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Frankfurt, 22. Januar 2004, 22.15 h

Die letzten Stunden waren für Chris das absolute Chaos gewesen. Für die Fahrt zum Palmengarten hatte er fast eine Stunde gebraucht und da hatte die Spurensicherung bereits ihren Job gemacht. Die Leiche lag im Zinksarg und überall waren Markierungen auf dem Boden angebracht.

Die Parkanlage sah durch die Schneedecke ganz anders aus als noch vor wenigen Stunden. Chris wusste nicht, was er erwartet hatte, als er wieder zum ‚Tatort' zurückkehrte, bestimmt nicht diese Gleichgültigkeit.

Aber das war in einem anderen Leben. Schließlich bin ich zwischendurch gestorben.

Chris hatte Kallenbach, der ihn schon wieder mit seinen Kommentaren über die Gefährdung der laufenden Ermittlung nervte, ignoriert und sich dem ermittelnden Beamten, Kurt Matthiesen, den Chris noch nie gesehen hatte, vorgestellt und ihm seine Visitenkarte in die Hand gedrückt. Danach hatte er Matthiesen gebeten, den Namen des Toten vorerst geheim zu halten und sich zu melden, wenn es erste Erfolge bei den Ermittlungen gab. Dieser war damit einverstanden und informierte Chris, dass bei der Spurensuche nicht viel gefunden worden war. Der Kripobeamte war der Meinung, dass es wahrscheinlich noch nicht mal verwertbare DNA-Spuren gab. So sehr sich Chris auch insgeheim darüber freute, er gab sich unzufrieden, müde und sehr schlecht gelaunt.

Dann war Chris mit seinem Wagen ins Präsidium gefahren, das Dreamteam hatte er dazu verdonnert mitzukommen - sie fuhren in ihrem Dienstwagen hinterher. Unterwegs hatte er Helen, Engin, Mike und Carola aus dem Bett geklingelt und zur Arbeit beordert. Wenn sie den Rest der Mafia festnehmen wollten, dann mussten sie handeln, bevor Bechtholds Verschwinden bemerkt wurde.

Die Privatadresse von Carstensen von der Staatsanwaltschaft hatte Chris auch. Er beauftragte Kallenbach, den Staatsanwalt zu wecken, damit dieser die Haft- und Durchsuchungsbefehle gegenzeichnen konnte. Damit würde er einige Stunden beschäftigt sein. Chris hatte noch sehr laut und deutlich Kallenbachs Kommentar über die Beförderung im Ohr und verpasste seinem ‚Lieblingskollegen' nun die passende Retourkutsche. Kallenbach über diesen Auftrag überhaupt nicht glücklich, und versuchte sich zu weigern, aber als Chris erwähnte, dass er dafür sorgen würde, dass sein Einsatz lobend im Abschlußbericht vermerkt würde, zog er doch mit Deichsel von dannen.

Bis die anderen auftauchten, checkte Chris, was am wichtigsten war. Denn in der kurzen Zeit, die sie jetzt zur Verfügung hatten, war es absolut unmöglich, die geplanten fast hundert Verhaftungen und etwa fünfzig Hausdurchsuchungen so zu koordinieren, dass niemand vorher gewarnt wurde. So musste er Prioritäten festlegen.

Als um sechs Uhr Helen auftauchte und mit in die Arbeit einstieg, da merkte Chris, wie gut sie sich in den Fall eingearbeitet hatte. Sie war ein richtiger Profi und stellte keine Fragen, sondern fing an, die anderen Behörden zu kontaktieren und Beamte für die Einsätze anzufordern. Auch war sie mit der Dringlichkeit einverstanden, mit denen die einzelnen Verhaftungen vorgenommen werden sollten.

Kurz danach tauchte Engin mit den anderen auf und das organisierte Chaos begann. Um zehn Uhr hatten sie von Carstensen alle notwendigen Bewilligungen und um elf Uhr fiel der Startschuss.

In dieser Hektik gab es keine Zeit für private Gespräche, doch Chris fing einige fragende Blicke von Engin auf, die er mit einem Schulterzucken beantwortete.

Sie konnten bis auf einen alle Personen, die sie für die Führungsriege hielten, festsetzen. Einzig Sergej Gesse war wie vom Erdboden verschwunden.

Die Aktion blieb von der Presse nicht unbemerkt. Da das Telefon nicht mehr still stand und auch immer mehr Reporter auftauchten – wobei sich Chris fragte, woher die wussten, dass der Zoll für die Aktion zuständig war – wurde für fünf Uhr nachmittags eine Pressekonferenz anberaumt.

Chris legte den Termin so, dass er gleichzeitig ein Gespräch mit Carstensen hatte, so dass er nicht anwesend sein konnte. Wie besprochen überließ er Helen, die dafür die nötige Routine hatte, die Verantwortung für den Auftritt. Engin, Mike und Kallenbach ließ er auch die Show mitmachen, gab ihnen aber die Anordnung, dekorativ auszusehen und die Klappe zu halten. Krause war als Abteilungsleiter natürlich auch mit dabei. Dafür schickte die Staatsanwaltschaft ihren eigenen PR-Mann.

Die Besprechung mit dem Staatsanwalt war nicht halb so schlimm, wie Chris befürchtet hatte. Carstensen machte ihm keine Vorwürfe, sondern stimmte mit ihm die weitere Vorgehensweise ab. Chris empfand es als großes Kompliment, denn eigentlich war Helen die Federführende für die Koordination.

Nach der Pressekonferenz verabschiedeten sich Kallenbach und Deichsel. Da sie schon die ganze Nacht Dienst gehabt hatten, waren sie mehr als nur fertig.

So wenig Chris die beiden leiden konnte, das, was sie heute gemacht hatten, zeigte, wie professionell sie sein konnten, und er war bereit, ihnen eine gute Beurteilung zu schreiben, aber er glaubte, dass Kallenbachs größte Belohnung der Auftritt vor der Presse war.

Und seine Frau wird mehr als glücklich darüber sein.

Aber auch danach ließ ihnen der Job noch keine Ruhe. Schließlich mussten sie noch die Unterlagen für die Haftprüfung vorbereiten, damit nicht der Falsche versehentlich freigelassen wurde.

