Eine halbe Stunde später parkte Chris seinen Wagen vor der Haustür. Die Plastikfolie und seine Jacke verstaute er im Kofferraum, bevor er nach oben ging. Nur sein Schwert nahm er mit hoch. Schließlich musste er noch die Scharten abschleifen und die Klinge mit einer Säure bearbeiten, um alle Spuren zu beseitigen.

Schmerzen hatte Chris keine mehr. Er fühlte sich nur steif und ungelenk. Es erinnerte ihn an einen Muskelkater. Und er war unendlich müde. Doch jetzt musste er sich der nächsten Herausforderung stellen.

Engin und Eddie. Dabei ist Engin meine geringste Sorge.

Als er die Haustür öffnete, da dröhnten von oben dumpfe Bässe durch den Flur. Es war zwar nicht ohrenbetäubend, aber es ging Chris auf die Nerven.

Was auch immer Chris über dieses Haus sagen konnte, normalerweise waren alle Bewohner recht ruhig und gesittet. So laute Musik hatte er noch nie gehört.

Doch, einmal. Marschmusik zu Hitlers Geburtstag. Aber das hab' ich dem Säufer schnell abgewöhnt.

Seine Augenbraue wanderte hoch, als Chris auf dem Weg nach oben klar wurde, dass die Musik aus seiner Wohnung kam.

Und als er die Tür öffnete, erkannte er auch, was da lief – Queens ‚Another one bites the dust'. Und sein Mut sank.

Das spielt Eddie immer, wenn er sauer und frustriert ist. Gar nicht gut.

Doch bevor Chris sich überwand und in sein Schlafzimmer ging - von dort kam die Musik -, öffnete sich die Küchentür und Engin kam in den Flur.

Statt etwas zu sagen, packte er Chris und schob ihn vor sich in die Küche. Erst als Engin die Tür wieder schloss, war die Musik soweit abgedämpft, dass man sich in normaler Lautstärke unterhalten konnten. Doch Engin dachte gar nicht daran und brüllte Chris an.

"Verdammt! Du wolltest doch anrufen! Warum hast du das nicht getan?"

Eigentlich wollte Chris Engin fragen, was mit Eddie los war, dass dieser die Musik aufgedreht hatte. Aber jetzt war es wichtiger, seinen Partner zu beruhigen.

"Wollt' ich ja! Aber wenn du mir erklärst, wie ich das mit dem Teil hinbekomme, dann bin ich glücklich."

Währenddessen hatte Chris das Handy aus der Hosentasche geholt und schmiss es auf den Tisch. Die Küchenlampe enthüllte den wahren Zustand des Elektronikgeräts. Der Kunststoff war angekokelt und verzogen. Er sah so aus, als ob er von einem Blitz getroffen worden war.

Kein Wunder, dass ich den Akku nicht entfernen konnte.

Engin nahm das Handy hoch und betrachtete es. Währenddessen setzte Chris sich hin und kümmerte sich um sein Schwert. Eine Feile hatte er schon aus der Schublade geholt. Auch wenn das Abschleifen der Scharten ein schreckliches Geräusch verursachte, er konnte es sich nicht leisten, Spuren zu hinterlassen.

"Was hast du denn damit angestellt? Hast du es an Starkstrom angeschlossen?"

"Frag nicht, du bekommst sonst eine Antwort, die du nicht wirklich hören willst."

"So schlimm?"

Es schien, als ob Engin erst jetzt wahrnehmen würde, in was für einem Zustand Chris war. Und wenn sein Äußeres halbwegs mit dem übereinstimmte, wie er sich fühlte, dann musste er grauenhaft aussehen. Aber dazu wollte er nichts sagen, deswegen beantwortete er die Frage mit einem Achselzucken.

Vorsichtig berührte Chris die Klinge, er hatte keine Lust, sich an den Scharten zu schneiden. Aber es waren nur wenige Stellen, die er mit der Feile bearbeiten musste.

Nicht mehr als fünf Minuten Arbeit.

"Ich hab' schon Trainingsstunden erlebt, in denen ich schlimmer zugerichtet wurde. Aber ich brauch' dir ja nicht zu sagen, wie man sich fühlt, wenn man einen Menschen getötet hat."

Mit den Fingern fuhr Chris durch seine Haare. Es war einfach unmöglich, einem anderen zu erzählen, was er beim Quickening erlebt und gefühlt hatte.

"Da hast du Recht. Willst du einen Kaffee?"

"Wenn er noch heiß ist. Was meinst du, gibt es 'ne Möglichkeit, an den Chip im Handy zu kommen und den wieder ans Laufen zu kriegen?"

Da bekam Chris auch schon eine Tasse mit heißem Inhalt vor sich auf den Tisch gestellt.

Die Scharten waren soweit herausgearbeitet, das Ätzen musste bis zum nächsten Tag warten, da Chris die Chemikalien erst noch mischen musste. Chris stand auf und brachte das Schwert ins Wohnzimmer. Als er zurück kam, nahm er die Tasse in seine Hände, schnupperte daran, doch alleine der Geruch ließ seinen Magen aufbegehren. Mit Mühe unterdrückte Chris das Bedürfnis, ins Badezimmer zu laufen und sich zu übergeben. Dabei wurde er von Engin, der sich ihm gegenüber hingesetzt hatte, beobachtet. Doch dieser gab keinen Kommentar ab, sondern blieb beim Thema.

"War es an, als es so zugerichtet wurde?"

Chris schüttelte den Kopf.

"Nein, ich hatte es ausgeschaltet, nachdem ich deine SMS gekommen hatte, aber ich befürchte, dass ich diese Nacht noch 'nen Anruf bekomme, falls die Bechthold finden. Und ich will keinen Verdacht erregen. Was ist mit Eddie?"

"Frag nicht, du bekommst sonst eine Antwort, die du nicht wirklich hören willst."

"Aber er ist doch hier?"

"Nein, ich habe die Musik aufgedreht, weil sie mir gefällt."

Die Ironie und der Sarkasmus waren nicht zu überhören.

"Engin, bitte"

"Ja, Eddie ist hier. Aber an deiner Stelle würde ich noch nicht zu ihm gehen, sondern warten, bis sich dein Magen wieder erholt hat und du die Nerven für eine ziemlich heftige Konfrontation hast."

"Was ist passiert?"

