Kapitel 6
„Vielleicht
hilft es aber.", sagte Claire leise und legte ihre Hand wieder auf
seinen Arm. „Mir würde es helfen, Charlie."
Er sah sie
kurz an, doch dann schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß
nicht was das bringen soll. Ich will das einfach nur vergessen."
„Das kannst Du aber nicht.", antwortete Claire. „Ich werde
es nie vergessen."
Charlie blickte wieder zu Boden.
Mit
einem Mal stand er auf und lief davon.
„Charlie!", rief
Claire ihm hinterher und folgte ihm, so schnell sie konnte.
Er
war im Dschungel verschwunden. Verdammt, warum war sie nur so
beharrlich gewesen?
„Charlie?", rief sie erneut.
Dann
hörte sie etwas rechts von sich und lief dorthin.
„Bitte
bleib´ stehen. Es tut mir leid!"
Dann sah sie ihn, er
lief immer weiter, weg von ihr. Sie rannte ihm nach.
Inzwischen
war er ein ganzes Stück voraus, dann verschwand er aus ihrem
Blickfeld.
Claire lief einfach weiter, sie musste ihn einholen.
Nach einer Weile konnte sie ihn immer noch nicht sehen. Sie blieb
stehen und sah sich um. Dann bemerkte sie, dass sie ein ganzes Stück
weiter gelaufen war als er - Charlie lehnte gegen einen Baum und er
sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben müssen.
Sie lief zurück.
„Setz Dich hin.", sagte sie.
Er
schüttelte den Kopf und winkte ab.
„Soll ich Hilfe
holen?", fragte Claire.
„Nein!", sagte Charlie.
„Das
wollte ich nicht!", sagte sie.
„Mir geht es gut.",
antwortete er stur.
„Nein, es geht Dir nicht gut! Sieh Dich
doch nur an."
Sie legte ihre Hand auf seine Stirn.
„Claire.",
sagte Charlie ernst und nahm ihre Hand weg. „Bitte hör´
auf damit."
„Was?", fragte sie verwirrt.
„Lass mir
etwas Zeit. Ethan... Ethan ist immer noch zu präsent. Ich... ich
kann noch nicht darüber sprechen."
Claire nickte langsam,
dann hörten sie beide, wie etwas oder jemand auf sie zukam.
Claire lugte hinter dem Baum hervor.
Es war Locke. Er
rannte auf sie zu.
Erleichtert trat Claire hervor. John
verlangsamte seinen Schritt und blieb vor ihr stehen.
„Was ist
passiert?", fragte er außer Atem. „Die anderen sagten,
Charlie sei weg gelaufen."
„Er ist hier.", sie zeigte
hinter den Baum und Locke vergewisserte sich selbst, dass Charlie
auch dort war.
„Hat Jack Dir nicht gesagt, dass Du liegen
bleiben sollst!", sagte Locke.
„Er weiß es.",
antwortete Claire bevor Charlie es konnte. „Es war meine Schuld."
Locke zog eine Augenbraue hoch. „Jedenfalls solltet ihr jetzt
wieder mit kommen."
Charlie nickte. „Schon klar.", murmelte
er und lief ein paar Schritte, doch er taumelte.
Locke ging
hinüber und bot Charlie an, ihn zu stützen. Zuerst zögerte
er, doch dann nahm er das Angebot an.
„Ich hatte Dir
gesagt, Du sollst liegen bleiben.", sagte Jack.
„Es geht mir
gut.", antwortete Charlie zum fünften Mal.
Jack seufzte.
„Na schön, trink das hier und dann leg Dich schlafen."
Charlie nahm Jack den Becher aus der Hand und trank ihn aus.
„Widerlich!", stieß er hervor. „Was war das denn?"
„Magnesium."
„Widerlich.", wiederholte Charlie.
Jack
grinste und packte seine Medikamente wieder in seine Tasche.
„Wir
sehen uns morgen früh, und jetzt geh schlafen."
Claire
blickte hinüber zu Charlie. Seit dem Vorfall im Wald hatte sie
beschlossen, sich etwas von ihm fern zu halten. Scheinbar wollte er
sie ja nicht um sich haben.