Bis um zehn Uhr abends waren alle damit beschäftigt. Dann verabschiedeten sich Carola, Helen und Mike. Nur Engin war noch nicht weg, war aber mal wieder am Kopierer, um einige Unterlagen zu vervielfältigen.

Chris blickte sich um. Das Büro sah aus wie ein Schlachtfeld. Er hatte zwischendurch gerade eben mal Zeit gehabt, eine Pizza zu essen und literweise Kaffee zu trinken, aber bestimmt nicht, um aufzuräumen. Wasser für die Kaffeemaschine war auch keines mehr da.

Noch stellte sich keine Müdigkeit ein. Deswegen stand Chris auf und ging zur Toilette frisches Wasser holen. Als er sich im Spiegel betrachtete, war er überrascht. Denn das Gesicht, das ihn da anschaute, sah nicht wirklich erschöpft aus.

Dabei hab' ich in den letzten sechsunddreißig Stunden keinen Schlaf bekommen, bin nur ein Mal gestorben. Ich bin wirklich unsterblich.

Er zog eine Grimasse und ging wieder ins Büro.

Als er zurück war, saß Engin wieder an seinem Platz. Ihm konnte man ansehen, dass er seit fast sechzehn Stunden auf den Beinen gewesen war. Er hatte die Kopien auf Chris' Schreibtisch gelegt und streckte alle Viere von sich. Er drehte noch nicht mal den Kopf, als Chris reinkam.

"Du solltest zu Hause in deinem Bett schlafen, Engin, und nicht hier. Du weißt doch, Büroschlaf ist ungesund."

"Danke für den Tipp. Ich werde auch gleich gehen. Muss nur wach genug werden, um autofahren zu können. Und wie fühlst dich?"

"Ich schein' noch eine ziemlich hohe Adrenalindosis im Blut zu haben, jedenfalls fühle ich mich ausgelaugt, bin aber noch ziemlich aufgedreht."

"Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?"

Die Kaffeemaschine lief und Chris setzte sich auf Engins Schreibtisch.

"Ich war zwischendurch mal für 'ne Stunde außer Gefecht gesetzt. Und bevor du noch weiter fragst: Eddie weiß zwar Bescheid, aber ich habe keine Ahnung, wie er sich entscheiden wird. Er muss den ganzen Kram noch verdauen und ich werde ihm die Zeit lassen, die er braucht. Auch wenn ich am liebsten sofort zu ihm möchte. Und frag bitte nicht weiter, sonst werd' ich noch wahnsinnig."

Die Sehnsucht, alles stehen und liegen zu lassen und zu Eddie zu fahren, war sehr groß, aber Chris wusste, dass Eddie dies nicht vertragen konnte. Deswegen ließ er es bleiben.

Und außerdem werd' ich gleich in die Falle gehen und schlafen. Ich hab' keinen unendlichen Akku.

"Hab' ich nicht vor. Bin viel zu fertig dafür. Ich trink noch 'ne Tasse Kaffee und bin dann weg. Und außerdem ist das eure Sache."

Dazu konnte Chris nichts mehr sagen.

Die nächsten Minuten saßen sie schweigend zusammen. Nur die Kaffeemaschine machte Lärm. Als der Kaffee durch war, stand Chris auf und füllte zwei Tassen, von denen er eine Engin reichte.

Dieser nippte kurz, bekam einen Hustenanfall und schaute dann Chris an.

"Boah, du willst mir wohl eine Koffeinvergiftung verpassen. Mann, der ist ja noch stärker als sonst."

"Du wolltest doch wach werden..."

"Ja, das bin ich jetzt."

Auch Chris hatte inzwischen getrunken, empfand den Kaffee aber nicht als so schlimm. Engin hatte scheinbar auch nur eine Show abgezogen, denn er leerte die Tasse in einem Zug, stand auf und füllte sie noch mal.

"Weißt du, was heute total untergegangen ist?"

Wenn Engin Chris so ansah, dann hatte er was vor. Und Chris ahnte schon, was er wissen wollte.

"Ja, du meinst Bechthold. Matthiesen hatte sich heute Nachmittag einmal kurz bei mir gemeldet. Die erste Obduktion ist gelaufen. Man hat ihm den Kopf abgeschlagen und ihm mehr oder weniger gleichzeitig ein Messer ins Herz gerammt. Was für 'ne Art zu sterben. Da wollte wohl jemand auf Nummer sicher gehen."

Auch wenn sie unter sich waren, Chris wollte kein Risiko eingehen. Soweit es den Zollbeamten Christoph Schwenk anging, war Bechthold das Opfer in einem ziemlich abgefahrenen Mordfall. Und das war die beste Möglichkeit, Engin zu informieren. Chris' Partner schien das Spiel kapiert zu haben und spielte mit.

"War das denn einer oder mehrere Täter?"

"Das konnte Matthiesen nicht sagen. Das Ganze ist laut seiner Aussage gestern gegen elf passiert und da es schneite wie Sau..."

"... gibt es keine verwertbaren Spuren."

"Du sagst es."

"Haben die verwertbare DNA gefunden?"

Diese Frage plagte Chris auch. Denn wenn sie etwas fanden, dann war er zwar im Moment nicht betroffen – schließlich wurde er erst überprüft, wenn sie ihn verdächtigen sollten – aber für die ferne Zukunft konnte es ein Problem werden.

"Da sind sie noch dran. Bisher gibt's auch noch keine Zeugen. Die Jungs vom Wachdienst, die die Polizei alarmierten, sind aber eher zufällig über die Leiche gestolpert. Die waren da, weil irgendein Idiot das Gewächshaus zerstört hat. Ob das allerdings im Zusammenhang mit dem Mord steht, ist auch noch die Frage."

In Engins Gesicht arbeitete es. So wie er aussah, versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, konnte es aber nicht greifen. Chris kannte den Ausdruck, das passierte Engin hin und wieder. Meistens dauerte es ein, zwei Tage und dann fiel es ihm garantiert zu einem absolut unpassenden Zeitpunkt wieder ein.

Im Gegensatz zu seinem Partner wusste Chris, dass Engin sich an den Mord an Jade Lesage zu erinnern versuchte, aber er wollte nicht, dass Engin dies aussprach.