"Was soll schon passiert sein? Ich tauche unangemeldet bei ihm auf, warte auf seinen Freund und nachdem ich mein Sprüchlein aufgesagt habe, rennt dieser Thomas nach oben. Wenige Minuten später taucht er mit einer gepackten Tasche wieder auf, macht mit Eddie Schluss und gibt mir den Rat, gut auf ihn aufzupassen. Wenn Eddie nicht so geschockt gewesen wäre, dann hätte ich ihn niemals in meinen Honda bugsieren und nach hier kutschieren können."

"Aber das ist noch nicht alles."

Irgendwie glaubte Chris nicht, dass dies der Grund war, warum Engin so genervt war.

"Stimmt, denn kaum sind wir hier, da wollte Eddie auch schon wieder zurück in seine Wohnung. Ich hab' mit Engelszungen auf ihn eingeredet, aber er wollte mich einfach zur Seite schieben und abhauen…"

Schließlich war Eddie Engin körperlich überlegen, stellte sich also die Frage, wie Engin es geschafft hatte, ihn aufzuhalten.Chris schwante Böses.

"Und wie hast du ihn überzeugt zu bleiben?"

"Er hat mich einfach zur Seite geschoben und war schon fast zur Tür raus, da hab' ich…"

Doch Engin sprach nicht weiter. Stattdessen stand er auf, ging zum Schrank und zog alle Schubladen auf, bis er ein scharfes Messer und einen Schraubenzieher gefunden hatte. Doch Chris hakte nach.

"Engin! Was hast du gemacht?"

Engin drehte sich zu ihm, ging wieder an den Tisch und setzte sich zu Chris. Dabei vermied er, ihm in die Augen zu sehen.

"'kay, schlag mich, wenn du willst, aber ich wusste einfach nicht weiter. Ich hab' ihm mit meiner Dienstwaffe eins über den Schädel gezogen. Darauf ist er zusammengebrochen und ich hab ihn ins Schlafzimmer geschleppt und auf deine Matratze gelegt."

Wirklich geschockt war Chris nicht, er hätte an Engins Stelle nicht anders reagiert. Der einzige Haken war, dass Eddie jetzt wirklich einen Grund hatte, sehr sauer zu sein.

Und das werde ich ausbaden müssen.

Erst als er die leere Tasse abstellte, merkte Chris, dass er den Kaffee ausgetrunken hatte, ohne dass sein Magen protestiert hatte.

Währenddessen bearbeitete Engin Chris' Handy, um es aufzubekommen, hatte aber noch keinen Erfolg.

"All zu fest hast du ja nicht zugeschlagen. Er scheint ja wieder wach zu sein. Fragt sich nur, in welchem Zustand mein Schlafzimmer ist, wenn ich es aufschließe."

"Ich glaube nicht, dass er dort gewütet hat. Er konnte nicht."

Langsam war Chris es leid, dass er Engin alle Informationen aus der Nase ziehen musste.

"Gut, was versuchst du gerade, mir so schonend wie möglich beizubringen?"

Wenn Chris nicht so erledigt gewesen wäre, hätte er Engin längst gepackt und so lange geschüttelt, bis dieser erzählt hätte, was passiert war.

Engin blickte nicht hoch, sondern bastelte mit verkniffenem Gesichtsausdruck weiter. Erst als das Handy seinen Widerstand aufgab und er den Akku abnehmen konnte, blickte er auf.

"Ich hab' ihn mit meinen Handschellen ans Heizungsrohr gefesselt. Ich wollte verhindern, dass er noch mal versucht abzuhauen und ich ihn dann wieder niederschlagen muss."

Eddie. Mit Handschellen gefesselt. Auf seinem Bett.

Es war nicht das erste Mal für Eddie, dass er so auf Chris wartete. Nur war es normaler Weise der Beginn einer sehr aufregenden Nacht gewesen.

Oh Scheiße, wie bekomme ich das nur wieder in Ordnung?

Chris schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Versuchte, die Gedanken an einen nackten, willigen Eddie aus seinem Kopf zu vertreiben.

Denn der Eddie, den er gleich treffen würde, war garantiert sehr sauer, angesickt und hatte Kopfschmerzen.

Wie sollte er Eddie nur davon überzeugen, dass er ihn noch liebte? Doch wenn er es nicht heute hinter sich bringen würde… Eddie würde ihm keine weitere Chance geben. Dessen war sich Chris sehr sicher. Er öffnete die Augen und blickte seinen Partner an. Auch an ihm war die Nacht nicht spurlos vorbei gegangen. Chris hatte nicht vor, es ihm noch schwerer zu machen als notwendig. Aber er musste wissen, was wirklich abgelaufen war, um sich auf Eddie einstellen zu können.

"Hast du ihm Schmerztabletten gegeben?"

"Wenn er mich gelassen hätte. Nachdem er aufgewacht ist, hat er mich ignoriert. Dein Brüllwürfel und deine CD-Sammlung waren in seiner Reichweite und er hat sich eine CD rausgesucht und sie abgespielt. Dass er mit seinem Kopf diese Lautstärke aushält, ist mir ein Rätsel. Aber besser so, als dass er deine Wohnung auseinander nimmt. Ich hab mich dann in die Küche verzogen und auf dich gewartet."

Immer noch wich Engin Chris' Blick aus. Den Chip hatte er ausgebaut und setzte ihn nun in sein eigenes Handy ein. Dann schaltete er es ein und so wie Chris es beurteilen konnte, funktionierte es auch.

"Gib mir deine Pin-Nummer!"

Automatisch rasselte Chris die Zahlen runter.

"4 7 1 1. Funktioniert es?"

"Moment, so schnell geht das auch nicht."

Dann schien Engin zu realisieren, was für Zahlen Chris genannt hatte. Jedenfalls sah er kurz hoch, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Handy. Dann schob er es zu Chris rüber.

"Du hast Glück gehabt, die Karte ist heil geblieben. Ich hab zu Hause noch ein altes Handy rumliegen, du kannst meins bis morgen behalten."

"Danke. Für alles."

Es war zu wenig. Das, was Engin heute für ihn getan hatte, war wesentlich mehr als man selbst von einem Freund erwarten konnte, und doch fand Chris keine Worte, um es vernünftig auszudrücken.

"Nicht dafür."

"Für alles. Ganz besonders für den Ärger, den du noch mit Eddie bekommen wirst."

"Glaub' ich nicht. Er wird dir die Hölle heiß machen, mir wird er nur meinen schlechten Umgang vorwerfen."

"Danke für die Motivation. Genau das, was ich brauche."

"Sollte nicht die Musik schon Motivation genug sein?"

Das Gedröhne im Hintergrund war eher lauter als leiser geworden. Und war schon ein Vorbote von dem, was auf Chris wartete.

