Kapitel 5
Inzwischen
war es Nachmittag und Charlies Fieber war stetig gesunken.
„Ich
denke er wird bald aufwachen.", sagte Jack, während er den
Verband entfernte.
„Danke, Jack.", sagte Claire.
„Geht
es Dir gut?", fragte er. „Wie kommst Du klar?"
„Es geht
schon.", antwortete sie nur. Sie wollte jetzt nicht mit ihm darüber
sprechen.
Jack nickte nur, scheinbar hatte er verstanden.
„Hör´
zu, ich werde jetzt zum Strand gehen, ich will nachsehen ob dort
alles in Ordnung ist. Kommst Du hier alleine klar?", fragte er
dann.
„Ja. Geh ruhig."
„Wenn er aufwacht, gib ihm noch
zwei Paracetamol. Und er soll liegen bleiben, sag ihm das."
„Ich
hoffe, er hört auf mich.", antwortete Claire.
„Keine
Sorge, er wird keinen großen Widerstand leisten. Wahrscheinlich
schläft er erst noch mal die ganze Nacht durch. Morgen wird es
dann schon schwieriger werden, ihm Bettruhe zu verordnen."
Claire
hatte sich ihr Tagebuch geholt und versuchte, die neuen Erinnerungen
niederzuschreiben und in eine Reihenfolge zu bringen. Manches war nur
vage, verschwommen, vor allem die zwei Wochen, die sie alleine mit
Ethan verbracht hatte. Sie war an einem kalten, dunklen Ort gewesen -
wahrscheinlich eine Höhle. Und er war immer da gewesen... keine
Minute hatte er sie allein gelassen. Alles, was er wollte, war das
Baby. Sie fragte sich, was mit ihr geschehen wäre, wenn die
Wehen eingesetzt hätten und sie das Kind dort bekommen hätte.
Hätte er ihr das Baby dann einfach genommen und sie zurück
gelassen?
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken
und sie atmete durch. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen.
Sie legte das Tagebuch zur Seite und dann sah sie, dass Charlie wach
war.
„Hey!", sagte sie und rückte näher. „Seit
wann bist Du schon wach?"
„Eine Weile.", antwortete er
müde. „Was ging Dir grade durch den Kopf?"
Claire
lächelte ihn matt an. „Ich habe mir Sorgen um Dich gemacht.",
log sie.
„Warum das?"
„Du hattest die letzten Tage sehr
hohes Fieber. Erinnerst Du Dich an gar nichts?"
Er schüttelte
den Kopf.
„Ich fühle mich nur als hätte mich ein Bus
überfahren. Und ich habe Kopfschmerzen..."
„Oh! Warte!"
Schnell nahm sie die beiden Tabletten aus einem Becher. Dann goss
sie ihm Wasser ein.
„Nimm´ die - das wird Dir helfen."
Ohne zu zögern, schluckte er die beiden Pillen.
„Jack
sagte, Du sollst viel trinken. Und liegen bleiben."
Charlie
nickte.
„Ich bin froh, dass es Dir besser geht.", sagte
Claire.
„Du siehst müde aus.", antwortete er. „Warst
Du etwa die ganze Zeit hier?"
Sie zögerte einen Moment,
doch dann nickte sie.
„Danke.", sagte er, dann schlief er
auch schon wieder ein.
„Gern geschehen.", flüsterte
Claire und strich ihm einige Haarsträhnen aus der Stirn.
„Für
Dich heißt das also ab jetzt, dass Du nicht mehr zum Früchte
sammeln gehst.", sagte Jack.
„Ach, komm´ schon. Wie
hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich genau dieses Insekt wieder
sticht?", fragte Charlie.
Er hatte, wie Jack vermutet hatte,
nochmals die ganze Nacht durchgeschlafen und am nächsten Morgen
fühlte er sich schon wieder so gut, um mit ihm eine Diskussion
anzufangen.
„Ich will nicht, dass Du noch mal mit Kate dort hin
gehst."
„Die Dinger fliegen wahrscheinlich überall
rum.", antwortete Charlie und grinste ihn an.
Jack versuchte
ein Lächeln zurück zu halten. Doch er schaffte es nicht.
„Wir reden später noch mal darüber!", gab er nur
zurück. „Und tu mir den Gefallen und bleibe heute noch liegen.
Wenn ich Dich herumlaufen sehe, dann schicke ich Locke zu Dir!"
„Schon verstanden.", antwortete Charlie.
Jack grinste und
machte sich wieder auf den Weg zum Strand.
Claire kam gerade
vom Wasserfall zurück. Sie hatte frisches Wasser dabei.
„Na,
was sagt er?", fragte sie und setzte sich.
„Dass er mir Locke
schickt, wenn ich aufstehen sollte."
