede endlich. Ich bin es satt, dass du mich immer nur mit Halbwahrheiten abspeist."

Die Hand blieb auf seiner Schulte liegen. Engin zog sie nicht zurück. Für Chris fühlte es sich richtig an, dass er seine linke Hand darauf legte.

Jetzt war der Moment der Entscheidung gekommen, denn es war nicht wenig, was Chris von Engin verlangte. Und gefährlich noch dazu.

"Dann musst du dich jetzt entscheiden. Was ich machen werde, ist illegal und es kann sein, dass ich dafür vom Dienst suspendiert werde. Und es ist gefährlich. Wenn wir Pech haben, können wir draufgehen."

Engin zog seine Hand nicht weg.

"Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir noch ein Leben schulde. Und ich denke, es ist richtig, wenn ich es einsetze, um Bernhards Leben zu retten. Der Junge kann nun wirklich nichts dafür."

Es war nicht einfach für Chris. Denn um Bernhard zu retten, musste er Engin alleine vorgehen lassen. Und hatte keine Möglichkeit, ihn zu schützen. Und wenn Engin dann auch noch angegriffen wurde...

Chris lehnte seinen Kopf in die Nackenstütze und schloss die Augen. Es war wirklich nicht einfach. Doch hatte er eine Wahl?

"Gut, aber wir spielen nach meinen Regeln. Du machst, was ich sage."

"Einverstanden."

Wie zur Bestätigung verstärkte Engin den Druck auf Chris' Schulter.

"Jetzt musst du mir nur erzählen, wie du von den Buchhändlern erfahren willst, wo Bechthold ist."

"Das kostet mich nur ein Telefongespräch. Hast du zufällig deren Nummer gespeichert?"

"Klar doch. Ich stöbere alle zwei Wochen in deren Laden und meistens ist es ein sehr teueres Vergnügen. Aber wieso sollten sie es dir erzählen?"

Woher er von den Beobachter wusste, wollte Chris Engin nicht erzählen. Aber er konnte seinen Partner ablenken.

"Wenn ich es erfahre, dann lädst du mich zum Essen in ein Nobelrestaurant ein. Ohne Sabine."

"Gut, wenn nicht, dann kochst du für Sabine und mich."

Engin zögerte einen Moment.

"Vergiss es, ich will die Wette nicht gewinnen."

"Ich werd' dich drauf festnageln. Und jetzt gib mir die Nummer."

"Dafür werden wir endlich mal wieder privat unterwegs sein. Die Nummer lautet..."

Chris tippte sie gleichzeitig in sein Handy ein, das immer noch in der Freisprechanlage steckte. Und nach dreimaligem Klingeln ging auch jemand ran.

"Buchhandlung am Markt, Andreas Michells, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Hallo, ich bin Patrick Anderson und Joe Dawson hat mich gebeten, Ihnen schöne Grüße auszurichten."

Stille. Chris befürchtete schon, dass er zu hoch gepokert hatte. Doch dann kam eine Antwort.

"Jetzt kann ich reden, ich bin im Hinterzimmer. Wie kommt es, dass Joe Ihnen unsere Telefonnummer gegeben hat?"

Jetzt geht es los.

"Ich soll für einige Tage aushilfsweise Thomas Patane beobachten. Da ich noch nicht viel Erfahrung habe, hat mir Joe für irgendwelche Notfälle Ihre Nummer gegeben."

Bei der Erwähnung von Thomas schnappte Engin nach Luft. Schließlich kannte er von Mike den Namen von Eddies Freund.

"Und jetzt ist so ein Notfall eingetreten?"

Die Stimme von Andreas Michells war eindeutig amüsiert und nicht im Geringsten verärgert.

"Ja, da habe ich meinen ersten Einsatz und schon vermassel ich ihn und verliere Patane aus den Augen. Ich habe schon alles abgeklappert. Seine Wohnung, den Arbeitsplatz, das Fitnesscenter und die Wohnung seines Freundes. Nichts. Keine Spur von ihm. Und langsam habe ich Angst, dass er vielleicht Bechthold in die Quere gekommen ist, schließlich ist der ja ein Jäger..."

"Ich kann Sie gut verstehen, etwas Ähnliches ist mir bei meinem ersten Einsatz auch passiert. Aber Frankfurt ist groß und Patane ist hier nicht der einzige, der bisher erfolgreich einen großen Bogen um Bechthold gemacht hat. Warten Sie einen Moment, ich rufe auf der anderen Leitung meine Schwester an."

Bevor Chris noch etwas sagen konnte, kam aus dem Lautsprecher das unsägliche Gedudel der Warteschleife.

"Du hast mir schon wieder etwas verheimlicht. Du weißt mehr über die Buchhändler als du zugibst."

Oh, oh, Engin hört sich ziemlich sauer an.

Chris konnte daran nichts ändern, versuchte aber, es seinem Partner verständlich zu machen.

"Es ist nicht mein Geheimnis. Ich bin zufällig darüber gestolpert. Und wenn man mich bittet, die Klappe zu halten, dann tue ich es auch. Deswegen erwarte bitte auch keine weiteren Informationen."

"Ach ja, der gnädige Herr"

Als das Gedudel abbrach, stockte Engin.

"Sind Sie noch dran?"

Michells war wieder am anderen Ende der Leitung.

"Ja, haben Sie etwas herausbekommen?"

Wieder zögerte der Buchhändler einen Moment. Es schien, als ob es ihm jetzt unangenehm war, die Informationen weiter zu geben.

"Es tut mir leid. Bechthold hat vor etwa einer dreiviertel Stunde einen Mann in seine Gewalt gebracht und ihn in einem verlassenen Gebäude in Riederwald untergebracht. Es war zu dunkel, um zu erkennen, ob es wirklich Patane war. Wenn er es war, dann lebt er noch, denn es hat keine Lichtshow gegeben. Haben Sie etwas zu schreiben, dann gebe ich Ihnen die Adresse. Aber bitte gehen Sie kein Risiko ein. Sie wissen schon"

Chris wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde, und deswegen unterbrach er Michells.

"Nur beobachten und niemals eingreifen, ja, ich weiß"

"Halten Sie sich auch daran, egal was passiert. Es sind schon zu viele von uns gestorben, weil sie sich nicht an die Regel gehalten haben. Bechthold ist nicht allein, sondern er hat laut Information meiner Schwester noch drei Leute bei sich. Ursula wird auf der Rückseite des Gebäudes auf Sie warten. Und jetzt schreiben Sie die Adresse auf."

Irgendwie erinnerte Chris der Tonfall dieser Predigt an sein Verhalten Mike gegenüber, wenn der meinte, den einsamen Wolf spielen zu müssen.

Deswegen sagte er auch nichts und schrieb mit.

Die Verabschiedung fiel sehr kurz aus, denn Chris gab vor, auf glühenden Kohlen zu sitzen, wofür Michells auch Verständnis hatte.

Als das Gespräch beendet war, seufzte Chris auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

"Wie viel verheimlichst du mir?"

Das musste ja kommen.

"Wenn du alles wissen willst, dann mach dich auf eine lange Nacht gefasst."

"Gut, nicht jetzt. Aber direkt anschließend. Bernhard geht vor. Fragt sich nur, wie wir weiter vorgehen. Ich habe da noch keinen Plan."

Darauf konnte Chris nur mit den Schultern zucken. Schließlich hatte er damit gerechnet, dass Engin drängeln würde. Und das mit dem Plan war wirklich ein Problem, denn den hatte Chris auch nicht. Er musste erst sehen, wie die Örtlichkeit war, bevor er sich etwas überlegen konnte.

"Ich auch nicht. Wir sollten uns aber bei Krause und Carola abmelden. Die haben bestimmt Verständnis, dass wir jetzt mehr als nur ein Bier brauchen."