"Oh ja, besonders, dass ich ihm auch das beibringen muss, was du schon weißt."

"Meinst du nicht, dass das etwas viel für einen Tag ist?"

"Wenn ich es heute nicht schaffe, wann dann? Je länger ich warte, um so weniger wird Eddie mir verzeihen können. Wenn es nicht schon zu spät ist…"

Alle Zweifel waren wieder da. Ob Eddie ihm das letzte Jahr verzeihen konnte und ob er bereit war, mit einem Unsterblichen zusammen zu leben. Chris wusste nicht, wie Eddie sich entscheiden würde. Nur die Erinnerung an die Weihnachtsnacht ließ ihn hoffen, dass es doch noch eine Chance für ihre Beziehung gab.

Ich habe Angst, schreckliche Angst, ins Schlafzimmer zu gehen. Da kämpf' ich lieber noch mal mit Bechthold.

Chris stützte seine Arme auf dem Tisch ab und vergrub das Gesicht in seinen Hände. Es war im Moment einfach zu viel und er wusste nicht, wie er bei Eddie anfangen sollte. Nicht wenn dieser so gelaunt war.

Vielleicht ignoriert er mich, wie er es mit Engin gemacht hat. Und ich kann ihn ja nicht ewig angekettet in meinem Zimmer lassen.

Dann fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Chris blickte hoch. In Engins besorgtes Gesicht. Es war nicht einfach, aber Chris fabrizierte ein schiefes Lächeln.

"Eddie wird dir die Hölle heiß machen. Das ist sicher. Genau so sicher, wie er dir verzeihen wird. Du musst nur damit rechnen, dass er dich zappeln lässt."

"Ja, damit hast du Recht, wenn ich da an das letzte Mal denke…"

"Da hat er dich fast vier Monate im Ungewissen gelassen. Ich weiß. Ich habe es live und in Farbe mitbekommen. Und es erst verstanden, als du es mir gebeichtet hattest."

"Danke, Engin. Aber jetzt schau, dass du nach Hause kommst. Sabine wartet doch bestimmt schon."

Es war schon schlimm genug, mit Eddie reden zu müssen. Aber noch schlimmer war für Chris die Vorstellung, dass Engin währenddessen in der Küche sitzen würde. Auch wenn er nur Trost spenden wollte.

"Nö, wir waren doch zum Essen verabredet. Da rechnet sie nicht vor zwei mit mir."

War es wirklich heute gewesen, dass er mit Engin im Dorade gesessen und sich auf seinen Fisch gefreut hatte? Chris schüttelte den Kopf.

"Dann wird sie sich freuen, wenn du etwas früher kommst. Lass mir die Schüssel für die Handschellen da und dann verschwinde."

"Wie du willst."

Engin holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und legte ihn auf den Tisch.

"Ich wünsch' dir noch viel Glück. Und schau, dass du morgen halbwegs vorzeigbar aussiehst. Kallenbach wird dich auf dem Kieker haben."

"Falls es für mich noch ein Morgen gibt. Eddie bringt mich um."

"Ja, und? Wie viele Stunden später bist du wieder auf den Beinen? Das ist keine Ausrede, blau zu machen. Du kannst es dir nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Das würde Fragen aufwerfen. Besonders wo Bechthold verschwunden ist."

Er hatte ja Recht. Chris wusste es und Engin wusste, dass er es wusste..

"Ja, Papa. Ich verspreche dir, morgen früh pünktlich, frisch rasiert und halbwegs munter zu erscheinen."

"So ist brav, mein Sohn. Bis morgen."

Und weg war Engin. Fast schon schneller, als Chris es mitbekam. Jetzt musste er sich nur noch mit seinem persönlichen Dämon auseinandersetzen, der im Schlafzimmer wartete.

Chris stand auf und ging in den Flur. Doch vor der Tür zögerte er einen Moment. Statt hineinzugehen, drehte er sich um, ging noch mal in die Küche und holte sich aus einer Schublade ein langes, scharfes Fleischmesser, das er in den Bund seiner Hose steckte. Dann ging er wieder zum Schlafzimmer.

Dieses Mal öffnete er auch die Tür.

Eddie präsentierte sich genau so, wie Chris erwartet hatte. Er saß auf der Matratze und lehnte mit dem Rücken an der Heizung. Die Handschellen verbanden sein rechtes Handgelenk mit dem Heizungsrohr. Dass Eddies Gesichtsausdruck sehr wütend und sauer war, war für Chris keine Überraschung.

Die Anlage spielte 'Bohemian Rhapsody'. Chris drehte die Lautstärke runter; er wollte die Musik nicht abstellen - er fürchtete die Stille, die eintreten würde. Danach setzte er sich direkt neben Eddie auf die Matratze. Das Messer legte er neben sich. Eddie warf nur ein Blick auf die Waffe, sagte aber nichts.

So saßen sie schweigend nebeneinander. Chris suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht. Und von Eddie konnte Chris keine Hilfe erwarten. Er konnte schon froh sein, dass dieser ihn nicht angriff.

"Du hattest vor ewigen Zeiten einmal gesagt, dass du nicht wie ein Oktopus in seinem Aquarium enden wolltest..."

Schweigen. Eddie sagte nichts. Chris warf einen Blick zu ihm rüber, doch der Gesichtsausdruck hatte sich nicht geändert.

"Ich habe mich im letzten Jahr wie eben dieser Oktopus gefühlt."

Doch wieder reagierte Eddie nicht. Kein Wort, keine Geste, gar nichts.

Am liebsten hätte Chris Eddie in den Arm genommen, ihn berührt, irgendetwas gemacht, um eine Reaktion hervorzurufen, doch er hatte Angst, dass diese Reaktion aus Ablehnung bestehen würde.

Doch er wollte nicht aufgeben. Das wäre zu einfach gewesen. Nach einigen Minuten wagte er einen neuen Anlauf.

"Ich hatte niemals eine Beziehung mit Amanda. Ich hab' dich damals im Bistro angelogen."

Es herrschte Ruhe, nur Freddie Mercurys Stimme durchdrang den Raum. Der Moment dehnte sich für Chris zur Ewigkeit, auch wenn es nicht mehr als zehn Sekunden sein konnten.

"Ach? Und das soll ich dir glauben?"

Eddies Lachen war sehr bitter und ironisch.

"Und ich dachte immer, dass du sie aus Dankbarkeit gefickt hast, nachdem sie dich mehr oder weniger vor dem Taschendieb gerettet hat."