Seit etwa einer Stunde schrieb sie in
ihr Tagebuch. Sie war völlig durcheinander. Da waren alle diese
neuen Erinnerungen, die vielen Gefühle, dann Charlies Reaktion
und die abweisende Haltung. Doch sie wollte ihm Nahe sein. Vielleicht
empfand er nicht das Gleiche? Doch wenn sie ihr Tagebuch las und sich
die ganzen Dinge aus der Vergangenheit ins Gedächtnis rief, dann
war sie sich sicher, dass er auch etwas für sie empfand. Er
hatte ihr gesagt, sie solle ihm Zeit geben - und genau das würde
sie jetzt auch tun.
Doch es wühlte sie so auf! In ihr
brodelte es und sie wollte am liebsten aufspringen, zu ihm hinüber
laufen und ihm sagen, dass er ihr Gerede einfach vergessen sollte!
Sie wünschte sich zu den Moment zurück, als sie sich
umarmt hatten. Er hatte ihr ehrlich sein Geheimnis anvertraut. Und
sie? Sie hatte ihn noch bedrängt.
Sie ärgerte sich über
sich selbst und beschloss, zum Strand hinunter zu laufen um
vielleicht einen freien Kopf zu bekommen.
Sie klappte ihr
Tagebuch zu und machte sich auf den Weg.
Am Strand angekommen
setzte sie sich in den warmen Sand und atmete tief durch. Die Sonne
würde bald unter gehen. Dies war für Claire die schönste
Tageszeit - doch heute konnte sie sie nicht genießen.
Sie
seufzte und ließ sich zurück in den Sand fallen. Mit
klopfendem Herzen sah sie in Himmel hinauf.
Wenn sie jetzt zu ihm
gehen würde, ob er mit ihr sprechen würde?
Plötzlich
spürte sie, wie sich ihr Baby im Bauch bewegte und sie setzte
sich wieder auf.
„Hey, kleiner Racker.", sagte sie zu ihm.
„Was meinst Du zu dem Ganzen?"
Das Baby trat wieder und
Claire lächelte. Sie streichelte ihren Bauch und fragte sich,
wie das Baby wohl die ganze Aufregung verkraftete... sie kannte keine
andere werdende Mutter, die gleich zwei Mal an einem Tag ein Rennen
durch den Dschungel veranstalten musste. Aber es schien ihm gut zu
gehen. Das Baby war sehr aktiv und das gab Claire ein gutes Gefühl.
„Es wird Zeit, dass Du langsam auf die Welt kommst.", sprach
sie weiter. „Du hast es Dir lange genug da drin bequem gemacht."
„Er weiß eben, wo es schön ist.", hörte sie
auf einmal eine Stimme - Charlies Stimme.
Ihr Herz machte einen
Sprung und sie drehte sich um. Er stand oben auf der kleinen Anhöhe
und kam zu ihr hinunter.
„Oder Sie.", antwortete sie.
Charlie grinste. „Oder Sie.", wiederholte er.
Claire sah
verlegen auf ihren Babybauch.
Charlie setzte sich neben sie in
den Sand.
„Es tut mir leid.", sagte er, plötzlich wieder
ernst.
„Nein - es war meine Schuld.", antwortete Claire. „Ich
habe Dich gedrängt."
Er zögerte einen Moment, doch
dann sagte er. „Du hast gesagt es würde Dir helfen, wenn Du
darüber sprechen kannst. Glaubst Du das wirklich?"
Claire
sah ihn an. Er sah nicht so aus, als ob er wirklich bereit war,
darüber zu reden.
„Nein.", sagte sie dann. „Ich will
nicht, dass Du das machst, nur um mir zu helfen."
„Ich weiß
nicht was das Richtige für mich ist.", gab er offen zu. „Ich
habe die ganze Zeit versucht, es zu verdrängen, mich
abzulenken."
„Und Du warst ganz froh, dass ich mich nicht
daran erinnerte.", ergänzte Claire.
„Es war doch besser
so, oder?"
Claire seufzte. „Ich will aber nicht immer
unwissend bleiben, Charlie. Ich will wissen, was mit mir geschehen
ist. Ich will wissen, wie Du verkraftest, was mit Dir geschehen ist!
Weil Du mir etwas bedeutest!"
Charlie blickte sie überrascht
an.
Claire schloss die Augen. Hatte sie das eben wirklich laut
gesagt?
Sie öffnete ihre Augen wieder und biss sich auf die
Unterlippe.
Charlie lachte.
Da war es wieder, das Lachen, das
sie so mochte - und so selten hörte.
Claire nahm ihren
ganzen Mut zusammen und beugte sich nach vorne, um Charlie zu küssen.
Doch in diesem Moment zerriss ein Schrei die Stille...
-Fortsetzung folgt-
