: Ein Geheimnis wird gelüftet

Wie konnte es anders sein, kaum war Chris auf der A648, da stand er auch schon im Stau.

Seine Flüche waren nicht jugendfrei und leise war er auch nicht. Doch Engin reagierte nicht darauf. Chris knipste die Innenbeleuchtung an, um seinen Partner zu beobachten. Er saß auf seinem Sitz, starrte nach vorne und kaute abwesend auf seiner Unterlippe. Chris machte das Licht aus und drehte die Musik lauter, jetzt konnte er nur hoffen, dass der Spuk so schnell wie möglich vorbei war.

Zwanzig Minuten später hatte er zwei Kilometer zurückgelegt und fuhr an zwei ineinander verkeilten PKW vorbei.

Und während der ganzen Zeit hatte Engin kein Wort gesprochen, nur vor sich hin gestarrt und als Chris ihn vorsichtig berührt hatte, hatte er dies noch nicht mal wirklich wahrgenommen.

Kurz darauf waren sie an der Abfahrt Eschborn und drei Ampeln später kamen sie bei Chris an. Der Parkplatz direkt vor der Haustür war wie immer frei und Chris war erleichtert, als er endlich den Motor abstellen konnte. Jetzt mussten sie nur noch ungesehen in seine Wohnung kommen. Das durfte aber kein Problem sein, denn seine Nachbarn neigten dazu, immer wegzuschauen.

Chris stieg aus, zog seinen Staubmantel aus und nahm alles war er noch brauchte aus dessen Taschen. Zusammen mit den Plastikfolien entsorgte er den Mantel im Müllcontainer, der nur wenige Meter entfernt stand. Wenn es hell war, würde er kontrollieren, ob Blutspuren im Auto waren.

Engin blieb während dieser Aktion regungslos sitzen. Chris ging zur Beifahrertür und öffnete sie. Er packte Engin am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt hinaus.

Das schien Engins Lebensgeister zu wecken. Er starrte nicht mehr verständnislos durch Chris, sondern blickte ihn an.

"Alles klar, Mann? Schaffst du es noch bis nach oben?"

"Wo sind wir? Und was ist passiert?"

"Du hast dir eine kleine Auszeit genommen und wir stehen vor meiner Haustür. Woran kannst du dich noch erinnern?"

Chris hoffte nur, dass Engin sich an die letzten Stunden erinnern konnte, wenn er das nicht konnte, dann hatte er ein größeres Problem.

"Wir waren am Bahnhof und haben Bernhard abgesetzt. Und vorher, vorher hatten wir eine kleine illegale Auseinandersetzung mit Bechthold, dabei…"

Engin brach ab, schüttelte den Kopf und ging zur Haustür.

Schwein gehabt.

Erst als Chris die Luft langsam wieder ausatmete, merkte er, dass er sie kurz zuvor angehalten hatte.

"Dann fehlt dir ja nur die Heimfahrt und da hast du nicht viel verpasst. Jetzt komm erst mal hoch, dann reden wir weiter. Mir ist kalt."

Engin nickte nur und folgte Chris nach oben.

Sie schafften es, von den Nachbarn unbeobachtet Chris' Wohnung zu erreichen. Als Chris die Tür hinter Engin abgeschlossen und das Flurlicht angemacht hatte, hatte er das Gefühl, dass ihm ein Stein vom Herzen gefallen war.

"Oh mein Gott!"

Engins Ausruf wirkte fast schon panisch. Chris hob seinen rechten Arm, um Engin zu berühren, aber dieser wich zurück.

"Ruhig Engin, alles ist gut. Was ist los?"

Dieser zeigte mit den Fingern auf Chris und setzte zum Reden an. Stockte und schaffte es dann doch noch, die Wörter rauszupressen.

"Deine Schulter. Du hast soviel Blut verloren. Du musst zum Arzt."

Uups, ich glaub, da hab ich was vergessen.