"Sie hat mich nicht gerettet und damals bin ich wirklich nicht mit ihr ins Bett gestiegen. Ich hatte andere Probleme."

Stille. Eddie schien erst mal damit beschäftigt zu sein, das ,was Chris gesagt hatte, zu verdauen.

Der CD-Player schien die ‚Bohemian Rhapsodie' in Endlosschleife zu spielen, denn gerade setzte Freddie Mercury wieder ein:

Mama just killed a man,
Put a gun against his head, pulled my trigger, now he's dead
Mama, life had just begun,

Das erinnerte Chris wieder an Bechthold und dass seine Leiche im Palmengarten darauf wartete, gefunden zu werden.

Warum nur? Wieso musste ich es tun? Gibt es wirklich keine Möglichkeit, sich aus diesem verdammten Spiel rauszuhalten?

"Also hast du mich damals angelogen. Meinst du nicht, dass es langsam mal Zeit wäre, mir die ganze Wahrheit zu erzählen? Und wenn du dann schon mal dabei bist: Warum schickst du Engin zu mir, damit er mit Thomas spricht? Und wieso verdammt noch mal packt Thomas anschließend seine Koffer und verschwindet? Und warum verdammt noch mal sitz' ich jetzt an ein Heizungsrohr gefesselt auf dieser schäbigen Matratze? Es gab mal eine Zeit, in der ich dachte, dich zu kennen. Besonders das, was du sonst immer hinter deiner harten Schale verbirgst. Aber jetzt…?"

Solange wie Chris Eddie schon kannte, so eine Rede hatte er noch nie von ihm gehört. Im Gegensatz zu dem, was er sagte, verhielt sich Eddie ganz ruhig. Kein Gefühlsausbruch, kein wildes Gestikulieren, kein plötzlicher Themenwechsel, nichts.

Es machte Chris Angst.

Wie soll ich da nur die richtigen Worte finden? Meine Geschichte ist doch so unglaublich.

Aber vielleicht war das ja ein Ansatzpunkt.

"Ich habe dich damals angelogen, weil ich das, was mir passiert ist, einfach nicht fassen konnte. Damals dachte ich noch, dass ich irgendwann aufwachen würde, weil es nur ein Albtraum war… Leider warte ich immer noch."

"Und was soll ich dir bitteschön glauben? Verdammt, jetzt hör' endlich auf, um den heißen Brei rumzureden. Ich. Will. Die. Wahrheit. Wissen. Nicht mehr und nicht weniger. Und mach mir endlich die Handschellen ab. Die sind unbequem."

Ein klein wenig genervt hörte sich Eddie schon an. In Anbetracht der Situation war er Chris aber noch zu ruhig.

Viel zu ruhig. Wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

"Erst wenn du alles gehört hast."

"Dann schieß los. Ich muss bis morgen Nachmittag um vier noch einen Bentley fertig machen. Und da Thomas den Flattermann gemacht hat, werde ich da noch einige Stunden dran schrauben müssen. Und ein paar Stunden Schlaf wären auch nicht schlecht."

Das Schlimmste war wirklich diese Ruhe, die Eddie ausstrahlte. So als ob ihm die Arbeit über alles ging. Eine Gänsehaut lief über Chris' Rücken.

"Erinnerst du dich noch daran, wie du in San Fran auf dem Präsidium warst, um meine Leiche zu identifizieren?"

"Oh, ja, das war mein ganz persönlicher Albtraum. Wie sollte ich das jemals vergessen? Ich träume heute noch davon."

Die Erinnerung an Eddies verzweifelte Stimme kam in Chris wieder hoch.

"Ich weiß. Ich hab' es Wort für Wort mitbekommen."

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre Chris in diesem Moment gestorben. Stattdessen rumorte sein Magen.

"Was soll das? Ich dachte, du wolltest mir die Wahrheit erzählen. Stattdessen spielst du mit meinen Gefühlen. Lass das."

"Ich will nicht mit dir spielen. Das ist das letzte, was ich will. Aber… ach, verdammt. Es ist halt schwer zu glauben. Ich weiß, dass es schwer ist, doch bitte hör mir zu. Danach lass ich dich gehen."

"Gut, ich bin ruhig. Also erzähl."

Dabei rückte Eddie an den äußersten Rand der Matratze. Möglichst weit von Chris weg. Gleichzeitig schob er sich ein bisschen höher. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er garantiert die Arme vor der Brust verschränkt.

Mit seinen Fingern fuhr Chris durchs Haar. Es war genau so schlimm, wie er befürchtet hatte.

"Wenn ihr fünf Minuten früher aufgetaucht wärt, dann wäre die Schublade mit meinem Namensschildchen nicht leer gewesen und der Cop hätte nicht alle anderen Schubladen hektisch auf und zu schieben müssen. Und sein anschließendes Gestammel wäre dir auch erspart geblieben."

"Wenn... Falls du dort gewesen bist..." Eddie stockte. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen und setzte noch mal an.

"Wenn du also wirklich da warst und okay gewesen bist... Warum hast du nichts gesagt? Weißt du, wie ich mich in dem Moment gefühlt habe"

Da war wieder der emotionale Eddie, den Chris kannte.

"Es ging nicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich hockte hinter dir in einer Ecke neben einem Tisch. Nur war ich nicht allein. Amanda kauerte neben mir, hatte aber im Gegensatz zu mir auch noch einen Revolver, den sie mir in die Rippen stieß. Damals dachte ich, dass sie abdrücken würde, wenn ich einen Ton sagen würde. Und deswegen war ich still, obwohl ich am liebsten zu dir gegangen wär'."

Dabei verschwieg Chris, dass er damals nackt gewesen war.

"Und was hat Amanda damit zu tun? Was hatte sie überhaupt da zu suchen?"

"Sie hat mich aus der Schublade geholt. Alleine kommt man da sonst nicht raus. Ist ja auch nicht nötig. Schließlich sollen da Tote drin liegen."

"Und warum hat dich Amanda da rausgeholt? Gott, ich habe sie zwar nur ein Mal gesehen, aber ich mag diese Frau nicht. Jedesmal wenn du sie auch nur erwähnst, läuft eine Gänsehaut über meinen Rücken. Was stimmt mit ihr nicht?"

Er hat wirklich einen sechsten Sinn für Unsterbliche. Erst ich, dann Thomas und jetzt stellt sich heraus, dass seine Witterung auch bei Amanda angeschlagen hat.

Doch Chris ging nicht weiter darauf ein. Es war wichtiger, dass Eddie kapierte, was an dem Tag wirklich passiert war.

