Kapitel 2: Schuld?

Hermine war die Nacht über bei ihrer Nachbarin geblieben. Sie war ihr dankbar und hatte es ihr auch mehrere Male gesagt. Jedoch hatte sie die restliche Nacht nicht mehr geschlafen. Schweigend war sie Stunden am Fenster gestanden und hatte in den sternlosen Himmel geblickt.

In ihrem Inneren wütete ein Kampf zwischen Trauer und Schuldgefühlen. Hätte sie ihre Mutter gefunden, wenn sie genauer hingesehen hätte? Oder wenn sie sich einen Weg in das Zimmer gesucht hätte? Dann wäre ihre Mutter noch am Leben!

Warum musste das alles nur ihr passieren? Dabei passierten doch solche Dinge immer nur den anderen. Nie war sie es die so leiden hatte müssen. Vielleicht hatte sie etwas getan, für das sie nun die Strafe tragen musste?

Als der Morgen anbrach und sie es für spät genug hielt, verließ sie das kleine Gästezimmer und machte sich auf den Weg in die Küche. Sie wollte ihrer Nachbarin wenigstens so lange unter die Arme greifen während sie hier blieb. Denn sie war sich wirklich nicht sicher ob ihr Vater sie zu sich holen würde. Wo auch immer gerade war...

Sie öffnete die Schränke und holte zwei große Kaffeetassen heraus, suchte Marmelade, Käse und Besteck. Es roch im ganzen Zimmer nach frischem Kaffee und seufzend machte sie sich daran den Tisch zu decken.

Einen Moment überlegte sie ob es wohl unhöflich wäre wenn sie nun einfach anfangen würde. Oder sollte sie auf die alte Dame warten? Doch der Gedanke wurde unterbrochen als die Tür aufging und ein staunendes Gesicht auf Hermine blickte. „Oh Kleine, das ist aber lieb von dir!"

„Das ist doch kein Problem! Setzen Sie sich, es ist alles da...!"Hermine kämpfte sich ein kleines Lächeln ab und machte eine einladende Geste Richtung Frühstückstisch.

Hermine hatte sich vorgenommen, so wie geplant heute mit Ron und Harry in die Winkelgasse zu gehen. Ob sie Lust hatte oder nicht, ihre Schulbücher musste sie besorgen. Vielleicht würde es sie sogar ein wenig ablenken in anderer Gesellschaft zu sein, wieder etwas 'normales' zu erleben.

Geld genug hatte sie, würde sie einfach ihr Taschengeld für ihre Bücher ausgeben und die Kosten nicht wie sonst ihren Eltern aufhalsen.

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Geduldig wartete Hermine vor Gringotts, dem vereinbarten Treffpunkt an dem sie sich mit ihren Freunden treffen wollte. Wie gewohnt musste sie nicht allzu lange warten, da erschienen auch schon Ron und Harry's Köpfe in der Menge. Dass erste, das ihr auffiel war, dass Harry um ein ganzes Stück über die Sommerferien gewachsen war. Er musste nun gut zwei Köpfe größer als sie selbst sein und er hatte einiges an Muskeln zu gelegt. Hermine beschloss, dass ihr gefiel was sie sah. Doch immerhin war er einer ihrer besten Freunde und somit für weitere Gedanken in diese Richtung nicht geeignet, wies sie sich bestimmt zurecht.

„Hallo Hermine!", begrüßte Ron sie zu erst und umarmte sie sanft. Dann war Harry an der Reihe und erst jetzt bemerkte Hermine, dass Ginny ebenfalls mit gekommen war. Die beiden Mädchen umarmten sich. „Mum hat mir erlaubt, dass ich mit gehen darf, obwohl ich Ron's alte Bücher benutzen werde!", erklärte die Rothaarige und grinste. Hermine erwiderte das Lächeln, doch schien es nicht ihre Augen zu erreichen. Einen Moment fragte Hermine sich ob sie ihren Freunden alles erzählen sollte. So wie sie immer über alles gesprochen hatten.

Jedoch wusste sie nun nicht einmal wie sie anfangen sollte, wie sie es in Worte gleiten sollte. Und ob sie nicht augenblicklich in Tränen ausbrechen würde. Nein! Sie würde es ihnen nicht erzählen. Es musste ja auch nicht jeder wissen, oder? Und was würde es schon ändern, wenn sie es verschweigen würde?

Vielleicht würden sie es ja auch von selbst merken, dass etwas nicht stimmte. Aber wohl eher nicht... obwohl sie fast genau darauf hoffte. Aber wollte sie Mitleid?