„Recht hat er."
„Hey!", beschwerte er sich und lachte leise.
Claire
mochte sein Lachen. Sie betrachtete ihn kurz, doch dann wurde sie
wieder ernst.
„Ich wollte mit Dir über etwas sprechen.",
begann sie.
Er sah sie verwundert an. „Stimmt etwas nicht?"
„Als Du das Fieber hattest, hast Du im Schlaf gesprochen."
Er fuhr sich nervös durch die Haare. „Ach ja?"
„Was
ist zwischen Dir und Deinem Bruder vorgefallen?"
Sofort änderte
sich seine Mimik, und die aufgesetzte Unbeschwertheit, die sie schon
so oft bei ihm bemerkt hatte wenn sie ihm persönliche Fragen
gestellt hatte, war wieder da.
„Nichts - er hat damals die Band
verlassen. Wahrscheinlich habe ich ihm das nie wirklich verziehen.",
antwortete er.
„Charlie... bitte lüg´ mich nicht
an."
„Ich... ich kann nicht darüber sprechen Claire."
„Wovor hast Du so große Angst? Vertraust Du mir nicht?
Denn ich will Dir vertrauen, Charlie. Ich... ich will Dich kennen
lernen."
Er blickte zu Boden und schwieg.
Claire seufzte.
„Okay...", sagte sie dann leise.
Sie war gerade dabei
aufzustehen, als er doch anfing zu sprechen.
„Liam war
drogensüchtig.", sagte er, während er noch immer nicht zu
ihr aufsah, sondern den Boden musterte.
Claire setzte sich
wieder. „Das ist ja furchtbar!"
Charlie nickte.
„Als
wir mit der Band die ersten Erfolge hatten fing es an. Er trank immer
mehr, dann fing er mit den Drogen an.", erzählte er stockend
weiter.
Claire unterbrach ihn nicht.
„Eines Abends erschien
er nicht zur Bandprobe. Ich stellte ihn zur Rede. Er war total zu
gedröhnt und betrunken. Ich wollte, dass wir die ganze Sache
abblasen. Ich wollte raus aus der Band - und ich hoffte, er würde
dann auch mit den Drogen aufhören."
Er stoppte und wischte
sich über die Stirn. Claire legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Er
hat mich angeschrien und mir gesagt, dass ich zu nichts nutze sei...
wenn ich nicht in der Band wäre, wäre ich zu nichts zu
gebrauchen."
„Was hast Du dann getan?", fragte Claire.
Er
zögerte.
„Ich hatte damals nur ihn...", sagte er in
Gedanken versunken. „... und seine Drogen lagen überall herum.
Ich... ich weiß nicht wieso, aber ich habe dann damit
angefangen."
Claire schnappte hörbar nach Luft. Das hatte
sie nicht erwartet.
„Ich kann verstehen, wenn Du jetzt nichts
mehr mit mir zu tun haben willst. Wer will schon einen Junkie!",
sprach er schnell weiter. Er wagte es nicht, sie anzusehen. „Ich
wollte nicht, dass Du es weißt. Ich bin jetzt clean, Jack und
Locke haben mir geholfen."
Er starrte noch immer auf den Boden
und wartete.
Das erste Entsetzen war bei Claire gewichen - jetzt
fühlte sie nur noch eines für Charlie. Zuneigung. Er hatte
so viel durchgemacht...
Sie nahm sein Kinn und drehte seinen
Kopf, so dass er sie endlich ansah.
Sie konnte Tränen in
seinen Augen sehen.
Sie umarmte ihn und konnte seinen
Erleichterung deutlich spüren, er zitterte sogar.
„Es gibt
nichts wofür Du Dich schämen musst.", flüsterte sie
und verstärkte die Umarmung.
Eine Weile hielten sie sich
umschlungen, dann löste Claire sich und blickte ihm in die
Augen.
„Danke für Deine Ehrlichkeit.", sagte sie. „Ich
muss Dir auch etwas sagen... Ich erinnere mich an Ethan."
Charlie
zuckte zusammen.
„An alles?", fragte er vorsichtig.
„Nicht
ganz... aber an die Entführung. Ich weiß jetzt, was er
getan hat. Und... und Du..."
„Bitte - nicht!", unterbrach
er sie.
Er erinnerte sich also doch.
„Ich wollte Dir nur
sagen, dass ich es jetzt verstehe. Ich verstehe warum Du das getan
hast."
Sie wollte es nicht aussprechen - dass er ihn umgebracht
hatte.
Charlie starrte wieder den Boden an.
„Bitte
entschuldige. Ich will nur dass Du es weißt.", sagte sie.
Charlie nickte langsam. „Ich will mit niemandem darüber
sprechen, Claire."
Fortsetzung folgt