"Und dann fahren wir nach Riederwald und sehen uns um, vermeiden aber, Ursula in die Arme zu laufen. Und dann sehen wir weiter. Das ist doch schon mal besser als nichts. Ach ja, versuch ja nicht, dich anschließend wieder rauszureden. Das funktioniert nicht mehr."

Chris wählte schon Krauses Nummer, hörte aber auf und drehte sich zu Engin.

"Wenn du mir versprichst, dass du mich anschließend nicht in die Klapse steckst, dann wirst du mehr erfahren als dir lieb ist."

"Du verschreckst mich nicht mit solchen Drohungen, Chris. Besser so als diese ständige Ungewissheit. Und ich werde dir keine Zwangsjacke verpassen. Dessen kannst du dir sicher sein."

"Wart's ab. Und jetzt lass mich telefonieren, sonst kommen wir nie los."

Die Telefongespräche waren schnell geführt. Da auch das Meeting beendet war, war Krause einverstanden, dass sie Feierabend machten.

Mit Carola war es eine andere Sache. Chris vermutete, dass sie nicht frei sprechen konnte; er konnte im Hintergrund Kallenbachs Stimme hören. Dafür informierte sie Chris, dass man die BKA-Leute inzwischen gefunden wurden. Man hatte sie unmittelbar in der Nähe von Bernhards Arbeitsplatz niedergeschlagen und ihre Ausweispapiere gestohlen. Sie waren wohl kurz darauf bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden, aber sie waren erst vor kurzem identifiziert worden. Mike hatte sich schon darum gekümmert, aber laut Aussage der Ärzte waren sie nicht vor dem nächsten Morgen vernehmungsfähig. Und so musste abgewartet werden.

Chris war froh, dass sich seine Leute um alles kümmerten, so würde es nicht auffallen, dass er noch etwas Spezielles vorhatte. Er wurde erst stutzig, als Carola ihm und Engin alles Gute wünschte. Ihr war wohl klar, dass sie auf eigene Faust ermitteln würden.

Gott, noch mehr Leute, die involviert sind. Hoffentlich geht das nicht nach hinten los.

Nachdem Chris das Gespräch beendet hatte, nahm er das Handy aus der Halterung, schaltete es aus und legte es ins Handschuhfach.

"Gib mir auch dein Handy... und deine Dienstwaffe."

"Das mit dem Telefon kann ich ja noch verstehen, aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich unbewaffnet dort reingehen werde. Ich bin doch nicht lebensmüde."

Wenn die Situation nicht so ernst wäre, hätte sich Chris über Engin amüsiert. Stattdessen nahm er seine unregistrierte Waffe aus dem Handschuhfach und hielt sie seinem Partner unter die Nase.

"Nein, du wirst dafür dieses Teil einstecken. Sie ist nicht erfasst. Ich bezweifle, dass wir Bernhard dort rausholen können, ohne uns verteidigen zu müssen. Was meinst du, wie erfreut die Jungs von der Spurensuche sein werden, wenn sie Kugeln finden, die aus deiner Dienstwaffe abgeschossen wurden."

"Hmm, ich glaube, dann bekäme ich ein Disziplinarverfahren angehängt... dagegen war das von Esser damals ein Zuckerschlecken."

Engin nahm seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter und tauschte sie aus. Währenddessen legte auch Chris seine Waffe weg. Ihm blieben nur noch die Messer übrig, um sich zu verteidigen.

Doch gleich ziehe ich meinen Mantel an. Dann habe ich mein Schwert und alles, was ich sonst noch brauche.

Engin hatte natürlich bemerkt, dass Chris ohne Schusswaffe war.

"Glaubst du, dass es gut ist, wenn du jetzt unbewaffnet reingehst?"

Mit einer fließenden Bewegung griff Chris an die Innenseite seines Beines und hielt Engin ein Messer unter dessen Kehle. So, dass er die Haut ganz leicht berührte und ein vereinzeltes Barthaar abrasierte. In der Dunkelheit konnte Chris spüren, wie Engin schluckte.

"Was ich habe, um mich zu verteidigen, reicht voll und ganz. Und glaub mir, auf zehn Meter habe ich damit eine bessere Trefferquote, als du sie jemals mit einer Schusswaffe erreichen wirst. Und denk mal nicht, dass Bechtholds Wachhunde unbewaffnet sind, ich besorg' mir da schnell was Neues."

Diese kleine Demonstration hatte ihren Zweck erreicht, denn als Chris das Messer weglegte, fasste sich Engin an seine Kehle. Es dauerte einen Moment, bis er sprach.

"Gut, du hast mich überzeugt. Jetzt fahr los, sonst sind wir noch zu spät."

"Wie du willst."

Um nach Riederwald zu kommen, fuhr Chris nicht durch die Stadt. Stattdessen nahm er den Weg über die Autobahn. Staus hatten sie keine und so waren sie nach fünfzehn Minuten angekommen. Die angegebene Adresse lag in einer Seitenstraße, die nur schwach beleuchtet war. Chris hielt nicht direkt vor dem Grundstück, sondern fuhr zügig daran vorbei, bog an der nächsten Ecke ab und parkte am Straßenrand hinter einem Honda.

Sie standen direkt unter einer Straßenlampe, so dass Chris jetzt auch Engins Gesichtszüge erkennen konnte.

"Das ist jetzt deine letzte Möglichkeit, dass du hier noch rauskommst. Wenn wir auf dem Grundstück sind, kannst du nicht mehr nein sagen."

"Ich bin kein Neuling mehr. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Aber ich werde nicht abspringen, schließlich bist du mir anschließend eine Erklärung schuldig und die will ich nicht verpassen."

Dabei hatte Engins Gesicht einen sehr ernsten Gesichtsausdruck, und wenn es Chris nicht schon vorher klar gewesen wäre, jetzt war er sicher, dass Engin keinen Rückzieher machen würde.

Aber eine Frage konnte er sich doch nicht verkneifen, es reichte, dass er damals mit Mike den Stress gehabt hatte. Noch einmal wollte er sich das nicht antun.

"Engin?"

Der hatte den Sicherheitsgurt gelöst und wollte aussteigen. Stockte aber, als Chris ihn so ansprach.

"Was ist denn jetzt schon wieder? Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir jetzt zusammen aussteigen und uns alles ansehen. Noch mal lass ich mich nicht abhängen. Das mit Weihnachten war schon übel genug."

"Ehrlich, das war damals keine Absicht. Aber ich wollte eigentlich etwas anderes fragen."

"Was denn?"

Der genervte Unterton war nicht zu überhören.

"Hast du eigentlich eine Patientenverfügung?"

Erst sah Engin sehr überrascht aus, doch dann hatte er kapiert, worauf Chris anspielte und grinste.

"Ja, die habe ich schon seit meinem ersten Arbeitstag. Meine Mutter hat damals darauf bestanden. Sie hat meinen Bruder solange genervt, bis er ihr einen Vordruck besorgt hatte, den hatte sie für mich ausgefüllt und mich dann vor vollendete Tatsachen gestellt."

"Sie kennt dich ja."

"Eben, deswegen hat sie mir das Dokument aus den Fingern gerissen, kaum dass ich es unterschrieben hatte, und in einem Ordner abgeheftet. Mach dir keine Sorgen. Du wirst für mich keine Entscheidung treffen müssen, wenn mir was passiert."

Klasse Mutter. Ich liebe sie dafür.

"Du wusstest jetzt aber genau, worauf ich anspiele."

"Ich kenn' dich, du bist mein Partner. Und jetzt hör auf so rumzureden. Wir müssen."

"Ja, du hast Recht. Aber ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe."

"Du kannst es dir verdienen, indem du mich bekochst."

"Träum weiter."

Aber Engin hatte Recht. Sie mussten jetzt wirklich los. Deswegen stieg Chris aus und öffnete den Kofferraum. Er nahm seinen Staubmantel und zog ihn über. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens nahm er sein Schwert und legte es mit Halterung wieder zurück in den Kofferraum.

Stattdessen nahm er ein weiteres Messer, das er im Mantel verstaute.