Denn falls die Polizei irgendwann herausfand, dass es ein Zusammenhang gab zwischen den seltsamen Lichtblitzen, den Geköpften und der Tatsache, dass solche Morde schon seit Jahrhunderten – nein, Jahrtausenden – passierten, würde die Jagd auf Unsterbliche losgehen.

Irgendwann finden die es raus. Garantiert, aber je später, um so besser.

So beschränkte sich Chris darauf, Engin einen leichten Tritt vor das Schienbein zu geben und ihn warnend anzuschauen.

Die einzige Reaktion war ein leichtes Senken des Kopfes. Dann streckte sich Engin noch einmal und stand auf.

"Komm, Chris, mach Feierabend. Gib mir deine Tasse und fahr' deinen Computer runter. Wenn ich vom Spülen zurück bin, dann gehen wir. Morgen früh müssen wir anfangen, die Ergebnisse der Hausdurchsuchungen auszuwerten."

Währenddessen nahm Engin Chris die Tasse aus der Hand, nahm die halbleere Kaffeekanne und ging zur Tür.

"Oh ja, mein Lieblingsjob."

Scheiß Schreibtischjob. Ich hasse das. Werd' ich noch mal davon wegkommen?

Doch Engin war schon zur Tür raus und hatte den Kommentar nicht mitbekommen.

Im Gegensatz zu Engin hatte Chris keine Lust, nach Hause zu fahren. Denn was sollte er dort? Ohne Eddie würde die Wohnung wieder so leer und kalt sein. Genau so, wie sein Leben jetzt war. Chris hoffte, dass Eddie sich für eine gemeinsame Zukunft entscheiden würde.

Auch wenn du mich zappeln lassen willst, lass dir nicht zuviel Zeit, ich ertrage die Ungewissheit nicht.

Frankfurt, 16. April 2005, 19.00 h

Direkt gegenüber von Eddies Werkstatt war ein Parkplatz frei. Chris parkte ein und stellte den Sitz seines Audis bequemer. Denn es war noch Licht im Büro und Chris meinte, Eddies Wuschelkopf durch das Fenster erkennen zu können.

Mehr als flüchtige Blicke hatte er die letzten Monate nicht von Eddie zu sehen bekommen. Dieser weigerte sich beharrlich, auch nur in Chris' Nähe zu kommen. Es war nicht wirklich so, dass Chris etwas anderes erwartet hatte, aber nachdem sich Eddie den ganzen Februar nicht gemeldet hatte, ergriff er die Initiative.

Wann immer es sein Dienst zuließ, suchte er sich einen Parkplatz in der Nähe der Werkstatt und wartete, bis Eddie Feierabend machte und wegfuhr. Dann machte er sich auch auf den Heimweg. Bisher hatte Eddie nicht darauf reagiert, aber Chris war sich sicher, dass sein Warten nicht unbemerkt blieb.

Um sich nicht ganz so einsam zu fühlen, hatte er den Teddy, der bisher einen festen Platz in seinem Bett gehabt hatte, mitgenommen. Er saß jetzt auf dem Armaturenbrett und grinste ihn aufmunternd an.

Normalerweise arbeitete Eddie mindestens bis zehn Uhr abends. Heute würde Chris aber nicht so lange bleiben können. Um kurz nach neun ging sein Flug und Adam hatte angekündigt, Chris am Flughafen zu treffen. Es war das erste Mal seit mehreren Monaten, dass sie sich wieder sehen konnten. Adams Aufenthalt in Amerika hatte länger gedauert. Aus den wenigen Telefongesprächen hatte Chris herausgehört, dass er nicht nur Ärger mit einem anderen Unsterblichen, sondern auch mit der Polizei hatte. Aber Adam hatte es geschafft, sich herauszureden, und flog jetzt auch nach Paris.

Die letzten Monate waren ruhig und ereignisreich zugleich gewesen. Sein Privatleben war ohne Eddie einfach nur zum Einschlafen. Nur Amanda war im Februar auf eine Stippvisite vorbeigekommen. Chris war nicht glücklich über ihr Auftauchen gewesen, schließlich lief in der Kunsthalle eine Ausstellung mit sehr wertvollen Exponaten.

Sie hatte aber kein Interesse gehabt, sondern wollte wissen, wie es ihm ging. Schließlich hatte sie durch ihre Quelle – Joe Dawson – erfahren, dass er seinen ersten Kampf überlebt hatte. Chris war mit ihr essen gegangen und hatte ihr alle Details über die Auseinandersetzung verraten. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint, dass sie bei dem Lehrer diesen Kampfstil irgendwie erwartet hatte. Spät am Abend brachte er sie in ein Hotel und verabschiedete sich vor ihrem Zimmer mit einem Handkuss, ohne sich um ihren Schmollmund zu kümmern.

Auf dem Rückweg in seine Wohnung hatte er wieder einmal gemerkt, dass er verfolgt wurde. Seit Bechtholds Tod hatten sich die Buchhändler an seine Fersen geheftet. Chris hatte nicht vor, sie loszuwerden. Schließlich taten sie nur ihren Job und er hatte kein Interesse daran, ihnen diesen zu erschweren – vorausgesetzt, sie waren nicht im Weg.

Bernhard wurde tatsächlich zum Beobachter ausgebildet. Er hatte sich vor einigen Wochen bei Chris gemeldet. Es schien ihm an der Akademie gut zu gefallen und Joe war für ihn eine Art Mentor geworden. Da die Beobachter ihn auch noch gut bezahlten, schien er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zufrieden zu sein, zudem er an der Akademie auch noch ein nettes Mädchen kennen gelernt hatte.

Ansonsten hatte Chris einen Rhythmus von Arbeit, Training, Eddie beobachten und schlafen gefunden. Sein Privatleben war schlicht und einfach langweilig.

Anders war es auf der Arbeit. Auch wenn alle Akten inzwischen bei der Staatsanwaltschaft lagen und Chris nichts mehr damit zu tun hatte, rief man ihn immer wieder an, weil es doch noch irgendwelche Fragen gab. Zusätzlich hatten Chris und Engin einen neuen Fall, der viel Laufarbeit erforderte. Chris war glücklich darüber, dass er nicht mehr den ganzen Tag im Büro saß. Auch wenn es wieder einmal Überstunden bedeutete. Es war aber nicht so schlimm wie noch vor einigen Monaten.