Chris schob seinen Partner zur Seite und ging ins Bad, um in den Spiegel zu schauen. Engin hatte recht. Wenn er nicht unsterblich wäre, dann hätte ihn der Blutverlust gewaltig geschwächt. Die rechte Seite seines Hemdes war voll mit getrocknetem Blut. Auch am Hals konnte Chris einige Flecken sehen.

"Das sieht schlimmer aus, als es wirklich ist, Engin. Ich gehe kurz unter die Dusche und dann kannst du es verarzten. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen."

"Und was ist, wenn du mir umkippst? Und die Verletzung muss desinfiziert werden. Du kannst nicht duschen!"

"Engin, ich hab schon Schlimmeres überstanden. Jetzt komm mit in die Küche. Während ich dusche, schüttest du uns einen Kaffee auf und danach werde ich dir einiges erklären müssen. Und jetzt brich nicht in Panik aus. Das kriegen wir schon geregelt."

Die Küche war gleichzeitig auch der wohnlichste Raum, da Chris mittlerweile einen Tisch und zwei Barhocker gekauft hatte. Er zeigte Engin kurz, wo er was finden konnte, nahm sich noch einen Energy-Drink und ging, nachdem er zur Beruhigung von Engins Nerven noch eine Oldie-CD eingeworfen hatte, ins Bad.

Chris beeilte sich mit dem Duschen. Das Blut ließ sich auch problemlos abwaschen. Als er anschließend den beschlagenen Spiegel abputzte, da fühlte er in der Schulter weder Schmerzen, noch waren anschließend irgendwelche Verletzungen oder Narben zu sehen.

Und wenn ich mir in den nächsten Tagen die Kugel rausgepult habe, dann sieht man auch auf'm Röntgenbild nichts mehr.

Im Schlafzimmer zog er sich eine frische Jeans an und ging mit nacktem Oberkörper in die Küche.

Der Kaffee war schon durch und Engin hatte sich wohl zur Ablenkung das Computerbuch gegriffen, das Chris am morgen auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Aber Chris hatte den Eindruck, dass sein Partner lediglich auf eine Seite starrte, ohne wirklich zu lesen. Engin blickte hoch, als Chris in der Tür erschien, schaute hinab auf das Buch und blickte Chris wieder an. Mit einem sehr ungläubigen Blick.

"Was geht hier ab? Ich will wissen, was los ist. Du müsstest eine ziemlich üble Schulterwunde haben. Willst du mich verarschen?"

Dabei war Engin aufgesprungen und berührte Chris' Schulter.

"Nein, ich verarsche dich nicht. Aber hinter dir in der Schublade ist ein Küchenmesser. Kannst du mir das bitte geben?"

Engin war wohl zu sehr aus seinem Konzept gebracht, denn er suchte Chris ein Messer raus, ohne Fragen zu stellen. Währenddessen hatte sich Chris eine Küchenrolle genommen und sie auf den Tisch gelegt. Das Messer nahm er an sich.

"Danke. Und jetzt schau dir ganz genau meine linke Hand an. Ich werd's nur einmal machen. 'kay?"

"Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber schlimmer kann es nicht mehr kommen. Ja, ich schau zu."

Bevor Engin irgendetwas unternehmen konnte, zog Chris das Messer mit voller Kraft durch seinen linken Handballen. Dass das Blut nicht herausspritzte, war alles.

Auch wenn Chris inzwischen sehr viel Erfahrung mit Verletzungen jeglicher Art gemacht und eben erst den Treffer in der Schulter verarbeitet hatte... Es tat weh und er musste einen Aufschrei unterdrücken.

"Chris! Verdammt! Was soll das?"

"Halt die Klappe und schau hin. Dann wirst du's kapieren."

Die Worte konnte Chris nur rauspressen. Mit seiner Rechten hielt er die verletzte Hand direkt über die Küchenrolle, damit sie das Blut aufsaugte. Schließlich sollte das nicht in einer Putzaktion enden. Er ärgerte sich, keine Schüssel genommen zu haben.