Wenn Bechthold sieht, dass ich ein Schwert trage, dann fliegt alles auf. Und ich will nicht kämpfen. Ich will nur Bernhard rausholen.

Engin hatte diese Aktion mit einer hochgezogenen Augenbraue beobachtet, sagte aber nichts. Wofür Chris ihm dankbar war. Genauso kommentarlos zog Engin die Gummihandschuhe an, die Chris ihm reichte. Sie wussten beide, wie wichtig es war, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen.

Schweigend gingen sie zurück zu dem Grundstück, wo sich Bechthold aufhalten sollte. In ausreichendem Abstand blieb Chris in einer Hauseinfahrt stehen und beobachtete das Gelände.

Engin war direkt an seiner Seite.

Falls man die Straße beobachten würde, konnte man sie nicht sehen.

Bechtholds Versteck lag mitten in einem verwilderten Garten. Das Haus musste schon länger leer stehen, anders konnte sich Chris den Zustand nicht erklären.

Viel konnte Chris auf der Entfernung nicht erkennen, nur dass man ohne Probleme das Gelände betreten konnte, Deckung gab es genug.

Aber nichts hilft gegen die Alarmanlage in meinem Kopf.

Chris schätzte, dass er ungefährdet bist zur Grundstücksgrenze kommen würde, mit etwas Glück vielleicht bis zu Haustür, aber dann war garantiert Feierabend und die Kopfschmerzen würden ihn heimsuchen.

Und wenn ich es fühle, dann fühlt Bechthold es auch.

"Und? Wie sehen deine weiteren Pläne aus?"

Chris hatte Mühe, Engin zu verstehen, denn dieser hatte seinen Kommentar nur geflüstert.

"Lass uns eine Runde um das Gelände drehen, sicher ist sicher. Und ich muss wissen, wo Ursula ist."

Es war auf dieser Entfernung eigentlich unsinnig, so leise zu reden, aber instinktiv hatte Chris auch mit gedämpfter Stimme geantwortet.

"Was willst du denn von ihr?"

"Nichts, ich will nur verhindern, dass sie irgendwie in die Schusslinie gerät."

Bevor Engin antworten konnte, löste sich Chris aus dem Schatten und machte sich auf den Weg. Er ging mitten auf dem Bürgersteig, Engin direkt neben sich.

Sie würden so öffentlich weniger auffallen, als wenn sie versuchten herumzuschleichen.

Obwohl das Wetter eigentlich jeden Fußgänger hätte vertreiben müssen. Nicht nur, dass ein starker Wind wehte. Nein, inzwischen regnete es, vermischt mit Graupel und Schnee.

Auch wenn der Mantel die Nässe abhielt, er konnte nicht verhindern, dass Chris schon nach wenigen Minuten durchfroren war.

Auch Engin schien unter dem Wetter zu leiden, sagte aber nichts.

Zwanzig Minuten später waren sie wieder zurück. Ursula hatten sie gefunden und einen großen Bogen um sie gemacht. Auch Bechtholds Mercedes stand gut versteckt in der Einfahrt. Es war der erste Hinweis, dass dieser wirklich da war.

Doch den ultimativen Eingang hatten sie nicht gefunden. Das Anwesen war erstaunlich groß. Vier Stockwerke hoch mit einer Grundfläche von etwa fünfzehn mal zehn Meter. Viel Erfahrung mit seiner inneren Alarmanlage hatte Chris noch nicht, aber er bezweifelte, dass Bechtholds Präsenz das ganze Gebäude ausfüllen würde.

Es kommt auf einen Versuch an.

Sowohl die Haus- als auch die Hintertür schienen mit mehreren Schlössern verschlossen zu sein und an den Fenstern waren entweder die Rollläden herabgelassen oder sie waren mit Brettern vernagelt.

Hinzu kam auch noch, dass man durch die Ritzen kein Licht sehen konnte. Es wirkte, als ob das Haus immer noch verlassen war. Wenn nicht Ursula in ihrem Wagen gewesen wäre, dann hätte Chris gezweifelt, ob er hier wirklich richtig war.

Ein leises Klappern schreckte Chris aus seinen Gedanken. Er horchte und bemerkte, dass das Geräusch von Engin kam. Genau gesagt waren es seine Zähne, die vor lauter Zittern aufeinander schlugen.

Wenn wir nicht schnell aus der Scheißkälte rauskommen, dann holt er sich 'ne Lungenentzündung.

Den ursprünglichen Plan, Engin vorzuschicken, musste Chris aufgrund der Örtlichkeit abhaken. Engin würde genau bis zur Haustür kommen und keinen Schritt weiter. Dazu war alles zu sehr abgesichert. So gerne sich Engin auch in Computersysteme einhackte, Türschlösser konnte er nicht knacken.

Insgeheim dankte Chris Amanda für seine Ausbildung und die Ermahnung, das ‚Nageletui' immer bei sich zu tragen. Heute würde er es brauchen.

"Und? Wie sieht dein Plan jetzt aus?"

Das Bibbern war in Engins Stimme nicht mehr zu überhören.

"Wir schleichen uns bis zum Haupteingang. Dann knacken wir das Schloss, gehen rein und suchen das Gebäude Raum für Raum ab. Wenn wir auf Bechtholds Leute treffen, dann schalten wir sie möglichst leise aus. Ich will nicht, dass jemand draufgeht. Also überlässt du es besser mir und greifst nur im Notfall ein."

"Damit habe ich irgendwie gerechnet. Und was ist, wenn wir Bernhard finden?"

"Du machst ihn los und kümmerst dich um ihn. Ich pass auf, dass wir heil rauskommen, und wir versuchen, Bechthold aus dem Weg zu gehen. Lass dich nicht auf ihn ein, das überlebst du nicht."

"Und was machen wir mit Ursula?"

"Da brauchst du dir keine Gedanken drum zu machen. Sie ist in ihrem Wagen sehr gut aufgehoben. Sie braucht keinen Ritter in einer goldenen Rüstung, der sie rettet."

Wie heißt es so schön… ‚Immer beobachten, nie einmischen'. Es wird ihr Leben retten.

"Krieg' ich, bevor wir reingehen, noch eine kurze Erklärung, warum ihr so verfeindet seid? Nur so, rein interessehalber, damit ich weiß, weswegen ich vielleicht sterbe."

Das saß. Der Schuss ging ins Schwarze. Chris atmete einmal tief durch, bevor er antwortete.

"Es kann halt nur Einen geben."

"Bitte?"

Dass Engin es nicht verstehen konnte, war Chris klar.

"Das ist die kürzeste Erklärung. Alles andere sprengt den Zeitrahmen, denn wenn wir jetzt nicht reingehen, liegst du morgen mit 'ner Lungenentzündung im Bett. Wenn wir Bernhard rausgeholt haben und wieder zu Hause sind, dann erzähl' ich es dir bei einem Bier."

"Ich will dann lieber was Heißes. Ein Grog wäre nicht schlecht. Dann lass uns loslegen."

Dieses Mal blieben sie im Schatten und nutzten jede Deckung, um ungesehen auf die andere Straßenseite und bis zur Haustür zu kommen.

Aber kurz bevor sie die Treppe zum Eingang hochgingen, bemerkte Chris einen Lichtschein und eine Bewegung an der Haustür. Er machte auch Engin ein Zeichen, damit dieser stehenblieb. Sie standen gut verborgen im Schatten einer Trauerweide, deren Äste fast bis zum Boden hingen.

Da öffnete sich auch die Tür und Bechtholds Bodyguards kamen raus. Sie verschlossen wieder alle Schlösser und machten die Taschenlampe aus, bevor sie keinen Meter an Chris und Engin vorbei zum Auto gingen. Wenn Chris das Gemurmel richtig verstand, dann hatten sie den Auftrag, Essen beim Italiener zu besorgen, waren sich aber noch nicht einig, zu welchem sie fahren sollte.