"Eddie, als mich die Polizisten in die Kühlkammer gesteckt haben, da waren sie der Meinung, dass ich tot war. Denn der Taschendieb hat mich nicht niedergeschlagen. Nein, er hat mich niedergestochen. Voll in die linke Brust. Aber als Amanda mich wenige Stunden später rausgeholt hat, da war nichts mehr von der Verletzung zu sehen und ich war quicklebendig."

"Gut, jetzt lass mich raten. Du hast heute zum ersten Mal ‚Roter Libanese' geraucht. Verschon mich mit solchen Märchen. Die kann ich dir einfach nicht glauben."

Irgendwo hatte Chris die Hoffnung gehabt, dass er auf eine Demonstration seiner Veränderung verzichten konnte. Auch wenn er genau gewusst hatte, dass sie vergeblich war.

Im Gegensatz zu Engin hatte Eddie nicht mitbekommen, wie sehr er sich in den letzten Monaten verändert hatte.

Die Demonstration würde zwar ein Schock sein, aber da Eddie immer noch an die Heizung gefesselt war, hatte er keine Chance, irgendwelche Dummheiten anzustellen. Selbst wenn er schreien würde... die Nachbarn hörten nicht hin.

"Hör' mir gut zu, Eddie. Egal, was ich jetzt mache, bitte vertrau' mir und rühr' dich die nächsten zwei Stunden nicht von der Stelle."

So wie Eddie aussah, wäre er am liebsten noch ein Stück von Chris weggerutscht. Aber am Kopfende der Matratze wurde der Platz von diversen Büchern, Weckern, Hanteln und anderen Sachen belegt. Deswegen beschränkte sich Eddies Aktion auf einen Blick, den Chris als ‚Rühr mich nicht an' interpretierte.

Doch darauf nahm Chris keine Rücksicht. Er nahm das Messer, beugte sich zu Eddie und drückte es ihm in seine ungefesselte linke Hand.

"Was soll das, Chris?"

Eddie versuchte, die Waffe loszulassen, aber Chris hielt seine Hand mit seinen Fingern umschlungen.

Vor einem Jahr wäre es kräftemäßig ein fairer Kampf gewesen. Schließlich war Eddie einen Kopf größer und war durch seine Arbeit wesentlich besser in Form gewesen. Aber jetzt hatte Eddie nicht den Hauch einer Chance.

Chris nutzte es aus und dirigierte Eddies Hand so, dass die Messerspitze auf seine Brust zielte. Dann zog er sie immer näher, bis die Waffe sein Hemd berührte.

"Bitte vertrau' mir, Eddie. Ich werde in circa zwei Stunden wieder aufwachen. Du musst nur gleich das Messer rausziehen. Wenn du meinen Worten nicht glaubst, dann muss ich es dir zeigen."

"Lass den Scheiß, Chris. Hör auf damit, du machst mir Angst. Ich glaub dir, du brauchst nicht weiter zu machen."

Doch in Eddies Augen konnte Chris sehen, dass er kein Wort von dem glaubte, was er erzählt hatte.

Scheiße, ich muss die Show wirklich durchziehen.

Unmerklich schüttelte Chris den Kopf.

"Nein, du glaubst mir kein Wort. Aber keine Sorge, ich werde dir in zwei Stunden alle Fragen beantworten."

Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, rammte sich Chris das Messer in seine Brust.

Gott, tut das weh!

Doch Schreien ging nicht, es fehlte die Energie dazu. Dann hörte Chris einen Schrei, doch es war nicht seine Stimme. Mit letzter Kraft zog er sich das Messer aus der Brust. Dann lies er los. Eddie dagegen umklammerte immer noch die Waffe. Als Letztes sah Chris wie Eddie fassungslos auf seine Finger starrte. Dann fiel er nach hinten.

Verdammt, jetzt hab' ich mir schon wieder ein Hemd ruiniert.

Danach fiel er in ein tiefes Loch.

Die ersten Atemzüge waren immer die schmerzhaftesten. Hektisch sog Chris die Luft in seine Lunge. Als er nicht mehr das Gefühl hatte, ersticken zu müssen, versuchte er, sich zu orientieren.

Auf dem Boden lag er nicht. Und ihm war auch nicht so kalt wie sonst. Es fühlte sich an, als ob er im Arm gehalten wurde. Tröstend und beschützend.

Eddie! Wie hat er das geschafft? Als ich nach hinten fiel, war ich doch eigentlich außerhalb seiner Reichweite. Oder doch nicht?

"Du lebst! Du bist wirklich am Leben… Aber das kann doch gar nicht sein."

In Eddies Stimme lag so viel Freude, Unglaube und auch Zweifel.

"Ich muss verrückt geworden sein. Falls man mich hier findet, dann bin ich reif für die Klapse. Chris, was tust du mir an?"

Die letzten Stunden müssen für ihn die Hölle gewesen sein.

Zweifel kam in Chris auf, ob das, was er Eddie angetan hatte, wirklich die einzige Methode war, um ihn zu überzeugen, dass er unsterblich war.

Chris löste Eddies linken Arm, der sich um seine Brust gekrallt hatte und drehte sich um. Eddies Gesicht bestätigte, dass er die Hölle durchlebt hatte. Seine Augen waren vom Weinen verquollen und seine Wangenknochen traten unnatürlich vor. Er sah einfach nur grauenvoll aus.

Welcher Teufel Chris auch immer in diesem Moment ritt, ohne weiter nachzudenken beugte er sich vor und küsste Eddie. Nach einem Moment ließ sich dieser auch in den Kuss fallen und schmiegte sich an Chris – soweit es die Handschellen zuließen.

Kurz darauf löste Eddie den Kuss und als Chris sich zurücklehnte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, da spürte er plötzlich eine Faust, die mit voller Wucht seinen Magen traf. Da er auf diesen Schmerz nicht vorbereitet war, krümmte er sich zusammen und empfing prompt auch noch einen Schwinger, der sein Kinn nach hinten schleuderte.

Das hab' ich wohl verdient.

Keuchend lag Chris auf dem Boden. Wenn Blicke töten könnten, dann hätte er es jetzt wieder einmal hinter sich. Eddies Augen versprühten Blitze. Und dann brüllte er auch schon los.