Engin brauchte zum Hinschauen keine Aufforderung. Chris hatte den Eindruck, dass die Verletzung eine morbide Faszination auf ihn auswirkte. Und als die erste kleine blaue Energiezunge den einsetzenden Heilungsprozess zeigte, keuchte Engin entsetzt auf. Zwei Minuten später war die Wunde verheilt und das Spektakel vorbei.

Chris sah direkt in Engins Augen. Diese waren ungläubig geweitet und starrten immer noch auf Chris' Hand.

"Was soll das? Was für eine Show ziehst du jetzt ab?"

"Das, was du gerade gesehen hast, ist keine Show. Meine Verletzungen heilen so schnell. Egal, wo's mich erwischt."

Engin packte Chris' Hand und untersuchte sie, konnte aber außer dem Blut weder eine Verletzung, noch irgendeinen Trick entdecken. Er ließ die Hand los und Chris konnte seinen misstrauischen Blick fast schon spüren. Dann antwortete Engin.

"Klar, ich jag' dir 'ne Kugel ins Herz und zwanzig Minuten später stehst du quicklebendig wieder auf."

"Dafür brauch' ich zwei Stunden."

"Bitte?"

Mit dieser Information hatte Engin garantiert nicht gerechnet. Aber was sollte Chris anderes sagen? Schließlich wollte sein Partner die Wahrheit wissen.

"Wenn du willst, kannst du nach unten gehen, dir deine Dienstwaffe holen und mich damit töten. Wenn du anschließend etwas über zwei Stunden wartest, dann wirst du mir beim Aufwachen zusehen können. Aber das ist mit Schmerzen verbunden, die ich eigentlich vermeiden will."

Währenddessen holte Chris aus dem Eisfach eine Flasche hochprozentigen Rums und kippte einen guten Schuss in Engins Kaffee.

"Trink das. Ist zwar nicht so gut wie'n richtiger Grog, aber du brauchst das jetzt."

"Nein, ich will wissen, was für ein Spielchen du mit mir treibst. Das kann doch einfach nicht wahr sein!"

Und gleich ruft er die Jungs mit der Zwangsjacke.

Doch Engin tat nichts dergleichen. Er stand auf und lief unruhig auf und ab.

"Das ist einfach zu viel. Erst töte ich einen Menschen und jetzt erzählst du mir, dass du nicht sterben kannst. Verdammt noch mal! Bin ich jetzt reif für die Klapsmühle?"

"Nein, das bist du nicht. Was meinst du, wie ich mich fühlte, als ich vor zwei Jahren in San Francisco in einer Leichenhalle aufgewacht bin."

Engin stoppte seine Wanderung und blickte Chris entgeistert an. Dieser erwiderte den Blick.

"Du bist was?"

"Auf der Jagd nach einem Taschendieb niedergestochen worden und gestorben. Amanda hat mich aus der Leichenhalle geholt und mir empfohlen, alle Brücken abzubrechen, doch ich wollte wieder zurück zu Eddie und war nicht bereit, ihn aufzugeben. Hätte ich damals auf sie gehört, dann säße ich jetzt nicht vor diesem Scherbenhaufen."

Bei der Erwähnung von Amanda hatte Engin den Kopf geschüttelt und seine Wanderung wieder aufgenommen.

"Und was soll mir das jetzt sagen?"

"Engin", Chris hatte es satt, seinen Partner bei seiner Wanderung zu beobachten. Er stand auf und nahm Engin in seine Arme und schaute ihm tief in die Augen.

Irgendwie muss er doch begreifen, dass ich es ernst meine. Ich muss ihn überzeugen.

Chris vermutete, dass Engin einfach nicht aufnahmefähig war, weil in seinem Gehirn wahrscheinlich immer wieder die Szene ablief, in der er den tödlichen Schuss abgegeben hatte. Und bevor Engin nicht von dieser Last befreit war, konnte er auch alles andere nicht akzeptieren.