Mike, Carola, Deichsel und Kallenbach saßen wieder bei der Kripo in ihren alten Büros. Alle hatten einen positiven Vermerk in ihren Akten und Mike und Carola standen kurz vor ihrer Beförderung.

Chris hatte die Benachrichtigung über seine eigene Beförderung vor einigen Tagen in einem hochoffiziellen Schreiben bekommen. Engin hatte ihm freudestrahlend auch sein Beförderungsschreiben gezeigt. Die offizielle Feier war aber erst für die nächste Woche geplant. Chris hoffte, sich vor dem Fototermin drücken zu können, obwohl Krause ihm angedroht hatte, ihn persönlich vor die Kamera zu zerren.

Diese ganze Sache hatte nur einen Nachteil. Wenn sie den aktuellen Fall abgeschlossen hatten, dann würden sie wahrscheinlich für die nächsten Jahre im Büro versauern. Aber das bedeutete für Chris weniger Risiken und darüber würde Eddie bestimmt glücklich sein, also beschwerte er sich nicht darüber.

In Sachen Bechthold gab es nichts Neues. Die Mordkommission hatte Chris nicht in Verdacht, Bechthold umgebracht zu haben. Auch wenn es Phantomzeichnungen von zwei Männern gab, die sich im ‚Dorade' mit Bechthold unterhielten.

Glücklicherweise hatte seine Paranoia Engin angesteckt, der dort den Tisch unter einem falschen Namen reserviert hatte. Die Bilder hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm und Engin, so dass er sie an sämtliche Beamte weitergab, die Bechthold observiert hatten. Natürlich brachte das keine verwertbaren Ergebnisse. Deswegen wurde diese Spur nicht weiter verfolgt.

Aufgrund der Todesart, die fast auf eine Hinrichtung schließen ließ, tendierte Matthiesen dazu, dass Bechthold von der japanischen Mafia ermordet worden war, aber über die genauen Umstände tappte er im Dunkeln.

Gesse, der immer noch nicht aufgetaucht war, gehörte auch zu den Verdächtigen, aber dafür lagen auch keine Beweise vor. Alles in allem standen die Chancen gut, dass der Mordfall Georg Bechthold nicht aufgeklärt werden konnte.

Und wenn sich Eddie für mich entscheidet, dann stände einem glücklichen und zufriedenen Leben nichts mehr im Wege.

Doch das tat dieser ja nicht und deswegen saß Chris im Auto und wartete auf eine Reaktion. Eine halbe Stunde war schon vergangen und langsam wurde Chris langweilig. Seine gepackte Tasche lag im Kofferraum. Aber da es mal wieder regnete, hatte Chris keine Lust, auszusteigen und sein Laptop herauszuholen. Deswegen ließ er es und suchte im Radio nach einem Sender, der ein etwas weniger einschläferndes Musikprogramm hatte. Als er nichts fand, stellte er es aus. Chris wollte noch eine halbe Stunde warten und dann zum Flughafen fahren, egal, ob Eddie ihn bemerkt hatte oder nicht.

Als die Beifahrertür kurz darauf mit einem Ruck geöffnet wurde, blickte Chris irritiert zur Seite. Noch verwunderter war er, als er sah, dass es Eddie war.

Hat der verrückte Kerl doch glatt den Hinterausgang genommen, nur um mich zu überraschen.

"Komm rein und setz' dich. Draußen ist es nass."

Erstaunlicher Weise folgte Eddie seiner Aufforderung und setzte sich auf den Beifahrersitz. Doch statt zu sagen, was er auf dem Herzen hatte, schwieg er und starrte aus der Frontscheibe.

Zum ersten Mal seit Monaten hatte Chris die Chance, Eddie aus der Nähe zu betrachten. Sein Geliebter hatte sich verändert. Um die Mundwinkel zogen sich einige scharfe Linien und die Lachfältchen um die Augen waren verschwunden. Er wirkte nicht mehr wie ein Lausbub, der nie erwachsen werden wollte, sondern er war hart und verbittert. Und Chris ahnte, dass er selbst der Grund dafür war.

"Warum?" Eddie brach das Schweigen.

"Weil ich so egoistisch bin, dass ich mit dir zusammen leben will. Ich liebe dich."

"Und du hast mich vor über einem Jahr verlassen, weil du eine zu große Gefahr für mich darstellst, richtig?"

Was wollte Eddie? Chris wusste es nicht, fühlte aber Eddies Blick auf sich ruhen, der ihn aufforderte zu reden.

"Ich dachte es, ja."

"Und welchen Grund wirst du dir beim nächsten Mal suchen, um mich wieder zu verlassen?"

"Eddie!"

Wie kann er nur so was von mir denken?

Seine Finger fuhren durch die Haare.

"Ich werde dich nicht mehr verlassen, nur wenn du dir wirklich sicher bist, es nicht mehr mit mir auszuhalten. Ich habe dich im letzten Jahr so vermisst, das kannst du mir glauben."

"Ja und? Und was ist, wenn dich irgendeiner von deinen unsterblichen Kumpels zum Kampf fordert und du nicht wiederkommst, weil er dich einen Kopf kürzer gemacht hat? Dann steh' ich auch alleine da. Und ich kann nicht mit dieser ständigen Bedrohung leben."

Eddies Stimme war so unendlich bitter geworden. Dann drehte er sich zu Chris und sah ihn an.

"Schau dir doch an, was aus mir geworden ist. Ich würde es nicht mehr überstehen, wenn du mich noch einmal verlassen solltest, und deswegen ist es besser, wenn du nicht mehr in meine Nähe kommst. Ich will nicht mehr so verletzt werden. Es tut mir leid, Chris, aber meine Antwort ist nein. Es kann keinen neuen Anfang mehr geben."

Eddie beugte sich vor und öffnete die Tür. Chris war durch den Ausbruch zu geschockt, um zu reagieren. Er sah nur, wie gerade all seine Wünsche auf einmal zerplatzten.

"Es ist richtig, was ich damals sagte: Wenn die Götter besonders grausam sind, dann erfüllen sie deinen sehnlichsten Wunsch. Mich haben sie damit zerstört."

Dann war Chris alleine im Auto. Von Eddie blieb nichts zurück. Noch nicht mal ein Geruch.