Lasst euch ruhig Zeit. Wir brauchen jede Sekunde...

Mit Genugtuung sah Chris die Rückleuchten in der Dunkelheit verschwinden. Engin brauchte keine Aufforderung und war schon losgespurtet.

Keine Minute später standen sie vor der verschlossenen Haustür. Erleichtert registrierte Chris, dass seine Alarmanlage noch nicht losgegangen war. Damit konnte er schon mal ausschließen, dass Bechthold im vorderen Teil des Hauses war. So konnte er sich ein klein wenig Zeit lassen, um das Gebäude zu betreten.

Jetzt kann ich die Schlösser so knacken, dass wir fast schon lautlos reinkommen. Damit haben wir den Überraschungseffekt

Viel sehen konnte Chris nicht, aber irgendwo in seinem Mantel hatte er auch noch eine kleine Taschenlampe. Viel Licht brachte sie nicht, aber es würde reichen, um das richtige Werkzeug auszusuchen.

Der Rest ist ohnehin mehr Gefühl als Sehen.

Natürlich hatte sich die Lampe im Futter verhakt. Deswegen nahm Chris das ‚Nageletui' heraus, drückte es Engin in die Finger und wühlte weiter. Als er die Lampe endlich draußen hatte, inspizierte Chris auch gleich die Schlösser. Sie hatten eine recht simple Konstruktion.

Gebt mir fünf Minuten und wir sind drinnen.

"Kannst du mir verraten, was du da machst? Dein Nageletui kannst du auch wieder einstecken."

"Es ist ein Geschenk von Amanda und ich brauche mein ‚Nageletui' noch, damit wir lautlos rein kommen."

"Nein, Chris, sag, dass das nicht wahr ist. Sag, dass ich nicht das in den Fingern halte, was ich befürchte."

Was hat Engin eigentlich erwartet? Manchmal ist er doch sehr naiv.

So kalt und angespannt Chris im Moment war, die Art, wie Engin seine Verzweiflung geflüstert zum Ausdruck brachte, brachte ihn zum Grinsen.

"Nein, wir klopfen jetzt an und fragen, ob sie uns reinlasssen. Du bist doch auch nicht zimperlich, wenn du dich in ein fremdes Computersystem hackst. Nun mach es auf. Und dann gib mir bitte die zweite ‚Nagelfeile' von links."

Keine fünf Minuten später hatte Chris die Schlösser geknackt und öffnete nun vorsichtig die Tür. Die ersten Zentimeter ging auch alles gut, aber dann quietschen die Scharniere. Laut und durchdringend. Chris hatte das Gefühl, dass dieses Geräusch durch das ganze Gebäude hallte.

Er handelte schnell und ohne nachzudenken. Er öffnete die Tür, bis er und Engin durchpassten, schob Engin durch den Spalt, ging hinterher und tastete sich durch den Flur in den nächsten Raum. Um nicht gegen irgendwelche Hindernisse zu stoßen, beleuchtete er den direkten Weg vor sich mit seiner kleinen Lampe. Die Tür konnte er nur anlehnen, wollte er keine zusätzlichen Geräusche verursachen. Die Lampe machte Chris jetzt aus, um sich nicht zu verraten. War es draußen schon dunkel, im Gebäude konnte man noch nicht einmal Schatten erkennen. Chris blieb deswegen im ständigen Körperkontakt mit Engin, um ihn nicht zu verlieren.

Dass währenddessen die Alarmanlage in seinem Kopf losgegangen war, machte es Chris nicht einfacher, sich auf die Vorgänge im Flur zu konzentrieren.

Er schloss die Augen und versuchte, die Schmerzen in den hintersten Winkel seines Kopfes zu verdrängen. Als Chris das geschafft hatte, ließ er die Augen noch einen Moment geschlossen und horchte. Aber außer Engins hektischen Atemzügen war alles still.

Doch dann hörte Chris ein leises Tapsen, als ob sich jemand vorsichtig an sie heran schleichen würde. Chris öffnete seine Augen. Es war zwar immer noch stockdunkel, aber er erwartete, den Schein einer Taschenlampe zu sehen.

Um Engin zu warnen, berührte Chris ihn an der Seite und legte dann seine Hand auf dessen Mund. Als er Engins Kopfnicken fühlte, nahm er die Hand wieder weg.

In dem Moment fiel auch schon ein Lichtstrahl auf die Tür und durch den Schlitz, dann wanderte er weiter.

Jetzt waren die Schritte, die immer näher kamen, unüberhörbar.

Und als eine Gestalt die Tür nach innen öffnete, griff Chris an und trat dem Gegenüber die Lampe aus der rechten Hand. Sie flog durch die Luft und prallte gegen die Wand. Dies schien zuviel für das Teil zu sein, denn sie ging aus.

Hättest besser Qualität kaufen sollen, mit 'ner Maglite wäre das nicht passiert.

Dafür war Chris jetzt eindeutig im Vorteil. Er konnte zwar nichts sehen, aber anhand der Atemzüge konnte er die Position seines Gegners bestimmen.

Bevor dieser auf dumme Ideen kommen konnte und seine Waffe benutzte, trat Chris zu.

Wenn Licht wäre, dann würde es zwar nicht so elegant aussehen wie in Matrix, trotz des langen Mantels. Aber es war effektiv. Jedenfalls hörte Chris einen Schmerzensschrei seines Gegners.

Viel zu laut. Verdammt! Gut, dass die Bodyguards weg sind...

Mit zwei Schritten näherte sich Chris der Position seines Gegners und rannte in den vor Schmerzen gekrümmten Körper hinein und stieß instinktiv sein Knie nach oben. Damit landete er einen Volltreffer auf das Kinn des anderen und schickte ihn in das Reich der Träume.

Mit einem, in Chris' Ohren viel zu lauten Rumsen, fiel der Körper zu Boden. Doch bevor er sich um ihn kümmerte, musste Chris Engin über den Ausgang des Kampfes informieren. Schließlich konnte sein Partner nur die Geräusche hören, aber nicht erkennen, wer der Sieger war.

"Engin, es ist alles in Ordnung. Ich kümmere mich noch kurz um ihn und dann geht's weiter."

Auch wenn Chris nur flüsterte, er empfand es als viel zu laut.

"Alles klar."

Chris beugte sich über seinen Gegner und tastete ihn ab. Auf dem Boden lag ein Revolver und mehrere Messer hatte der andere am Körper befestigt. Chris nahm die Waffen an sich. Doch er wollte noch wissen, wen er da niedergeschlagen hatte. Er durchwühlte seine Tasche und holte seine Taschenlampe heraus. Chris wagte es, für eine Sekunde das Licht anzumachen und das Gesicht zu beleuchten.

Ein leises Pfeifen entwich seinen Lippen.

"Wow, da hab' ich ja einen dicken Fisch erledigt. Engin, wir haben Sergeij Gesse."

"Tja, die Gorillas sind weg, Gesse ist ausgeschaltet, dann dürften wir es nur noch mit Bechthold zu tun haben."

"Den wir allerdings nicht unterschätzen sollten, er ist wesentlich gefährlicher, als du es dir auch nur vorstellen kannst."

"Du musst es ja wissen. Und wirst es mir heute Abend auch sagen."

Engin war neben Chris getreten und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt. Doch er war noch nicht fertig.

"Was machen wir jetzt mit ihm?"

Da wusste auch Chris im ersten Moment nicht weiter.

"Hast du was, um ihn zu fesseln?"

"Ich habe keine Handschellen mit. Du etwa?"

Darauf schüttelte Chris den Kopf, da Engin dies aber nicht sehen konnte, flüsterte er.

"Nein, da hab ich auch nicht dran gedacht. Wir sind üble Schreibtischtäter geworden. Lassen die Dinger einfach in der Schublade liegen. Ich fessle ihn mit seinem Gürtel und dann lassen wir ihn liegen. Das ist besser als nichts. Wenn er aufwacht, wird er noch lange nicht einsatzfähig sein."