"Du hast heute keinen Mord begangen. Bechthold ist auch ein Unsterblicher. Genauso wie Amanda und ich. Du hast ihn nur recht schmerzhaft außer Gefecht gesetzt. Und auch das nur für ein paar Stunden."

"Ach, ja?"

Engins Miene war nicht mehr ganz so abwehrend, sie war eher zweifelnd. Chris ließ ihn nicht los und redete weiter.

"Warte nur ab. Ich wette mit dir, dass ich irgendwann in der Nacht einen Anruf von Carola bekomme, dass Bechthold zu Hause aufgetaucht ist und dass sie ihn wieder observieren. "

"Aber die Bodyguards haben doch seine Leiche gefunden und seine Wiederauferstehung wird echt gruselig gewesen sein…"

"Stimmt, genau so wie ich dir jetzt mein Geheimnis erzählt habe, wird er auch nicht drum herum kommen, andere einzuweihen. Es kann sein, das Gesse schon vorher über sein kleines Geheimnis informiert war. Auch denke ich, dass Bechthold die beiden Bodyguards für ersetzlich hält und sie beseitigen wird."

Als Chris Engins zustimmendes Nicken sah, ließ er seinen Partner los, trat aber nicht zurück, sondern redete weiter.

"Ich bezweifle, dass er bereit ist, seine Rolle als Mafiaboss jetzt schon aufzugeben. Der giert nach Macht. Und da wir sonst einen Mord an der Backe hätten, vertraut er darauf, dass wir dicht halten."

"Woher weißt du das? Dass Bechthold unsterblich ist?"

Jetzt suchte Engin den Körperkontakt, als ob er sich an Chris festhalten wollte. Und Chris gab ihm den Halt.

"Wir können uns spüren. Wann immer ein anderer einen gewissen Sicherheitsabstand unterschreitet, dann geht in meinem Kopf eine Alarmanlage los."

"Ach, deine Migräne?"

Chris lachte kurz und humorlos auf.

"Genau die. Bechthold soll glauben, dass ich weder von der Unsterblichkeit noch von dem Spiel eine Ahnung habe."

Auf Engins ungläubigen Blick setzte er noch eine Erklärung hinzu.

"Leider ist es so, dass ein Unsterblicher einen anderen Unsterblichen töten kann. Einfach ist es nicht, aber Bechthold kann mir einen endgültigen Tod bereiten. Wenn du willst, dann erklär ich dir, wie's geht. Und solange er glaubt, dass ich in der Hinsicht absolut unerfahren bin, habe ich einige Asse im Ärmel. Ich habe dann gute Chancen, ihn zu besiegen und zu töten."

Ein bitteres Lachen begleitete Chris' Worte. Schließlich erklärte er gerade Engin, dass er Bechthold wirklich ermorden wollte.

"Ich will gar nicht wissen, wie ihr euch tötet, mir ist jetzt schon schlecht. Aber warum? Warum willst du ihn töten?"

"So ist es nun mal bei den Unsterblichen. Wie ich es dir schon gesagt habe. ‚Es kann nur Einen geben.' Wir bringen uns gegenseitig um, bis nur noch einer übrig bleibt. Und der gewinnt angeblich den Preis des Spiels. Ironischerweise kennt niemand den Preis."

Jetzt löste sich Chris von Engin, wanderte einmal durch den Raum und presste dann seine Finger in die Stuhllehne.

"Ich will diesen gottverdammten Preis nicht. Ich will noch nicht einmal unsterblich sein. Und kämpfen will ich auch nicht. Aber wenn ich überleben will, dann habe ich keine andere Wahl. Ich muss töten können, um zu leben. Wie ich das hasse. Und dabei bin ich eine Gefahr für alle, die mir wichtig sind, denn ich werde dadurch erpressbar. Du hast ja gesehen, was Bechthold mit Bernhard angestellt hat."