"Der erste war dafür, dass du mich zwei Stunden hast rumsitzen lassen, mit dem Gefühl, für deinen Tod verantwortlich zu sein. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Auch wenn du mir vorher gesagt hast, dass du wieder aufwachen würdest. Ich konnte es doch einfach nicht glauben. Und der zweite war dafür, dass du die Schlüssel für die Handschellen nicht bei dir hast. Ich hab' all deine Taschen durchwühlt und nichts gefunden. Verdammt, du warst tot und ich hab' an dir rumgegrapscht. Gott, ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll, dass du wieder aufgewacht bist. Was ist das für ein beschissener Albtraum? Was es auch ist: Mach das nie wieder mit mir. Ist das klar?"

"Es ist leider immer noch kein Albtraum. Ich wünsche mir, dass ich wieder aufwache und alles nur ein total verrückter Traum war. Aber ich glaub', das hab' ich dir schon mal gesagt."

Chris sparte sich die Erklärung, dass er nicht vorhatte, Eddie noch einmal so einen Schock zu versetzen.

Vorsichtig betastete er sein Kinn. So hart, wie Eddie zugeschlagen hatte, konnte er froh sein, dass der Kiefer nicht gebrochen war.

Warum hab' ich mich nicht in eine Frau verliebt? Die schlägt nicht so hart zu...

"Und jetzt mach mich endlich los! Ich ertrag' es nicht länger. Und vielleicht glaub' ich dann, was ich gerade erlebt habe."

Automatisch stand Chris auf und ging aus dem Schlafzimmer. Der Schlüssel lag immer noch auf dem Küchentisch. Direkt daneben lag das Handy. Zum Glück war kein Anruf drauf, das war das letzte, was Chris in diesem Moment brauchen konnte. Er steckte beides in seine Hosentasche.

Doch bevor er wieder zu Eddie ging, brauchte Chris einen Moment Ruhe. Den nutzte er, um seine Hände und das Gesicht zu waschen. Jetzt hatte er noch auf der Brust einen Blutfleck, aber den ließ er. Vielleicht war es besser, dass Eddie auch den sichtbaren Beweis hatte, dass er nicht geträumt hatte.

So wie sich Eddie jetzt verhielt, musste Chris damit rechnen, dass er ihn sehr lange zappeln ließ.

Falls er mir überhaupt noch eine Chance gibt, so sauer wie er ist.

Aus dem Kühlschrank holte er eine Flasche Wasser und dann ging er wieder ins Schlafzimmer.

Dort wurde er auch schon von Eddie erwartet. Er hielt ihm auffordernd den Arm entgegen und Chris schloss die Handschelle auf, vermied aber, ihn zu berühren. Während Eddie sich das Handgelenk rieb, setzte sich Chris neben ihm aufs Bett und trank von dem Wasser. Dann hielt er Eddie die Flasche hin.

Dieser nahm sie auch und trank.

Erst jetzt fiel Chris auf, wie still es war. Keine Musik, die im Hintergrund dudelte. Ein Blick auf die Stereoanlage erklärte Chris alles. Sie bestand nur noch aus Einzelteilen.

"Kannst du mir verständlich erklären, warum du nicht gestorben bist?"

Jetzt geht es los. Es ist bestimmt nicht seine einzige Frage.

Doch es war auch direkt eine Frage, die Chris nicht richtig beantworten konnte. Niemand hatte es ihm gesagt, er hatte aber auch keine Lust, in die Fänge eines Wissenschaftlers zu geraten, der es irgendwann herausfinden würde.

Chris entschied sich, die Wahrheit zu erzählen.

"Ich wünschte, ich könnt' es, aber ich habe selbst keine Ahnung, warum es so ist. Amanda behauptet, wir seien eine andere Rasse. Sogenannte Unsterbliche. Aber sie hat dafür keinen Beweis."

"Warum redest du schon wieder von ihr? Ich dachte, ihr hättet nichts miteinander."

"Sie hat mir alles beigebracht, um zu überleben. Ohne sie wär' ich tot."

Es war so kompliziert, alles halbwegs verständlich rüberzubringen. Möglichst auch noch, ohne Eddie zu verletzen.

"Was ist daran so schwierig? Wenn du selbst einen Stich ins Herz überlebst..."

Wie sollte Chris Eddie beibringen, dass es unter den Unsterblichen das Spiel gab und dass es sehr gut möglich war, umgebracht zu werden?

"Ganz unsterblich bin ich nicht. Wenn man mir den Kopf abschlägt, bin ich endgültig tot. Und es gibt einige Artgenossen, die sehen es als Sport an, andere von uns zu jagen und anschließend umzubringen. Und schrecken dabei vor keiner Gewalttat zurück. Das war auch der Grund, warum ich dich damals in dem Glauben gelassen hatte, dass ich eine Affäre mit Amanda hatte."

"Du wolltest mich in Sicherheit bringen?"

Eddies Stimme war sehr ungläubig.

Gott, am liebsten würd' ich dich jetzt in den Arm nehmen, aber dann scheuerst du mir garantiert wieder eine.

"Ich konnte einfach nicht riskieren, dass du meinetwegen in Gefahr gerätst. Denn dadurch konnte man mich erpressen und ich will nicht, dass du stirbst."

"Und warum... warum sitze ich jetzt auf deinem Bett? Bin ich jetzt nicht auch in Lebensgefahr?"

Toll, super, er findet sofort den Schwachpunkt.

"Ich war im letzten Jahr nicht untätig und habe verdammt viel gelernt. So schnell bin ich nicht mehr tot zu kriegen. Es ist nicht so, dass für dich kein Risiko mehr besteht. Gott, es hört sich so machohaft an, aber ich bin jetzt in der Lage, dich zu verteidigen."

"Ja, das hört sich wirklich machohaft an. Es passt zu dir. Aber was willst du mir damit sagen? Hör' endlich auf, um den heißen Brei rumzureden."

"Ich will dich. Ohne wenn und aber."

Chris wagte einen Blick zur Seite und sah, dass Eddies Augenbraue in die Höhe wanderte.

"Schön für dich. Und wer sagt dir, dass ich es auch noch will? Weißt du, wenn Engin nicht heute Abend bei mir aufgetaucht wäre, dann hätt' ich eine heiße Nacht mit Thomas gehabt und würde mich darauf freuen, nachher an dem Bentley zu arbeiten."

Ja, wenn ich nicht wär', dann hätte Bechthold jetzt viel Freude mit euch.

Aber das würde Eddie jetzt garantiert nicht kapieren.

"Dein Problem ist nur, dass du bei deinen Freunden einen sehr exquisiten Geschmack hast."

"Wie meinst du das jetzt?"

Chris fuhr mit den Fingern durch seine Haare. Wieso konnte er nicht von Anfang an erzählen, sondern wartete auf Eddies Fragen? Das brachte es nicht, sondern sie gerieten immer weiter in eine Sackgasse.