Er vergrub den Kopf in seine Hände und versuchte gar nicht erst, das Schluchzen zu unterdrücken.

Aus, vorbei, nie wieder.

Verzweifelt schlug er mit seiner Hand auf das Lenkrad. Ein empörtes Brummen des Teddys brachte Chris wieder zurück. Als er hochblickte, hatte er den Eindruck, dass der Bär ihm zuzwinkerte. Fast so, als ob er ihm etwas sagen wollte.

Chris fing er an, über das, was Eddie ihm gesagt hatte, nachzudenken. Und dann war er nicht mehr bereit, Eddies Abfuhr einfach so hinzunehmen.

Schließlich liebte Eddie ihn auch, also konnte ein Versuch nicht schaden. Chris nahm den Teddy, steckte ihn in seine Jackentasche, stieg aus und ging zur Werkstatt. Die Außenbeleuchtung war an und die Tür war abgeschlossen. Doch auf dem Betriebsgelände stand noch Eddies Kombi.

Tut mir leid, aber du legst dich gerade mit einem Bullen an, damit hältst du mich nicht auf.

Das Schloss knackte Chris innerhalb von zwei Minuten. Dieses Mal ging die Tür völlig geräuschlos auf. Kein verräterisches Knarren, nichts.

Auf leisen Sohlen ging Chris zu Eddies Büro. War er dort sah, erschütterte ihn zutiefst.

Eddie saß nicht auf seinem uralten, unheimlich bequemen Bürostuhl, nein, er hatte sich unter das Fenster gehockt und die Beine an die Brust gezogen. Er hatte kein Licht angemacht. Nur die Außenlampen brachten eine diffuse Beleuchtung. Neben Eddie sah Chris eine Glutkuppe. Es war wohl eine Zigarette, die dieser in der rechten Hand hielt. An dem Geruch erkannte Chris, dass Eddie irgendetwas eingemischt hatte.

Verdammt, das hat er doch schon seit Jahren nicht mehr getan. Mike hatte damals die überzeugenderen Argumente.

Hilflos stand Chris vor dieser Situation. Eddie sah so etwas von fertig aus und schien noch nicht mal mitbekommen zu haben, dass Chris da war. Die einzige Bewegung war seine Hand, die er hin und wieder zum Mund führte, um an der Zigarette zu ziehen. Ansonsten hatte er sich scheinbar in eine andere Welt zurückgezogen.

Wie soll ich zu ihm vordringen? Verdammt, das kann ich nicht, bei solchen Gefühlsdingen geht doch bei mir immer alles schief.

Auch wenn Chris es immer abgestritten hätte, falls ihn jemand darauf angesprochen hätte: Eddie war trotz seiner Verrücktheiten der ruhende Pool in ihrer Beziehung. Er hatte Chris immer die nötige Ruhe gegeben, den Alltag zu überstehen, und war für Chris die Schulter, an die er sich anlehnen konnte. Etwas, das er bei seinen Freundinnen vergeblich gesucht hatte.

Und Eddie so da sitzen zu sehen... Chris wusste nicht weiter. Doch wenn er sich jetzt umdrehte und ging, dann würde er seinen Geliebten für immer verlieren. Und das wollte er nicht.

Doch wenn er etwas Falsches sagte, dann würde er ihn genauso verlieren. Schlimmer noch, so wie Eddie jetzt im Moment aussah, würde es ihn endgültig zerstören.

Aber es gab noch Dinge, bei denen keine Worte nötig waren. Chris ging zu Eddie, hockte sich zu ihm und zog ihn in seine Arme. Er hielt ihn einfach nur ganz fest. Von der Zigarette war nur noch ein kleiner Stumpen übrig, den er Eddie aus den Fingern wand und auf den Fliesen ausdrückte.

Entgegen Chris' Befürchtungen wehrte sich Eddie nicht dagegen. Aber das beruhigte Chris nicht. Ganz im Gegenteil. Er befürchtete, dass Eddie in eine andere Welt abgetaucht war und gar nicht mitbekam, was Chris da tat.

Es hielt ihn aber nicht davon ab, seinen Freund weiter zu halten. Schließlich würde die Wirkung der Droge irgendwann nachlassen und Eddie von seinem Trip runterkommen.

Die Minuten verrannen unendlich langsam. Die Außenbeleuchtung hatte sich schon längst automatisch abgestellt. Nur das Ticken der Uhr über dem Eingang ließ Chris erahnen, wie die Zeit verging. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei und im Scheinwerferlicht konnte Chris sehen, wie langsam sich der Zeiger vorwärtsbewegte.

Irgendwann fing Eddie an, sich zu einer Melodie, die nur er hörte, im Takt zu bewegen, aber nach wenigen Minuten hörte er wieder damit auf.

Es war schon fast Mitternacht, als Chris die Vibration seines Handys in seiner Hosentasche spürte. Er kam aber nicht schnell genug an den Apparat, weil Eddie mit seinem Gewicht auf ihm lag.

Verdammt, das ist Adam, der wartet sicher schon 'ne ganze Weile am Flughafen auf mich.

Als er das Handy endlich rausgepult hatte, bestätigte ihm die Nummer auf dem Display, dass tatsächlich Adam angerufen hatte. Statt zurückzurufen, schrieb Chris eine SMS, in der stand, dass er in Ordnung, aber immer noch in Frankfurt war und sich sobald wie möglich melden würde.

Er war nur einen Moment abgelenkt, aber ausgerechnet den suchte Eddie sich aus, um wieder zu sich zu kommen. Jedenfalls fing er an, sich unruhig in Chris' Armen zu bewegen.

Die Nachricht wurde noch abgeschickt, dann flog das Handy in irgendeine Ecke. Chris strich ganz vorsichtig über Eddies Haare, immer wieder, wie um ein unruhiges Kind zu besänftigen. Chris hatte keine Ahnung, wie er jemanden auf einem Trip beruhigen sollte. Er hatte damit überhaupt keine Erfahrung. Aber es schien zu wirken. Eddie wurde ruhiger, und zum ersten Mal an diesem Abend hatte Chris das Gefühl, dass Eddie die Berührung nicht nur akzeptierte, sondern auch genoss. Es war ein sehr friedlicher, fast schon magischer Moment, der für Chris nie zu enden brauchte. Er kuschelte sich etwas mehr an Eddie und inhalierte seinen Geruch. Da sich der Gestank des Drogencocktails verflüchtigt hatte, konnte Chris in dieser Mischung aus Motorenöl, Schweiß und ein Hauch von Aftershave, die unverwechselbar Eddies war, schwelgen.