"Deswegen hast du dich in den letzten Monaten so abgekapselt?"

"Ja, wie soll ich weiterleben, wenn einem von euch etwas passiert?"

"Aber eins versteh ich nicht. Du sagst, dass ihr euch gegenseitig jagt. Was für eine Rolle spielt dann Amanda? Ich habe sie zwar nur einmal gesehen, aber ihr scheint doch Freunde zu sein. Sie ist doch auch unsterblich. Oder etwa nicht?"

"Doch, ist sie. Mehr noch. Sie ist meine Lehrerin. Sie hat mir alles beigebracht, was ich zum Überleben brauche. Und ansonsten spielt sie nicht mit. Sie würde niemals von sich aus einen Kampf beginnen. Nur wer sie herausfordert, der hat ein Problem, denn sie ist verdammt gut."

"Seit wann weißt du eigentlich, dass du unsterblich bist? Und was bedeutet das genau?"

Chris ließ die Stuhllehne los und setzte sich hin. Der Kaffee stand noch immer unangerührt auf seinem Platz. Auch wenn er inzwischen fast kalt war, es war besser als nichts.

Zumal Engins Fragen Chris zeigten, dass er anfing, die Story zu glauben.

"Komm setz dich. Ich werde dir alle Fragen beantworten. Und wie ich dich kenne, wird das noch Stunden dauern."

Engin setzte sich zu ihm, roch an seinem Kaffee-Rum-Gemisch und trank einen Schluck. Dabei verzog er sein Gesicht zu einer angeekelten Miene.

"Da hast du wahrscheinlich recht. Aber ich will es jetzt wissen. Egal, wie lange es dauert."

Auch Chris leerte seine Tasse und holte sich dann heißen Nachschub. Und füllte auch Engins Tasse wieder auf.

"Ich weiß leider auch nicht alles, schließlich bin ich noch nicht allzu lange dabei, aber alles fing mit einem unangenehmen Erwachen in einem Leichenschauhaus in San Francisco an…"

Zwei Stunden später schienen Engin die Fragen ausgegangen zu sein. Chris hatte sie ihm beantwortet. Bis auf die Sachen, die er nicht als sein Geheimnis betrachtete. So schwieg er sich über die Beobachter aus und vergaß auch zu erwähnen, dass Eddies neuer Freund ein Unsterblicher war.

Chris beobachtete, wie sein Partner mit seiner Kaffeetasse spielte und irgendwie versuchte, die ganzen Informationen zu verarbeiten.

Ein leises Knurren erinnerte Chris daran, dass nicht nur er hungrig war, sondern auch Engin. Er stand auf ging zum Kühlfach, nahm zwei Fertigpizzen heraus und schob sie in den Backofen. Dann deckte er den Tisch. Engin hatte ihn in den letzten beiden Stunden nicht aus den Augen gelassen und beobachtete auch jetzt seine Bewegungen. Chris konnte seinen Blick fast schon spüren.

Als Chris Gläser hinstellte, stellte Engin doch noch eine Frage.

"Und? Wie geht es weiter?"

Chris wusste ganz genau, dass sein Partner nicht die nähere Zukunft meinte, doch es war einfach zu verlockend, ihn hinzuhalten.

"Erst mal essen wir was und dann übernachtest du bei mir. In dem Zustand lass ich dich nicht nach Hause. Und morgen früh erscheinen wir ziemlich verkatert auf der Arbeit und niemand wird uns irgendwelche Fragen stellen."

Wie erwartet erschien der Hauch eines Lächelns auf Engins Gesicht und er schüttelte den Kopf.

"Das meine ich nicht. Ich meine dein Leben überhaupt. Und was ist mit Eddie?"

Hast du keine anderen Probleme? Warum interessiert es dich so sehr?

Chris stellte die Gläser ab.

"Damit gibst du wohl nie Ruhe?"

Engin schüttelte den Kopf.