Währenddessen hatte Chris Gesse gefesselt. Anschließend stand er auf und ging los. Gefolgt von Engin.

Sie trennten sich nicht, um die Räume abzusuchen, sondern blieben zusammen. Den Körperkontakt hielten sie aber nicht mehr aufrecht, da sich ihre Augen inzwischen soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie Schatten erkennen konnten.

Sich gegenseitig Deckung gebend arbeiteten sie sich systematisch durch den Keller, das Erdgeschoss und den ersten Stock. Doch nirgendwo fanden sie eine Spur von Bechthold oder Bernhard. Während sie den zweiten Stock durchsuchten, hörte Chris weiter oben Geräusche, die er nicht näher identifizieren konnte.

Auch Engin hatte mitbekommen, dass sich weiter oben etwas tat. Er war eigentlich dabei gewesen, einen weiteren Raum – das mittlerweile dritte Badezimmer – zu durchsuchen. Kommentarlos brach er ab und ging zum Treppenhaus. Chris folgte ihm.

Da sie keine Worte brauchten, um sich zu verständigen, war alles einfacher. Ohne Engin wäre es für Chris wesentlich langwieriger und gefährlicher gewesen.

Und so hatte Chris noch Hoffnungen, dass sie Bernhard rausholen konnten, bevor die Bodyguards mit der Pizza zurückkamen.

Falls Bechthold sie nicht zurückgepfiffen hat, aber ich habe keine Stimme gehört. Verdammt, das Gebäude ist zu groß, um alles mitzubekommen.

Bechthold musste sich wirklich sehr sicher fühlen, dass er seine Leibwache weggeschickt hatte.

Ob er's jetzt bereut? Schließlich ist aus dem Jäger ein Gejagter geworden.

Auch den dritten Stock durchsuchten sie, ohne fündig zu werden. Jetzt blieb nur noch der Speicher übrig.

Das schlimmste war, dass es zwei Aufgänge gab. Einer ganz regulär über das Treppenhaus und ein zweiter über eine Klappe.

Ziemlich unbequem, aber besser als kein Hinterausgang.

Und langsam fragte sich Chris, wann die Bodyguards zurückkommen würden. Denn dann würden sie zwischen zwei Fronten stehen.

Verdammt, ich muss jetzt entscheiden und darf nicht länger warten.

Mit einer Geste gab Chris Engin zu verstehen, dass dieser unter der Klappe warten sollte, ob etwas passierte. Er mußte Engins Gesichtsausdruck nicht sehen, um zu wissen, was in ihm vorging.

Denn dieser war wahrscheinlich sehr gefrustet, dass Chris ihn durch diese Entscheidung aus der Schusslinie brachte. Aber es ging nicht anders. Dies sah auch Engin ein und er ging kommentarlos in den Raum, wo der Aufgang war.

Chris zog seine Schuhe aus und stellte sie zur Seite. Dann machte er sich daran, mit gezogener und schussbereiter Waffe und in geduckter Haltung die Treppe zu erklimmen. In dieser Situation war er mehr oder weniger auf dem Präsentierteller und Bechthold musste eigentlich mitbekommen, wenn er den Speicher betrat. Als Chris die letzte Stufe hinter sich hatte, glitt er zur Seite in einen noch tieferen Schatten und wartete erst einmal ab.

Doch es blieb alles ruhig. Keine Waffe, die auf ihn abgefeuert wurde, keine Faust, die seine Nase brach. Nichts.

Nur schien sich ein Schatten zu bewegen und dann war die Sicht auf eine Lichtquelle frei.

Es war eine Kerze, die auf einem Fenstersims stand und ein spärliches Licht abgab. Direkt neben der Kerze stand ein Stuhl und auf diesem saß Bernhard. Er war gefesselt, hielt aber den Kopf aufrecht.

Gut, du bist also bei Bewusstsein. Jetzt muss ich nur noch Bechthold finden.

Auf der einen Seite war Chris froh, dass der Buzz nicht auch noch die Richtung angab, wo man sich gerade befand, aber für einen kleinen Fingerzeig, wo Bechthold jetzt war, wäre er dankbar gewesen.

"Sie sind schneller hier, als ich gedacht habe. Gratuliere. Ich habe Sie unterschätzt. Aber das wird es um so interessanter machen."

Danke, so einen Tipp wollte ich nicht.

Aber Chris konnte anhand der Stimme abschätzen, wo Bechthold jetzt war, aber es reichte nicht für einen gezielten Schuss.

"Wer sagt denn, dass ich etwas von Ihnen will? Es geht hier nur um den Jungen. Um nichts anderes."

Wieder dieses leise Lachen, das Chris' Nackenhaare zum Aufstellen brachte.

"Da haben Sie etwas falsch verstanden. Bernhard ist unwichtig. Er ist nur ein Mittel zum Zweck."

"Dann haben wir unterschiedliche Einstellungen. Geben Sie mir den Jungen und ich lass Sie laufen. Ansonsten…"

Um Bechthold keinen weiteren Angriffspunkt zu bieten, wechselte er die Stellung. Chris konnte es nicht riskieren, von Bechthold überrascht zu werden.

"Ansonsten bekomme ich genau das, was ich will, Chris. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Sie Chris nenne. Sie können Georg zu mir sagen."

"Und was wollen Sie?"

Chris ging auf das Angebot nicht ein. Bechthold wollte ihn nur reizen und ihn zu einer unüberlegten Handlung bringen.

Aber nicht mit mir.

"Ich will Ihren Kopf. Schließlich kann es nur Einen geben."

"Können Sie mir verraten, was Sie mir mit diesem Schwachsinn sagen wollen? Ich weiß es nämlich nicht."

"Das brauchen Sie auch gar nicht. Wichtig ist, dass Sie vor mir stehen."

Nach diesen Worten trat Bechthold vor. Im Lichtschein der einzelnen Kerze konnte Chris nicht viel erkennen. Nur dass er in seiner rechten Hand ein Schwert hielt, das das Kerzenlicht reflektierte.

Es war definitiv zu viel Schatten, um auf Bechthold zu schießen. Im Kerzenlicht entstand nur einen verwackeltes Abbild, das Chris kein ausreichendes Ziel bot. Um ihn auszuschalten, musste der erste Schuss Bechthold sofort außer Gefecht setzen, sonst würde Bernhard darunter leiden.

"Klar, ich spaziere jetzt ins Licht und dann knallen Sie mich ab. Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?"

"Wenn Sie es nicht machen, dann stirbt der Junge. Aber nicht schnell und schmerzlos. Was halten Sie davon, wenn ich ihm zuerst ein Ohr abschlage? Oder vielleicht sollte ich warten, bis Boris und Ilja zurück sind. Die würden sich freuen, wenn ich ihnen erlauben würde, mit Bernhard etwas Spaß zu haben. Wie der Junge Ihnen bestätigen wird, habe ich die beiden eben sehr zurück halten müssen."

Wie zur Bestätigung seiner Worte ging Bechthold zu dem Jungen, packte seine Haare und riss den Kopf brutal nach hinten. Das unterdrückte Wimmern ging Chris durch Mark und Bein. Das war genau die Situation vor der Amanda und Adam immer gewarnt hatten. Wenn sich Chris darauf einlassen würde, dann wären sie beide verloren.

Doch Bechthold schien zu ahnen, dass Chris nicht mitspielen wollte.

"Chris, Sie sollten erst gar nicht auf irgendwelche dumme Gedanken kommen. Egal, wie gut Sie auch schießen, Sie werden nicht verhindern können, dass ich Bernhard töte."

"Klar, stattdessen töten Sie erst mich und dann den Jungen. So wichtig ist mir Bernhard nun auch nicht, dass ich mich für ihn opfere."

"Sicher. Deshalb sind Sie jetzt auch hier. Es war bestimmt völlig ungefährlich, Gesse fertig zu machen. Und dann soll ich Ihnen das glauben. Treten Sie zwei Schritte vor und legen Sie Ihre Waffen ab. Sofort."