"Das ist jetzt kein Traum mehr? Du bist wirklich bei mir?"

Eddie war wirklich wieder in die Gegenwart zurückgekehrt.

"Träumst du davon, wenn du high bist? Ist das der Grund, warum du Drogen nimmst? Das kannst du viel einfacher haben, ohne süchtig zu werden und deinen Körper zu zerstören."

Chris bemühte sich, seinen Tonfall ruhig zu halten. Es sollte sich auf keinen Fall so anhören, als ob er ihm Vorwürfe machen würde.

"Das macht mich aber auf eine andere Art und Weise kaputt. Es ist diese Ungewissheit, ob du den Tag überlebst. Das zerrt an meinen Nerven. Als du damals privat in Sachen Bechthold ermittelt hattest, da hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass dir irgendetwas passieren könnte. Besonders wie du im Urlaub verdeckt ermittelt hattest. Schließlich kenne ich dein Temperament. Und wenn ich daran denke, dass jetzt irgend so ein Typ auftaucht und dich zum Kampf fordert, nur weil ihr dieses dämliche Spiel habt..."

Wie Recht du hast.

Der Rest blieb aber unausgesprochen. Dafür kuschelte sich Eddie noch näher an Chris. Fast als ob er ihm unter die Haut kriechen wollte.

"Es gibt Möglichkeiten, den Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Ich muss nicht kämpfen. Was meinst du, wie Thomas überlebt hat? Glaubst du wirklich, dass er kämpfen kann? Ich bin auch Bechthold fast ein halbes Jahr erfolgreich aus dem Weg gegangen, und wenn ich weiß, dass du da bist, ist das noch ein Grund mehr, vorsichtig zu sein. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin nicht mehr der wilde Habicht. Es würde nur einige Auswirkungen auf unser Leben haben."

"Welche?"

"Wir müssten ständig bereit sein, unsere Zelte abzubrechen und in einer anderen Stadt neu anzufangen. Du solltest dir deswegen für deine Werkstatt einen Pächter suchen. Aber ich hatte schon immer den Traum, mit dir die Welt zu erobern. Ob Rio, New York, Tokio, Hongkong oder wo auch immer du hin willst, die Welt steht uns offen."

Dieser Gedanke gefiel Chris. Er hatte diesen Traum schon öfters gehabt, aber das reale Leben hatte ihnen bisher einen Strich durch die Rechnung gemacht.

"Solange wir nicht nach Hongkong fahren, hört sich das Ganze gar nicht mal so schlecht an. Aber was habe ich für Sicherheiten?"

Da war doch mal ein Urlaub in Hongkong gewesen, über den sich Eddie immer ausschwieg. Chris fragte sich, was da wirklich passiert war, dass Eddie eine derartige Aversion gegen die Stadt entwickelt hatte.

"Seit wann braucht Edgar Sänger, ehemaliger Kleinkrimineller und absolut verrückter und unmöglicher Kerl eine Sicherheit?"

"Weil eben jener Edgar Sänger seit einigen Jahren solide und erfolgreicher Unternehmer ist, mein lieber Chris. Ich habe nur überlebt, weil ich nicht zu viele Risiken eingegangen bin."

Gott, er hört sich ja genau so an wie Iris. Wo wird das noch enden?

Doch sie hatten es wirklich geschafft, dieses heikle Thema mit einem leichten Ton zu besprechen, von dem Chris immer geträumt hatte, doch er zögerte einen Moment, die nächste Frage zu stellen. Dann überwand er sich.

"Wärst du denn bereit, für mich dieses Risiko einzugehen?"

Zuerst schwieg Eddie. Chris hatte den Eindruck, dass er über diese Frage nachdachte.

"Erinnerst du dich an letztes Weihnachten?"

Das Billardspiel und unsere heiße Nacht?

"Wie sollte ich mich nicht daran erinnern. Obwohl es mir am nächsten Tag wie ein Traum vorgekommen ist."

"Nicht nur dir. Ich hatte mich am Nachmittag mit Thomas gestritten, ohne wirklich einen Grund zu haben. Einfach nur, weil ich die Erinnerung vom vorhergehenden Weihnachten in meinem Kopf hatte und es so weh tat. Weißt du, ich habe Thomas nicht geliebt, doch er war in den letzten Monaten mein Anker, der mich vor dem Verrücktwerden gerettet hatte. Im Gegensatz zu der Show, die ich damals mit Mike abgezogen hatte, war bei mir aber nicht die Spur eines schlechten Gewissens vorhanden..."

Wieder schwieg Eddie, doch auch Chris hielt seinen Mund, gab keinen Kommentar ab, und liebkoste Eddies Haare.

"Was ich sagen wollte... Als ich dich dann in derselben Nacht in der Kneipe gesehen habe, da wollte ich mir selbst beweisen, dass ich dich nicht mehr brauchte. Wollt' mich dir abgewöhnen. Und ein One Night-Stand so ganz ohne Gefühle, einfach nur Sex, schien mir der beste Weg. Aber da hast du mir einen Strich durch die Rechnung gemacht."

"Hey, die Nummer auf'm Klo, was war das?"

Bei dem Gedanken daran wurde Chris noch nachträglich rot. Er war kein Exhibitionist und würde es auch nie werden.

"Das war mehr als Sex, verdammt, du hast dich einfach so fallen lassen und mir rückhaltlos vertraut. Du hast dich einfach nicht so verhalten wie das Arschloch, das mich verlassen hatte. Und ich war verloren."

Das war mal wieder typisch Eddie. Er redete, aber eine wirkliche Antwort gab er nicht.

"Sorry, das wollt' ich nicht, aber ich hatte an dem Abend eine Konfrontation mit Bechthold und als du dann vor mir standest, da brauchte ich dich so sehr..."

Und auch ich hab' meine Weihnachtserinnerungen.