"Ich weiß, wie glücklich ihr wart. Ich verstehe nicht, wieso du Eddie damals nicht die Entscheidung überlassen hast."

"Ich war ein blutiger Anfänger und hätte es mir nie verziehen, wenn Eddie etwas zugestoßen wäre. Besser sicher auf Abstand als tot."

"Ein Anfänger bist du jetzt aber nicht mehr…"

Nein, er war wirklich kein Anfänger mehr, aber Chris kannte all seine Schwächen besser als jeder Gegner.

"Toll, ich habe gerade mal ein Jahr Training hinter mir. Und meine Gegner hatten Jahrhunderte Zeit gehabt. Ich bin immer noch ein Frischling. Da kannst du sagen, was du willst. Zudem habe ich noch keinen wirklichen Kampf gehabt. Ich weiß noch nicht mal, ob ich wirklich töten kann!"

Obwohl die Pizzen noch lange nicht gar waren, hockte Chris sich hin und blickte in den Ofen.

"Vielleicht ist Bechthold deswegen bei mir zu einer fixen Idee geworden. Denn der Arsch ist gut, verdammt gut, und wenn ich ihn besiege, dann habe ich mir selbst bewiesen, dass ich gut genug bin, um Eddie zu beschützen."

"Und wenn du verlierst?"

Die Stimme in meinem Kopf fragt das auch immer.

Leise antwortete Chris.

"Daran denke ich nicht. Ich werde nicht verlieren… Möchtest du Wein zur Pizza?"

"Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Ich nehm' 'nen roten. Was ist mit Eddie?"

"Wenn ich Bechthold besiegt habe, werde ich zu Eddie gehen und ihm alles erklären. Ob er mich dann noch will, ist seine Entscheidung. Aber ich wünsche es mir so sehr."

Chris stand auf und holte eine Flasche aus dem Weinregal. Es war besser, als Engins Blick zu begegnen.

"Wenn er nein sagt, dann statte ich ihm einen Besuch ab und prügle Verstand in seine Birne."

Da musste Chris lachen.

"Du gegen Eddie? Keine Chance, der ist zu gut für dich."

"Kommt ja auf einen Versuch an. Aber du hast einen schweren Stand. Du hast ihn so erfolgreich vertrieben, dass er in einer festen Beziehung ist."

Über seinen Deal mit Thomas schwieg Chris, das ging Engin auch nichts an.

"Ich weiß, trotzdem geb' ich die Hoffnung nicht auf."

Den Korken zog Chris mit einem leisen ‚Plopp' aus der Flasche, dann ging er zu seinem Partner und schüttete ihm ein Glas ein. Wortlos prosteten sie sich zu.

Die Ruhe hielt nicht lange. Beim Essen vermieden sie das Thema Unsterblichkeit, stattdessen berieten sie, wie sie ohne Bernhard als Kronzeugen weiterarbeiten konnten. Gleichzeitig machte Engin Chris klar, dass er mit Bechthold machen konnte, was er wollte, solange es nicht die restliche Ermittlung gefährdete. Engin wollte die gesamte Führungsriege haben.

Das konnte Chris leicht versprechen. Sie kamen zu der Entscheidung, dass Bernhards Verschwinden überhaupt keinen Einfluss auf die Ermittlungen und wahrscheinlich nur wenig Einfluss auf das Gerichtsverfahren haben würde. Schließlich sollte er nur gegen Bechthold aussagen.

Und wenn die Kripo, die das Verschwinden des Jungen untersuchen würde, keine Spuren von ihm fanden, dann würde es in der Verhandlung bestimmt negative Auswirkungen auf Bechtholds Urteil haben, falls dieser dann noch lebte.

Vorausgesetzt sie fanden keinen Hinweis, dass Chris und Engin für Bernhards Untertauchen verantwortlich waren. Falls die Jungs von der Kripo gut waren, dann würden sie herausfinden, dass Chris nach dem ‚Unfall' Bernhards Handy erreicht hatte. Deswegen arbeiteten Chris und Engin an einer Erklärung.