Um seine Drohung zu unterstützen, schoss Bechthold auf Bernhard. Die Kugel streifte dessen linke Schulter und der Junge schrie auf.

Wieso nur? Ich will das nicht.

Wenn er Bernhard irgendwie helfen wollte, dann musste Chris Zeit schinden und hoffen, dass Engin durch den Schuss aufgeschreckt worden war und sich entschlossen hatte einzugreifen.

Falls er nicht gerade mit den Bodyguards beschäftigt ist. Aber das hätte ich hören müssen.

Die Waffe, die Chris in seiner Hand hielt, fiel mit einem lauten Poltern auf den Boden.

"Sind das alle Waffen? Und jetzt treten Sie bitte auch noch zwei Schritte vor."

"Wieso sind Sie so hinter mir her, dass Sie zu solchen Methoden greifen? Ich versteh das nicht."

Es kam jetzt nur darauf an, dass Bechthold abgelenkt wurde. Vielleicht hatte Chris dann noch eine Möglichkeit anzugreifen. Auch wenn seine Tarnung dabei aufflog.

"Sie haben nicht zufällig eine Leiche im Keller, deren Rächer ich sein könnte?"

"Glaub ich kaum. Ich bemühe mich immer, keine Leichen zu hinterlassen."

Schon wieder füllte Bechtholds Lachen den Raum. Doch Chris hörte noch ein anderes Geräusch, als ob eine Klappe geöffnet würde.

Engin! Endlich!

"Was machen Sie eigentlich, Chris? Ich habe mich umgehört, aber nichts herausbekommen. Sie scheinen ein Phantom zu sein. Es war schon harte Arbeit, von Bernhard wenigstens Ihren Vornamen zu erfahren. Und jetzt treten Sie vor und legen auch Ihre restlichen Waffen ab."

Bechtholds Stimme übertönte die Geräusche. Aber Chris war sich jetzt sicher, dass Engin in der geöffneten Klappe hinter Bechthold stand und auf seinen Einsatz wartete. Denn er konnte dessen Schatten ausmachen und die Geste, die Engin da gerade zeigte, war so typisch für ihn.

"Ich bin gut, so gut, dass nur meine Kunden mich kennen."

Oh Gott, aus welchem billigen Krimi hab ich denn den Spruch?

Doch Bechthold schien das nicht aufzufallen. Er machte nur eine ungeduldige Handbewegung.

Chris verstand, was er wollte, und entledigte sich seiner Messer. Schön langsam und mit soviel Krach, wie nur möglich.

"Das war's, mehr hab ich nicht."

"Ganz ehrlich. Ich glaube es Ihnen nicht. Stellen Sie sich hinter Bernhards Stuhl. Mit gespreizten Beinen."

Ohne Engin, der auf eine passende Gelegenheit wartete, wäre Chris bestimmt nicht nach vorne gegangen. Denn so wie er sich präsentierte, würde es für Bechthold die ideale Gelegenheit sein, sich ohne Kampf seinen Kopf zu holen.

Doch Chris ging nur langsam und zögernd aus den Schatten. Bechthold wich mit gezückter Waffe einen Schritt zurück, um außerhalb Chris' Reichweite zu bleiben.

Endlich stand Chris hinter dem Stuhl. Leider war es zu dunkel, um zu sehen, ob Bernhard außer der Schusswunde noch Verletzungen hatte.

"Spreizen Sie die Beine und legen Sie Ihre Hände auf die Lehne. Und keine dummen Tricks."

Langsam und vorsichtig spreizte kam Chris der Aufforderung nach.

Jetzt tausch endlich die Waffen, damit Engin eingreifen kann! Ich halt's nicht mehr lange aus und mach noch was Unüberlegtes.

Als ein Schuss durch den Raum peitschte, da zuckte Chris zusammen, aber er spürte keine Schmerzen.

Dann hörte Chris ein Gurgeln und einen schweren Körper, der zu Boden fiel. Schon als der Schuss ertönte, ließ Chris los und hechtete zu seinen Waffen, die noch auf dem Boden lagen, und schnappte sich den Revolver. Als Bechthold umkippte, ging er zu ihm und kniete sich neben ihn. Er brauchte nur einen Blick, um zu erkennen, dass Engin besser gezielt hatte, als seine üblichen Trefferquoten vermuten ließen. Bechthold war tot. Sauber ins Herz getroffen. Und in seiner rechten Hand hielt er ein Schwert.

Du mieser Bastard. Das wirst du büßen.

Chris löste das Schwert aus Bechtholds Fingern und nahm es in seine Hand. Doch bevor er dazu kam, den Kopf vom Rumpf zu schlagen, kam Engin in sein Sichtfeld und beugte sich über die Leiche.

Im Gegensatz zu Chris konnte er nicht wissen, dass dieser Tod nur vorübergehend war.

"Scheiße. Er ist tot."

Engin stand wieder auf und ging auf und ab.

Gar nicht so einfach, ein Mörder zu sein.

Chris hatte schon ausgeholt und wollte gerade dafür sorgen, dass Bechtholds Tod endgültig wurde, als er von unten ein Quietschen hörte.

Das war die Haustür. Scheiße, die Leibwache ist zurück. Wenn die mich erwischen, während ich das Quickening aufnehme, bin ich hilflos. Weder Engin noch Bernhard sind im Moment in der Lage, sich zu verteidigen.

Schweren Herzens entschloss sich Chris, Bechthold liegen zu lassen. Nur das Schwert verstaute er in seinem Mantel. Es passte in die Halterung, die Chris für seine Schwertscheide angebracht hatte. Dann nahm er ein Messer und löste Bernhards Fesseln.

Im Licht seiner Taschenlampe untersuchte Chris den Jungen. Abgesehen von dem Streifschuss an der linken Schulter schien er unverletzt zu sein.

"Kannst du laufen?"

Bernhard schien sich seiner Stimme nicht sicher zu sein, er nickte nur.

"Engin! Hilf Bernhard die Treppen runter. Wir müssen schnellstmöglich weg hier. Der Pizzaservice ist im Anmarsch."

Engin ließ von seiner Wanderung ab und fasste kommentarlos Bernhards rechten Arm, um ihn zu stützen.

So gingen sie leise die Treppe runter in den dritten Stock. Dort nahm Chris seine Schuhe wieder an sich Und zog sie an. Zu dritt warteten sie im Schatten, bis die Bodyguards an ihnen vorbei waren.

Erst als diese auf dem Speicher waren, gab Chris das Zeichen, weiterzugehen.

Und als er oben die entsetzten Stimmen hörte, da gab er jede Vorsicht und jeden Versuch, leise zu sein, auf. Wichtig war, dass sie schnell und lebendig rauskamen.

Deswegen verließen sie das Gebäude auch nicht durch eine Tür. Denn bis Chris wieder alle Schlösser geknackt hätte, wären sie tot.

Beim Durchsuchen der Küche hatte er ein Fenster gesehen, das nur durch Läden gesichert war. Das steuerte er jetzt an und öffnete es. Er half Bernhard und Engin beim Rausklettern und machte sich als letzter auf den Weg.

Chris war fast schon draußen, als er einen Stoß in der rechten Schulter spürte. Gleichzeitig zerriss der Lärm eines Schusses die Stille.

Durch die Wucht des Aufpralls wurde Chris nach vorn geworfen. Direkt in Engins Arme, der damit verhinderte, dass Chris hinfiel. Dieser löste sich sofort aus der Umarmung, ignorierte die Schmerzen in der Schulter und lief zur Ausfahrt. Engin und Bernhard vor sich her schiebend und Deckung gebend.

Doch der erwartete zweite Schuss blieb aus. Vielleicht lag es daran, dass sie unter der Trauerweide kein gutes Ziel abgaben oder dass Boris und Ilja mit ungezielten Schüssen nicht die Nachbarschaft aufschrecken wollte. Chris war es auch egal.