Sie schwiegen. Chris wusste nicht, wie er die richtigen Worte finden sollte, um wieder zum Thema zurück zu kommen. Die Stille empfand er allerdings nicht als unangenehm.

"Kann es sein, dass ich mich gerade wie meine Mutter angehört habe?"

So war Eddie. Er sagte nie das, was man erwartete.

"Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu überhören, besonders ‚mein lieber Chris' war Ton für Ton Iris."

"Stimmt, du hast damit ja Erfahrung."

"Nichts gegen deine Mutter, sie ist 'ne klasse Frau, aber wenn sie damit anfängt, könnt' ich sie gegen die Wand klatschen. Ganz so krass meine ich es nicht," setzte er nach diesen Worten erklärend hinzu.

„Denn wenn sie ‚mein lieber Chris' sagt, dann hat sie irgendetwas besonderes vor."

Chris konnte Eddies Lachen spüren und dann hörte er es auch.

Wie schnell doch die Stimmung umgesprungen ist. Wenn ich daran denke, wie verzweifelt ich war, weil er mir einen Korb gegeben hatte. Jetzt habe ich wieder Hoffnung.

Doch dann wurde Eddie wieder ernst.

"Ich liebe meine Mutter, ich liebe sie wirklich, aber ich habe mir geschworen, dass ich niemals so werde wie sie..."

Wieso sprach er nicht aus, was er andeutete? Eddie war für Chris wirklich ein Buch mit sieben Siegeln und doch fühlte er sich in seiner Gegenwart so glücklich, geborgen und unheimlich lebendig.

"Und was willst du verrückter Kerl mir damit sagen? Jetzt red' nicht so um den heißen Brei herum."

"Macht mir aber Spaß!"

"Klar, weil du glaubst, mich damit auf die Palme treiben zu können. Tut mir leid, aber ich hab' mich im letzten Jahr sehr verändert. So schnell pflück' ich keine Kokosnüsse mehr!"

"Schade, ich find's einfach nur niedlich, wenn du dich aufregst."

"Gut, dass ich das jetzt weiß. Ich bin nämlich nicht niedlich."

"Doch, das bist du."

"Bin ich nicht."

"Wohl!"

"Du Spinner!"

"Für dich immer."

Was gab es Schöneres, als seinen Geliebten in den Armen zu halten und sich mit ihm zu kabbeln? Chris wusste etwas Besseres, aber dafür brauchte er eine Antwort auf seine Frage. Er war nur froh, dass er am nächsten Tag keinen Muskelkater haben würde. Denn so lange, wie er jetzt schon auf dem Boden hockte...

Unsterblichkeit hat wirklich seine Vorteile, aber was bringt sie mir, wenn ich Eddie irgendwann verliere?

"Warum?"

Es lag wieder eine Ernsthaftigkeit in Eddies Stimme, die Chris aufhorchen ließ.

"Warum was?"

"Warum willst du so unbedingt mit mir zusammen sein? Du könntest andere haben. Diese Amanda scheint doch nicht abgeneigt zu sein und sie wird im Gegensatz zu mir nicht altern. Warum lässt du nicht locker?"

Chris überlegte, wie er es Eddie verständlich machen konnte, aber ihm fehlten die Worte. Doch dann kam ihm eine Idee.

"Egal, was ich darauf antworten würde, es wäre so rosarot und schnulzig, dass du es mir nicht glauben würdest."

"Und was, wenn ich es einfach nur hören will? Du hast mir schon gesagt, dass du mich liebst. Aber reicht es aus, um mich altern zu sehn? Irgendwann werde ich vielleicht auch noch krank und dann musst du mich pflegen. Willst du das wirklich?"

Seine rechte Hand hatte sich von Eddie gelöst und Chris' Finger fuhren jetzt durch sein Haar.

"Gut, wie du willst. Du bekommst deine Antwort. Ich liebe dich, nicht Amanda oder irgendeine andere Person. Ich hab zwar verdammt lang' gebraucht, um das zu merken, aber ich habe nicht vor, meine Meinung zu ändern. Ich wollte früher nur mit dir alt werden. Jetzt will ich soviel Zeit, wie es nur geht, mit dir verbringen. Ich bin nicht der Typ, der immer die passenden Worte findet und ich bin bestimmt nicht so romantisch verlangt wie Klaus oder Mike, aber du musst mir glauben, dass ich nur dich will."

Chris zögerte einen Moment, er wusste nicht, ob das reichte. Er entschied, dass es nicht genug war.

"Und wenn du irgendwann einmal alt und krank sein solltest, so what? Wenn ich nicht unsterblich geworden wäre, dann hätten wir eine Münze werfen können, wer irgendwann wen pflegt. Ich war mir der Tatsache schon lange bewusst. Reicht das oder willst du, dass ich auf Knien vor dir rutsche und einen Heiratsantrag mache?"

Der letzte Satz war raus, bevor Chris wirklich darüber nachgedacht hatte. Er hatte eigentlich nie vorgehabt zu heiraten, aber der Gedanke, durch einen Ring mit Eddie verbunden zu ein, hatte auf einmal etwas unheimlich Verlockendes, dafür würde er sogar stundenlang auf den Knien rutschen. Doch Eddie winkte ab.

"Die Vorstellung hat schon ihren Reiz, besonders die Stelle, wo du auf den Knien vor mir rutschst, aber lass mal, dafür lieg' ich zu gemütlich auf dir. Die Antwort genügt mir. Aber eine Frage hab' ich noch."

Beinah wäre ein genervter Seufzer über Chris' Lippen gekommen, aber er konnte es so gerade noch verhindern. Er konnte sich glücklich schätzen, dass Eddie überhaupt zuhörte.

"Was denn?"

"Wovon sollen wir denn leben, wenn wir die Welt unsicher machen?"

"Tja, wir werden wohl immer wieder arbeiten müssen. Ich habe nicht wirklich viel Geld angespart. Amanda hat mir zwar für eins ihrer Konten eine Vollmacht erteilt, aber ich bezweifle, dass du auf ihre Kosten leben möchtest. Aber ich denke nicht, dass es da Probleme geben sollte. Du als Schrauber und ich in der Security, die nehmen uns mit Kusshand."

"Und wenn nicht?"