Und zwischendurch fielen Engin immer noch einige Fragen ein, die Chris beantwortete.

Um drei Uhr morgens waren drei Weinflaschen geleert und der Schlachtplan stand in den Grundzügen, als Chris' Handy bimmelte. Er schaute aufs Display und nahm ab.

"Hallo Carola! Du solltest doch längst Feierabend haben."

"Habe ich, ich liege gerade gemütlich im Bett und hoffe, dass der Lütte nicht aufgewacht ist, als mein Handy klingelte. Und du wolltest dich besaufen und ins Bett gehen. Was ist aus deinem Plan geworden?"

"Besoffen bin ich noch nicht ganz. Engin hat mir immer alles weg getrunken. Aber du hast doch bestimmt einen triftigen Grund, bei mir um die Uhrzeit anzurufen."

"Reicht es, wenn ich dir sage, dass ich mir Sorgen gemacht habe? Ich kenn' euch doch."

Hatte Carola am frühen Abend nur Andeutungen gemacht, so war es nun mehr als deutlich, dass sie vermutete, dass Chris und Engin ohne rechtliche Absicherung gearbeitet hatten. Doch Chris würde ihr auch keine Auskunft geben. Es war schon schlimm genug, dass Engin Bescheid wusste.

"Du bist zwar sehr fürsorglich, aber so schlimm bist du nun auch nicht. Wer hat dich angerufen? Ist Bechthold aufgetaucht?"

"Ja, vor zwanzig Minuten ist er mit Gesse zu Hause aufgeschlagen. Ohne seine Gorillas. Schneider hat mich deswegen angerufen und gemeint, dass ich jetzt doch besser schlafen könnte."

Zwei Probleme weniger. Bin gespannt, wo Bechthold sie entsorgt hat.

"Schön, dass er wieder da ist. Hattest du eigentlich die Nobel-Puffs überprüfen lassen, ob er vielleicht dort ein Schäferstündchen hatte?"

"Mike hatte das auch schon vorgeschlagen, als er aus dem Meeting kam, aber wir haben dafür nicht genügend Leute gehabt. Wir haben nur ein Team die Parkplätze vor den Bordellen absuchen lassen, ob sein Wagen irgendwo stand. Aber Fehlanzeige."

"Und was ist mit Bernhard Neuendorf? Hat er sich bei dir gemeldet? Ich hab noch einige Male versucht, ihn zu erreichen. Einmal hatte ich ein Rauschen in der Leitung und ich dachte, da wäre was, aber Fehlanzeige. Und sonst hatte ich nur die Mailbox dran."

Diese Erklärung wollten Chris und Engin auch der Kripo präsentieren. Vorausgesetzt Carola würde sie ohne Kommentar schlucken. Wenn nicht, dann hatten sie ein Problem. Doch Carola schöpfte keinen Verdacht.

"Tut mir leid, Chris. Die Spurensicherung ist noch dran, aber du weißt ja aus eigener Erfahrung, wie es läuft. Das ist jetzt ein Fall für die Kripo und wenn wir zu oft anrufen, dann blocken die ab. Aber das BKA wird schon genug Dampf machen, da zwei von ihren Leuten verletzt wurden. Mike will eine seiner Quellen anzapfen, aber vor morgen früh hat er auch keine Infos."

"Scheiße, ich hasse es, auf irgendwelche Ergebnisse zu warten und mich mit Brosamen abspeisen zu lassen. Aber lass uns aufhören. Ich will die Weinflasche noch leeren und muss Engin noch ins Bett bringen."

Chris kannte Carola gut genug, um genau diese Formulierung zu wählen. Schließlich wollte er sie ablenken.

"Läuft da etwas, von dem ich noch nichts weiß?"

"Sicher. Ich hab noch 'ne heiße Nacht vor mir."