Hauptsache, er schaffte es, Bernhard und Engin in Sicherheit zu bringen.

Von seiner Verletzung ließ er sich nicht ablenken. Vor einem Jahr noch hätte Chris vor Schmerzen geschrieen, aber damit hätte er Aufsehen erregt und Engin abgelenkt. Er schätzte, dass die Kugel noch in der Schulter steckte.

Aber alles in allem hatte Adam hatte ihn schon viel übler zugerichtet und Chris trotzdem genötigt weiterzukämpfen. Deswegen biss Chris die Zähne zusammen und lief weiter.

Nur schien die Wunde ziemlich zu bluten. Chris hatte den Eindruck, dass die Soße nur so an ihm runterfloss.

Aber solange er es schaffte, bis zum Auto zu laufen, ohne Blutflecken zu hinterlassen...

Hoffentlich saugt mein Hemd und der Mantel alles auf. Ich habe keine Lust, meine DNA überall zu verstreuen.

Gleichzeitig behielt Chris auch noch Bernhard im Auge. Der Junge war verletzt und hatte keine Erfahrung, damit umzugehen. Aber darum konnte sich Chris erst kümmern, wenn sie in Sicherheit waren.

Zwei Minuten später waren sie am Auto. Mit dem Funkschlüssel hatte Chris die Türen geöffnet. Engin wollte sich auf den Fahrersitz setzen, aber Chris hielt ihn zurück.

"Lass das, ich fahre. Du bist dazu nervlich nicht in der Lage."

Engin fuhr herum und brüllte Chris an.

"Wen interessiert das? Ihr zwei seid verletzt, also komme nur ich in Frage. Also lass mich!"

"Damit du den Wagen in den nächstens Graben setzt? Lass gut sein, Engin. Ich mag zwar verletzt sein, aber ich komme damit klar. Setz dich zu Bernhard und verarzte ihn."

Chris ignorierte Engin und ging zum Kofferraum. Er legte Bechtholds Schwert hinein, holte den Erste-Hilfe-Kasten und zwei Plastikfolien heraus. Gleichzeitig schob er seine Handschuhe von den Fingern und schmiss sie in den Kofferraum. Entsorgen würde er sie später. Dann breitete eine Folie auf dem Rücksitz aus uns schob sowohl Engin als auch Bernhard mit sanfter Gewalt in den Wagen. Die andere Folie war für den Fahrersitz, wo sich Chris draufsetzte, dann schnallte er sich an.

Mit einem Blick in den Rückspiegel überzeugte sich Chris, dass Engin und Bernhard auch angeschnallt waren. Er startete den Wagen und fuhr los.

Um Engins Zustand machte Chris sich weniger Sorgen. Schließlich würde dieser in der Nacht alles über die Unsterblichen erfahren und konnte damit sein Gewissen beruhigen.

Die Frage war nur, was Chris mit Bernhard machen sollte. Nach Hause konnte er nicht mehr. Bechthold würde sich fürchterlich rächen. Ins Zeugenschutzprogramm konnte er ihn auch schlecht nehmen, da niemand erfahren durfte, wie er Bernhard aus Bechtholds Klauen befreit hatte. Und außerdem hatte der Junge gesehen, wie Bechthold starb. Er war keinen Meter entfernt gewesen. Ihm einen plausiblen Grund für dessen Wiederauferstehung zu geben, war fast unmöglich.

Was soll ich bloß mit ihm machen? In Deutschland ist er nicht mehr sicher. Aber vielleicht kann Joe ihn ja brauchen.

Es war schon eine verrückte Idee, aber Chris konnte sich Bernhard gut als Beobachter vorstellen. Und da Joe ihm von dem Nachwuchsmangel erzählt hatte, war das vielleicht die beste Lösung für alle.

War Chris bisher ziellos durch die Gegend gefahren, so ordnete er sich jetzt Richtung Hauptbahnhof ein. Er bezweifelte, dass Bernhard einen Ausweis hatte, um die Kontrollen auf dem Frankfurter Flughafen zu bestehen.

Und außerdem findet Bechthold diese Spur. Das ist zu gefährlich.

"Bernhard?"

Der Junge hatte seine Jacke und Pullover abgelegt und ließ sich von Engin einen Verband anlegen.

"Hast du schon irgendwelche Pläne für die Zukunft?"

"Keine Ahnung, ich schätze, meine Lehre kann ich vergessen. Da findet man mich sofort. Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt tun soll."

"Ich habe eine Idee, die nichts mit dem Zeugenschutzprogramm zu tun hat. Ich habe in Paris einen Freund, der eine gut gehende Kneipe führt und mir noch einen Gefallen schuldet. Wenn ich ihn fragen würde, dann kümmert er sich um dich und vermittelt dich an Freunde weiter, so dass Bechthold dich garantiert nicht findet."

"Mein Onkel ist tot. Engin hat ihn doch eben erschossen."

Auch wenn Chris es nicht sehen konnte, er wusste trotzdem, dass Engin bei diesem Kommentar zusammengezuckt war.

Ein humorloses Grinsen erschien auf Chris' Gesicht.

"Schön wär's. Aber ich glaub's nicht. Aber Joe wird eine gute Wahl sein. Ich denke, dass er dir einen Job anbieten wird, bei dem du nicht Nein sagen kannst."

"Ich kann es nicht glauben, er muss tot sein."

Doch Bernhards Stimme zitterte.

"Selbst wenn du recht hast, die Bodyguards und Gesse wissen, dass du darin verwickelt bist und werden dich deswegen jagen."

Diesem Argument hatte Bernhard nichts entgegen zu setzen. Mit leiser Stimme akzeptierte er kurz darauf Chris' Vorschlag.

"Gut, ich mach' es. Und wie geht es jetzt weiter?"

"Wir fahren zum Hauptbahnhof und setzen dich in den nächsten Zug nach Paris. Dort wird sich Joe Dawson um dich kümmern und alles weitere veranlassen."

"Und wann sehen wir uns wieder?"

"Ich weiß es nicht. Wichtiger ist, dass wir überleben."

Langsam wurde Chris mulmig zumute, nicht nur, dass er sich auf den Verkehr konzentrieren musste und das Kribbeln in seiner Schulter anzeigte, dass der Heilungsprozess begonnen hatte, nein, jetzt steuerte alles auf eine tränenreiche Abschiedsszene zu. Und so was konnte er gar nicht ab.

"Engin, unter dem Beifahrersitz liegt ein Laptop. Hol's bitte raus und leg's auf den Sitz. Ich muss mir die Nummer von Joe raussuchen."

"Seit wann hast du denn ein Laptop? Du behauptest doch immer, dass du ein DAU bist."

Währenddessen beugte Engin sich vor und holte das Teil hervor. Ein anerkennendes Pfeifen kam aus seinen Mund, als er es aus seiner Schutzhülle nahm und feststellte, dass es sich um das neueste I-Book von Apple handelte.

Chris hatte Engins Reaktion im Rückspiegel beobachten können, da er an einer roten Ampel stand.

"Engin, du bist nicht meine Mutter und brauchst auch nicht alles zu wissen. Jetzt mach die Kiste an. Unter den Verzeichnissen findest du auch ein Telefonbuch. Das klickst du an. Und dann legst du es auf den Beifahrersitz, damit ich das Passwort eingeben kann."

"Ich kann auch das Passwort eingeben."

"Damit du mein Telefonbuch durcharbeiten kannst? Und es später gegen mich verwendest? Dafür bist du zu neugierig. Und selbst wenn ich das Passwort ändere, bezweifle ich dass du Ruhe gibt's, bevor du dich durchs nicht System gehackt hast. Vergiss es. Das Teil gebe ich dir nur, wenn ich dir gleichzeitig auf die Finger schauen kann."

Dass ihm Engin umgehend das Laptop auf den Beifahrersitz knallte, sah Chris als Bestätigung seiner Worte, wollte diese aber doch abmildern.