"Du hast doch ein nettes Vorstrafenregister und Amanda hat mir viel beigebracht, und wenn alles schief läuft, dann musst du mich halt aus der Leichenhalle rausholen."

Wie es kam, dass Chris auf einmal auf dem Rücken und Eddie mehr oder weniger auf ihm lag, wusste er nicht. Er hatte nicht wirklich mit diesem Angriff gerechnet.

"Du verarschst mich. Der aufrechte und ehrliche Bulle Christoph Schwenk will auf einmal irgendwelche krummen Dinger drehen? Sag, dass es ein schlechter Scherz war, und ich lass dich los."

Zusätzlich hatte Eddie auch noch Chris' Hände gepackt und drückte sie über seinem Kopf auf den Boden. Wenn Chris es wirklich wollte, dann hätte Eddie keine Chance. Aber wieso sollte er das? So intensiv hatte er Eddie schon lange nicht mehr gespürt. Es fiel schwer, eine sinnvolle und logische Antwort zu geben.

"Es war kein Scherz. Ich hab' mich im letzten Jahr wirklich verändert. Und dazu gehört auch, dass ich zum Eigentum anderer Leute eine etwas andere Einstellung bekommen habe. Du kannst dich dafür bei Amanda und Adam bedanken."

Dass Eddie auf einmal lachend über ihm zusammenbrach, empfand Chris zwar als sehr angenehm, wusste aber nicht wirklich, was er davon halten sollte.

"Eddie! Erde an Edgar Sänger! Huhu! Was ist los mit dir?"

Aber Eddie krümmte sich in seinem Lachanfall. Chris war sich nicht sicher, ob dies nicht noch eine Folge des Drogenkonsums war. Deswegen hielt er einfach nur still. Es war ja auch wirklich angenehm, Eddie so zu spüren.

Mehr als nur angenehm. Scheiße! Chris, denk an was anderes, sonst bekommst du schneller einen Steifen, als du ‚Piep' sagen kannst.

"Ach, dir gefällt es also, was ich mit dir mache? Sag mal, hast du nicht irgendwo in deiner Hosentasche noch Handschellen, mit denen ich dich fesseln kann? Du schuldest mir noch was."

Warum musste Eddie nur in dieser Tonlage sprechen? Und warum tastete er jetzt mit einer Hand seinen Körper entlang?

"Du schuldest mir noch eine Antwort, Eddie."

"Ich habe sie dir schon längst gegeben."

"Formuliere sie bitte so, dass ich sie verstehe."

Dann spürte Chris, wie Eddie von ihm abließ und aufstand. Er ging zum Schreibtisch und machte die kleine Leselampe an. Dann kam er zurück und reichte Chris die Hand. Er nahm sie und zog sich hoch.

Eddie ließ ihn los, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wühlte in seinen Unterlagen. Und Chris wusste einfach nicht, wie er dieses Verhalten einschätzen sollte.

Bis Eddie fündig wurde und ihm einen Brief unter die Nase hielt.

"Was soll das?"

"Das ist ein Angebot, meine Werkstatt zu kaufen. Man hat mir zwei Millionen geboten. Ich hatte eigentlich vor abzulehnen, aber das werde ich nicht mehr tun. Ich werde jetzt den Preis noch etwas hochtreiben und dann verkaufe ich. Wenn ich dann meine Schulden abziehe, die ich immer noch habe, kommt schon ein ganz nettes Sümmchen zusammen."

"Nein, das kann ich nicht glauben."

"Doch, der arme kleine Kriminelle, der vor einigen Jahren zu stolz war, dich um Kohle anzupumpen, ist jetzt Millionär und weißt du was?"

"Das meinte ich doch gar nicht. Du hängst doch an der Werkstatt, du liebst sie!"

"Stimmt, aber ich habe gerade festgestellt, dass ich genau so geworden bin, wie ich es nie sein wollte, und es wird verdammt noch mal Zeit, das zu ändern. Ich wollte nie ein Spießer werden, der nur auf seine Sicherheit bedacht ist. Gib mir etwas Zeit, den Verkauf vernünftig über die Bühne zu bringen, und dann erobern wir die Welt. Ich kann überall an Autos schrauben."

Eddies Stimme war so lebendig und das Strahlen in seinem Gesicht war so intensiv. Chris konnte sein Glück einfach nicht fassen.

Er spürte, wie ihm der Brief wieder aus den Händen genommen wurde. Und dann wurde er mit sanfter Gewalt nach hinten gedrängt, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. Eddies Lippen an seinen Ohrläppchen und Hände, die gierig über seinen Körper fuhren. Er schien etwas zu finden, stutzte kurz und zog den Teddy aus der Jackentasche. Er löste sich kurz von Chris und setzte ihn mit einem Grinsen setzte so auf dem Tisch ab, dass er mit dem Rücken zu Chris saß.

"Du bist noch zu jung, um zuzuschauen, was ich jetzt mit Chris machen werde, sorry, mein Kleiner."

Was hast du vor? Der hat doch sonst immer zugeschaut!

Mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht drehte Eddie sich um und ging auf Chris zu. Er spielte es aus, dass er größer war und stützte sich mit seinen Händen an der Wand direkt neben Chris Kopf ab und schaute auf ihn hinab. Eben diese Wand bewahrte Chris davor, nicht auf den Boden zu rutschen, so wackelig wurden seine Beine. Dann beugte Eddie sich hinab und flüsterte in Chris' Ohr.

"Ich will zuerst nach Paris. Aber vorher, vorher wirst du mir verraten, wo du deine Handschellen hast. Du entkommst mir diese Nacht nicht."

Hab' ich auch gar nicht vor.

Die nächsten Jahre würden bestimmt nicht langweilig werden. Nicht mit Eddie an seiner Seite.

Fin

There's no time for us
There's no place for us
What is this thing that builds our dreams yet slips away from us

Who wants to live forever
Who wants to live forever...?

There's no chance for us
It's all decided for us
This world has only one sweet moment set aside for us

Who wants to live forever
Who wants to live forever?

Who dares to love forever?
When love must die

But touch my tears with your lips
Touch my world with your fingertips
And we can have forever
And we can love forever
Forever is our today
Who wants to live forever
Who wants to live forever?
Forever is our today

Who waits forever anyway?

Who Wants To Live Forever (May)

QUEEN