"Wie viel Zeit hast du noch? Ich glaub', es ist am besten, wenn ich dir die ganze Geschichte von Anfang an erzähle und dass du anschließend deine Fragen stellst. Denn wenn ich dir jetzt deine Fragen beantworte, dann hast du immer zwanzig neue."

"So viel Zeit wie du willst, der Bentley muss dann halt' warten. Aber ein Kaffee, damit ich wieder zu mir komme, wär' nicht schlecht. Und 'ne Aspirin könnte ich auch gebrauchen. Engin hat ziemlich hart zugeschlagen."

Die Antwort weckte Hoffnung in Chris. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.

"Den sollst du haben. Kann ich dann zwischendurch noch duschen? Das getrocknete Blut ist echt unangenehm."

Wieder wurde Chris von Eddie gemustert. Und Chris schaffte es, den Blick zu erwidern. Und zum ersten Mal konnte Chris sehen, wie sich ein kleines Lächeln um Eddies Lippen bildete.

Verdammt, kaum schaut er mich so an, wird' ich wieder heiß.

"Sicher doch."

Eddie stand auf und reichte Chris die Hand. Er nahm sie an und ließ sich von ihm hochziehen.

Eschborn, Chris' Wohnung, 12. Januar 2005, 03.00 h

Langsam hatte Chris das Gefühl, sich den Mund fusselig zu reden. Er hatte Eddie nicht nur von den Vor- und Nachteilen seiner Unsterblichkeit erzählt, nein, um verständlich zu machen, was für Auswirkungen es auf sein Leben hatte, erzählte Chris auch, was er alles mitgemacht hatte, wovon Eddie nichts mitbekommen hatte. Und dabei war er gerade erst dabei angekommen, Eddie von Adam Pierson und seinen Trainingsmethoden zu erzählen. Chris hatte versucht, alles, was ihm in der Zeit passiert war, zu erzählen. Er war so ehrlich gewesen und hatte sogar erwähnt, dass er einmal mit Amanda ins Bett gestiegen war. Eddie hatte zwar seine Stirn gerunzelt, aber nichts weiter dazu gesagt.

Genauso, wie er zu allem anderen so gut wie nichts sagte. Ab und zu ein kurzer Kommentar oder eine Frage und ansonsten starrte Eddie auf seine Kaffeetasse und hörte zu.

Chris konnte ihn nur zu gut verstehen.

Anstelle des Kaffees hatte Chris ein Glas Wasser auf dem Tisch stehen. Wenn er nach einem Tod wieder aufwachte, war er sowieso schon für die nächsten Stunden zu wach und zu aufgedreht. Er hatte einmal den Fehler gemacht, auch noch literweise Kaffee zu trinken. Danach war er so aufgedreht gewesen, dass er noch nicht einmal ein vernünftiges Gespräch führen konnte.

Gerade versuchte Chris, sämtliche Fäden seiner Erzählung wieder zusammen zu führen, als das Handy klingelte. Ein Blick auf dem Display zeigte, dass es Kallenbach war.

Konnte der nicht warten, bis ich fertig bin?

Seufzend betätigte er die grüne Taste. Und hob gegenüber Eddie entschuldigend die Schulter. Dieser schüttelte bloß den Kopf.

"Was gibt's? Ist Bechthold wieder aufgetaucht?"

"In Einzelteilen."

Als ob ich das nicht wüsste, aber ich muss den Unschuldigen spielen.

"Kallenbach! Es ist…", Chris schaute auf die Uhr und fuhr dann fort "… drei Uhr morgens und ich bin nicht wirklich aufnahmefähig. Also erklär' es in einfachen Worten oder du bekommst morgen einen Anschiss, der es in sich hat."

Da Chris noch nie nett zu Kallenbach gewesen war, würde dieser sich nicht über den rauen Ton wundern. Ganz im Gegenteil, es würde auffallen, wenn er nett wäre.

"Diese Nacht hat mal wieder jemand den Palmengarten heimgesucht. Und neben einem zerstörten Gewächshaus haben die Jungs vom Sicherheitsdienst auch eine Leiche gefunden. Als die Kripo seine Papiere prüfte, da fanden sie heraus, dass es sich um Bechthold handelte und haben mich auch sofort informiert. Und ich habe ihn auch gerade identifiziert. Ist das einfach genug?"

"Bitte?"

"Ja, man hat dein Hauptobservationsobjekt umgebracht. Man hat den Kopf vom Rumpf abgetrennt und tot war er."

"Scheiße, scheiße, SCHEIßE!"

"Nun brüll' doch nicht so. Das war's dann mit deiner Beförderung."

"Du schließt mal wieder nur von dich auf andere. Bechtholds Tod gefährdet meine Arbeit von zwei Jahren. Wenn ich nicht ganz schnell was unternehme, dann tauchen alle ab. Verdammt, das ist das erste Mal seit Jahren, dass wir nicht nur hinter kleinen Fischen her sind. Und das geht gerade kaputt. Und du faselst da von irgendeiner Beförderung. Wo im Palmengarten seid ihr? Ich geh kurz unter die Dusche, damit ich wach werde und dann komm ich vorbei."

Chris brauchte nicht zu schauspielern, er war wirklich stinksauer auf Kallenbach. Der dachte immer nur an seine Karriere. Idealismus war ihm unbekannt.

"Ausreden kann ich es dir wohl nicht. Aber dann tu' mir den Gefallen und fahr' vorsichtig, Denn wenn dir was passiert, dann werde ich morgen zum Staatsanwalt zitiert."

Das war wirklich typisch Kallenbach und Chris war sehr nah daran zu explodieren. Aber dann erinnerte er sich an seine Richtlinien und atmete einmal tief durch.

"Nur um dich zu ärgern, könnt' ich es glatt tun. Also fordere mich nicht heraus. Wir sehn uns nachher."

‚Klack'

Jetzt hatte Chris aufgelegt, bevor Kallenbach es machen konnte.

Er sah hoch und direkt in Eddies Augen.

Scheiße, scheiße! Wieso muss alles auf einmal passieren?

"Kallenbach gehört immer noch mit zum Team."

Es war eine Feststellung. Und doch konnte Chris die tausend Fragen, die dahinter standen, fast schon hören.

Und ich muss ihm noch beibringen, dass ich nicht unschuldig an Bechtholds Tod bin. Muss das ausgerechnet heute sein?

"Ja, und Mike liebt ihn heiß und innig. Inzwischen leg' ich deren Schichten so, dass sie keine Berührungspunkte mehr haben. Bescheuert, nicht?"