"Glaubst du nicht, dass du heute Nacht von mir mehr erfahren wirst, als dir lieb ist?"

"Darum geht es nicht. Warum glaubst du, dass ich mich durch deine Daten hacken würde? Vertraust du mir nicht?"

Inzwischen war die Ampel wieder auf Grün gesprungen, aber nicht lang genug, um auch Chris über die Kreuzung zu lassen.

"Doch, aber ich würde in deiner Situation auch versuchen, das Laptop zu hacken. Ich verstehe dich nur zu gut. Das einzige, was ich nicht verstehe, ist die Geduld, die du mir gegenüber aufbringst. Aber jetzt sollte ich erst mal Joe anrufen, sonst sitzt Bernhard im Zug und ich habe ihn noch nicht erreicht."

Das Telefonat mit Joe war schnell erledigt. Dieser verstand Chris' Andeutungen und erklärte sich bereit, Bernhard aufzunehmen.

Kurz darauf waren sie am Bahnhof. Natürlich war mal wieder kein Parkplatz frei. Deswegen hielt Chris in der zweiten Reihe.

Als Bernhard aussteigen wollte, hielt Chris ihn zurück.

"Ich glaube kaum, dass du in dem Aufzug in die Bahn steigen kannst. So ein Schussloch und dann noch das getrocknete Blut, da wird jeder Kontrolleur einen Panikanfall bekommen und die Bullen rufen."

Bernhard zuckte mit den Schultern.

"Und was soll ich sonst anziehen? Mein Pullover sieht eher noch schlimmer aus."

"Engin, könntest du bitte vorgehen? Im Bahnhof gibt es doch bestimmt einen fliegenden Händler, bei dem du für Bernhard was Passendes kaufen kannst. Gleichzeitig erkundigst du dich auch schon mal nach der nächsten Verbindung."

Am liebsten hätte Chris Engin gar nicht erst losgeschickt. Sein Partner hatte inzwischen einen Gesichtsausdruck, der ihm gar nicht gefiel. Chris tippte, dass es weniger um ihre kleine Auseinandersetzung wegen des Laptops ging, sondern dass sich Engin Vorwürfe machte, Bechthold getötet zu haben. Und dass er kurz davor stand, deswegen durchzudrehen. Aber bevor Chris sich um Engin kümmern konnte, musste er Bernhard in Sicherheit bringen und dazu brauchte er die Hilfe seines Partners.

Im Rückspiegel sah Chris, dass Engin nickte. Alles, was Chris im Moment für ihn tun konnte, war sich zu Engin zu drehen, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, als dieser aussteigen wollte und ihm aufmunternd zuzunicken.

Doch Engin schüttelte kommentarlos die Hand ab und stieg aus.

Bitte lass Engin nicht durchdrehen. Bitte lass ihn noch die nächste halbe Stunde durchstehen.

Als Bernhard ihn ansprechen wollte, wehrte er es mit einem unwilligen Knurren ab.

Es war Chris egal, was der Junge in diesem Moment empfand. Er musste erst einmal das heutige Erlebnis überwinden. Soweit, dass er Engin ganz ruhig und gelassen gegenübertreten und ihm alles über seine und Bechtholds Unsterblichkeit erzählen konnte.

Er schloss die Augen und versuchte, sich auf sich selbst zu besinnen. Was aber mehr oder weniger unmöglich war. Es war weniger seine Schulterverletzung, die war inzwischen verheilt , teilweise war es der Straßenlärm und die ganzen Lichtreflexe, die seine Konzentration beeinträchtigten. Endlich hatte Chris es geschafft, doch lautes Hupen hinter ihm holte ihn fast sofort wieder aus der Meditation. Als er in den Rückspiegel blickte, war er fast schon wieder auf hundertachtzig. Obwohl die linke Spur frei war, wollte ein Taxifahrer, dass er den Weg freimachte.

Da war er aber bei Chris an der falschen Adresse.

Komm nur her, mein Junge. Wenn du Ärger willst, dann kannst du ihn haben.

Doch dann realisierte Chris, dass es taktisch unklug war, wenn ihn irgendjemand mit diesen vollgebluteten Klamotten sehen würde. Jeder, der ihn und Bernhard jetzt sehen würde, würde schnellstmöglich die Polizei alarmieren.

Seufzend startete Chris den Motor und fuhr weg. Er drehte eine Ehrenrunde und stand kurz darauf wieder an derselben Stelle.

Natürlich war Engin in der Zwischenzeit zurückgekommen und seine eben schon düstere Miene hatte sich weiter verfinstert und zeigte alle Anzeichen eines bevorstehenden Orkans.

Chris kannte die Vorzeichen zu gut und wollte verhindern, dass Bernhard im Genuss eines solchen kam.

Kaum hatte Engin die Beifahrertür geöffnet, als sich Chris auch schon entschuldigte.

"Tut mir leid, aber ich musste kurz weg, bevor ein Taxifahrer die Welle machte. Ich konnte es einfach nicht zulassen, dass er einen näheren Blick in meinen Wagen warf. Alles in Ordnung mit dir?"

"Nicht wirklich. Aber für Bernhard habe ich alles erledigt."

Engin wehrte jeden weiteren Beschwichtigungsversuch von Chris mit einem Kopfschütteln ab, reichte eine Plastiktüte und einen Umschlag nach hinten.

"Die Jacke sieht zwar nicht wirklich gut aus, aber sie soll dich nur wärmen. Und im Umschlag ist dein Ticket. Du musst dich beeilen, denn der Zug fährt in zehn Minuten ab Gleis acht. "

Dann bleibt mir die Abschiedsszene erspart.

Trotz der Verletzung tauschte Bernhard recht schnell die beiden Jacken aus.

"Danke, wie soll ich das wiedergutmachen?"

Bernhard hatte offensichtlich andere Pläne, was seinen Abgang betraf. Entsprechend bissig reagierte Chris.

"Indem du ehrlich bleibst und nicht auf die schiefe Bahn gerätst. Am besten hörst du in der ersten Zeit auf das, was Joe dir sagt. Und ansonsten, indem du mir einen tränenreichen Abschied ersparst. Ich steh nun mal nicht auf so was."

Dass selbst dieser Kommentar Engins Miene nicht aufheiterte, war für Chris ein sehr schlechtes Zeichen. Aber dann fiel ihm noch was ein.

Chris kramte kurz in seinem Mantel, holte seine Brieftasche hervor und suchte einen fünfzig Euro Schein raus. Den reichte er Bernhard rüber.

"Du bist noch einige Stunden unterwegs. Da wirst du bestimmt Hunger bekommen. Und versuch' erst gar nicht, das abzulehnen."

Bernhard hatte schon abwehrend seine Hände gehoben, ließ sie aber nach Chris' Kommentar wieder sinken.

"Du musst jetzt los, sonst verpasst du noch deinen Zug."

Endlich hatte der Junge begriffen, dass Chris wirklich einen schnellen Abschied wollte. Er legte Engin und Chris hintereinander kurz eine Hand auf die Schulter.

"Danke, aber das wollt ihr ja nicht hören. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder."

Genauso schnell nahm er seine Hand wieder weg, öffnete die Tür, stieg aus, schloss die Tür und war innerhalb weniger Sekunden in der Menschenmenge untergetaucht.

Nachdem Chris den Jungen aus den Augen verloren hatte, wendete er sich zu Engin. Dieser hatte Bernhard nicht hinterhergestarrt, sondern blickte nach vorn.

Aber Chris bezweifelte, dass Engin irgendetwas wahrnahm.

Schock, eindeutig. Ihm wird jetzt erst bewusst, worauf er sich eingelassen hat und was er getan hat.

Im Moment konnte Chris ihm nicht helfen. Es gab nichts, womit er seinen Partner ablenken konnte, damit dieser aufhörte zu grübeln. Er konnte nur versuchen, Engin so schnell wie möglich in seine Wohnung zu bekommen. Dann würde er weiter sehen.