Doch Engins empörtes Gebrüll "Carola, glaub ihm kein Wort" konnte diese bestimmt auch am anderen Ende der Leitung verstehen. Und zog daraus ihre eigenen Schlüsse.

"Ihr seid ja wirklich betrunken. Trinkt aus und geht ins Bett. Wir sehen uns um zehn. Dann ist die nächste Besprechung angesagt."

"Oh Scheiße! Die habe ich ganz vergessen. Danke. Bis später."

"Schlaft gut. Ich bring euch zum Frühstück was gegen den Kater mit."

Bevor Chris noch etwas sagen konnte, legte Carola auf. Nachdenklich nahm er die Weinflasche und die Gläser.

"Fühlt man sich immer so beschissen?"

"Bitte?"

Chris wusste jetzt wirklich nicht, was Engin meinte.

"Ich habe weder das ganze Gespräch mitbekommen, noch habe ich sie mit meinem Zwischenruf angelogen. Aber ich fühle mich absolut mies."

Mit einem Schluck leerte Chris sein Glas, nahm auch Engins Glas, stellte beide in die Spüle und fing mit dem Abwasch an. Nach einigen Minuten des Schweigens nahm Chris den Faden wieder auf.

"Du bist nicht der einzige, der sich so mies fühlt. Frag mich mal. Aber je weniger von meinem Geheimnis wissen, umso besser."

Bevor Chris mit dem Spülen fertig war und sich ein Handtuch zum Abtrocknen nahm, stand Engin auf und half ihm.

"Aber wieso? Was ist daran so schlimm, wenn auch Mike und Carola erfahren würden, dass du… du…"

"Unsterblich, unverletzbar, fast schon ein Supermann bin? Oder was wolltest du sagen? Das ist doch gerade das Problem. Je mehr Leute es erfahren, um so eher besteht die Gefahr, dass einer eifersüchtig, neidisch, wie auch immer wird. Was passiert dann? Und was meinst du, was passiert, wenn erst die Wissenschaftler auf mich aufmerksam werden und mich als Versuchskaninchen benutzen?"

Die wollen doch auch ewig leben, und werden mit mir die hässlichsten Experimente anstellen.

"Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ist das denn schon mal passiert?"

"Naja, angeblich soll die Geschichte von Frankenstein auf Experimenten mit einem Unsterblichen basieren. Allerdings ist laut Amanda alles stark verfremdet worden."

Die Küche war jetzt wieder sauber und aufgeräumt und Chris nahm Engin das Handtuch aus den Fingern.

"Und jetzt ist Schluss. Wir müssen noch einige Stunden schlafen. Wenn wir um neun Uhr im Büro sein wollen, dann bekommen wir wenigstens noch vier Stunden Schlaf."

Engin schien noch an dem letzten Brocken zu kauen, den Chris ihm serviert hatte, denn er nickte abwesend. Er sagte auch nichts, als Chris ihm im Wohnzimmer aus zwei Matten ein Bett machte.

Als Engin kurz darauf in seinem Bett lag, schaute Chris noch einmal ins Wohnzimmer. Das Licht war noch an und sein Partner starrte an die Decke.

"Es hilfst nichts, wenn du dir den Kopf über meine Probleme zerbrichst. Ich denke schon zu viel darüber nach."

"Ich frage mich nur, warum ich dich dazu gedrängt habe, mir alles zu erzählen. Denn mit so einem Geheimnis habe ich nicht gerechnet. Du hast mir eine große Bürde aufgehalst."

"Jetzt weißt du wenigstens, warum ich so gezögert habe. Aber ich bin mir sicher, dass du mein Vertrauen nicht enttäuschen wirst… Ganz sicher. Und jetzt schlaf. Wir werden nachher schon schlimm genug aussehen."

"Nacht Chris!"

"Nacht Engin."

Chris machte das Licht aus, bevor er das Wohnzimmer verließ, und schloss auch leise die Tür.

In seinem Bett wälzte er sich von einer Seite auf die andere, bis das Klingeln des Weckers ihn erlöste.