Das Zucken um Eddies Mundwinkel wertete Chris als Zustimmung.

"Sperr sie zusammen in einen Raum. Gib ihnen nur Wasser und Brot und du wirst sehen, nach spätestens zwei Tagen gehen sie miteinander ins Bett und dann lösen sich all deine Probleme in Wohlgefallen auf."

Kallenbach und Mike? Chris schüttelte sich.

"Mann, hast du eine kranke Phantasie. Und außerdem klappt das nicht. Hör' bloß auf, sonst bekomm' ich noch Albträume."

"Die hast du doch schon."

Danke, wie liebenswürdig.

Dabei fragte sich Chris, warum er diesen Mann nur liebte. Doch alleine schon wie Eddie vor ihm saß, ihn anschaute und dabei ganz leicht grinste, brachte seine Gedanken auf Abwege. Es fiel Chris schwer, sich zu konzentrieren.

"Stimmt, aber ich hätte gerne andere Träume, Träume, in denen du die Hauptrolle spielst. Und wenn die dann auch noch wahr werden…"

Eddie wurde wieder ernst und wich aus. Scheinbar wollte er noch nicht darüber sprechen.

"Du warst mit deiner Geschichte doch noch nicht fertig. Das meiste kann ich mir schon zusammenreimen, aber wieso hab ich nur den Eindruck, dass du bei Kallenbach am Telefon geschauspielert hast?"

"Ich wusste, dass Bechthold tot auf der Steppenwiese liegt. Schließlich hab' ich ihm den Kopf abgeschlagen."

Das saß. Eddie schluckte, schluckte noch einmal und starrte die ganze Zeit Chris an. Dann fand er seine Stimme wieder.

"Also hat er dich doch gefunden und herausgefordert. Und du hast keine Möglichkeit gehabt, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich verstehe eurer verdrehtes Spiel doch richtig?"

Chris fuhr wieder einmal mit den Fingern durch seine Haare. Es war fast unmöglich, Eddie etwas zu verheimlichen. Er schien zu ahnen, wenn Chris nicht die Wahrheit erzählte.

Ich konnte nur verheimlichen, dass ich unsterblich war, aber das war eine ganz andere Situation.

Aber wenn er eine solide Grundlage für eine neue Beziehung schaffen wollte, dann musste Chris jetzt bei der Wahrheit bleiben.

"Nicht ganz. Ich hab' ihn heute Abend herausgefordert."

Der Blick… Eddies Blick. Er war entsetzt, ungläubig und fast schon ein klein wenig ängstlich.

Kein Wunder, ich bin nicht mehr der Chris, den du noch vor einem Jahr kanntest. Aber ich will dich immer noch. Mehr als jemals zuvor.

"Sag, dass das nicht wahr ist. Das kann doch nicht wahr sein? Ich kann vielleicht damit leben, dass du kämpfst, um dein Leben zu verteidigen, aber ich kann nicht glauben, dass du zum Killer geworden bist."

"Ich bin kein Killer. Das ist das letzte, was ich werden will, aber Bechthold hat mir keine andere Wahl gelassen, als ihn zu fordern."

"Ach, ja? Warum denn?"

Dieser vorwurfsvolle Ton. Chris weigerte sich, wegen Bechthold ein schlechtes Gewissen zu haben.

Der Kerl hat bekommen, was er verdient hat. Bin ich froh, dass er in meinem Kopf Ruhe gegeben hat.

"Weil er sich statt mir einen feigen unsterblichen Schwulen und seinen Lover zur Brust nehmen wollte. Und das konnte ich nicht zulassen."

Eigentlich wollte Chris es Eddie gegenüber netter verpacken, besonders wo er Eddies Nerven schon bis zur äußersten Grenze belastet hatte. Aber er wusste einfach nicht wie.

Und Eddie schien auch nicht verstehen, was Chris meinte. Denn sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Deswegen sah sich Chris genötigt, das ganze zu erklären.

"Hast du dich noch nicht gefragt, woher Thomas mich kennt? Und warum er ausgerechnet auf den Ex- seines Freundes hört?"

Langsam schien es zu Eddie vorzudringen, aber er wollte es wohl nicht glauben, denn er schüttelte den Kopf.

Chris beugte sich zu ihm und nahm seine Hand.

"Thomas ist genauso unsterblich wie ich es bin. Nur einige Jahre älter und erfahrener. Jedenfalls kann er gut Kämpfen aus dem Weg gehen."

"Das kann ich einfach nicht glauben. Das ist doch nur ein schlechter Traum."

"Ist es nicht. Leider. Jedenfalls sind Thomas und Bechthold schon mal aufeinandergetroffen und Bechthold meinte, eine offene Rechnung mit ihm zu haben. Er hat es mir brühwarm erzählt, als wir uns zufällig im Restaurant getroffen haben und er mal wieder keine Chance hatte, mich zu fordern. Und er wollte nicht nur Thomas sondern auch dich. Und das konnte ich nicht zulassen."

Mehr gab es dazu nicht zu sagen und außerdem musste sich Chris langsam auf den Weg machen, wenn Kallenbach nicht misstrauisch werden sollte. Er ließ Eddies Hand los, stand auf und ging in den Flur. Es gab nur noch den Parker, den er anziehen konnte. Alle anderen warmen Sachen hatte er in den letzten Wochen ruiniert. Er zog ihn über und ging zurück in die Küche. Eddie hatte sich nicht gerührt und sein Blick war ins Leere gerichtet. Bei diesem Anblick bekam Chris ein schlechtes Gewissen. Denn eigentlich durfte Eddie jetzt nicht allein bleiben. Aber es ging nicht anders.

"Ich würd' gern' noch bleiben, aber wenn ich jetzt nicht verdammt vorsichtig bin, dann besteht die Gefahr, für sehr lange im Knast zu landen. Und das will ich nicht. Bleib' solange du möchtest. Ich erwarte nicht jetzt und sofort eine Antwort, ob du mit mir einen neuen Anfang wagen willst. Schließlicht kann ich dir keine endgültige Sicherheit geben, aber wenn du das Risiko eingehen willst... Ich habe alle Zeit der Welt und werde auf dich warten."

Eddies Nicken war für Chris das Zeichen zum Aufbruch. Er berührte ihn kurz an der Schulter, dann drehte er sich um und ging.

Als Chris die Haustür öffnete, wusste er plötzlich, was Kallenbach gemeint hatte. Es lagen fast zehn Zentimeter Neuschnee.