„Und Hermine, was gibt es Neues? Was hast du die Ferien über gemacht?", richtete Ron nun das Wort an sie. „Ähm.... Weißt du...Nichts Besonderes. Ich habe gelernt!"Im ersten Moment wusste sie tatsächlich nicht was sie nun antworten könnte. Dann jedoch hatte sie sich für die einfachste Methode entschieden. Lernen.... Das tat sie doch immer, richtig? Man erwartete es von ihr!

Innerlich seufzend marschierte sie nun hinter ihren Freunden her, die sich nun in Richtung Flourish & Blotts gemacht hatten. Harry und Ron schwatzten fröhlich über Quidditch während Ginny nur aufmerksam das Gespräch belauschte. Irgendwie kam sie sich so unbeachtet vor.

Buntes Treiben herrschte auf der Straße. Kleine Kinder wuselten mit ihren Eltern von Geschäft zu Geschäft. Einige unterhielten sich munter und standen in kleinen Grüppchen am Rande. Und andere, so wie sie, trabte ihren Freunden hinterher um ihre Schulbücher zu kaufen.

Der Himmel war Wolkenverhangen und es sah fast so aus als würde ein Unwetter aufziehen. Schweigend betrachtete sie die vorbeiziehenden Wolken bis Ginny sie aus ihrer Gedankenwelt riss: „Hermine, Harry meint wir sollen dich nicht gleich danach fragen... Aber bist du nun Schulsprecherin geworden? Weil du noch nichts davon erwähnt hast... und da dachten wir schon, dass du es wahrscheinlich nicht wurdest...!"

Ohhhhh! Das hatte sie ja total vergessen in dem ganzen Stress der letzten Tage. Mit dem Brief von Hogwarts, war auch ein anderer gekommen. Sie hatte sich riesig gefreut und ihre Eltern hatten sogar eine Flasche Sekt geöffnet. Doch jetzt als Ginny es erwähnte fühlte sie nicht mehr diese pure Freude, die Freude etwas erreicht zu haben was sie sich gewünscht hatte. Nein, es war ihr fast gleichgültig. Fast erschreckend... Wie konnte man seine Meinung so schnell ändern?

„Äh ja, Dumbledore hat es mir geschrieben!"

„Oh, das ist toll! Gratuliere... Hörst du Ron? Sie ist Schulsprecherin!", teilte Ginny gleich den beiden Jungs mit und beide lächelten sie an. „Das hast du dir verdient. So sehr wie du im 6. Schuljahr gebüffelt hast!", meinte Harry dann und grinste über beide Ohren. Sie hatte ihn immer wieder aufgefordert zu lernen, wahrscheinlich hätte er ein nur halb so gutes Zeugnis gehabt, wenn sie nicht gewesen wäre.

„ Ich bin gespannt wer dein männliches 'Gegenstück' sein wird.", meinte Ginny dann fröhlich und grinste Hermine viel sagend an. Darüber hatte sie auch schon nachgedacht, doch sie hatte keine Ahnung wer wohl noch Schulsprecher werden könnte. Vielleicht einer der Ravenclaws?

Der Mittag verging schnell und nachdem sie alle ihre Materialien besorgt hatten machte sich jeder wieder auf den Rückweg. Hermine war fast ein bisschen erleichtert. Es war ein seltsames Gefühl, die anderen gut gelaunt, fröhlich und lachend und sie konnte daran nicht teilhaben. So sehr sie sich auch bemühte, keines ihrer Lachen kam von Herzen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken an andere Orte, an die Geschehnisse der letzten Nacht und sie konnte einfach nicht aufhören.

Sie fluchte, warum konnte ein Mensch nicht einfach das denken was er wollte? Wieso mussten ihre Gedanken ein Eigenleben führen? Wieso nur? Sie wollte nicht mehr daran denken, nein!

Als sie wieder bei ihrer Nachbarin klingelte und diese das 17jährige Mädchen munter herein winkte, stellte Hermine ihre Bücher erstmal in das Gästezimmer ab. Vielleicht sollte sie eine Decke oder ähnliches darüber legen? Würde sich die alte Dame womöglich noch erschrecken wenn sie Titel wie „Verteidigung gegen die Dunklen Künste"oder „Geschichte der Zauberei - das 16 Jahrhundert"lesen würde?

„Kind, dein Vater hat vor einer Stunde angerufen!"Hermine wurde hellhörig. „So?", fragte sie neugierig und kam in die Küche, wo sich ihre Nachbarin nun auf einem Stuhl niedergelassen hatte und auf Hermine wartete. „Er meinte, du sollest dir ein Taxi rufen, dass dich am 1. September zu King Cross bringt. Bis dahin wirst du bei mir bleiben!"

Fassungslos starrte Hermine an die gegenüberliegende Wand. „Wo ist er?" Ihre Stimme war fest, doch innerlich zitterte sie. Wieso konnte sie nicht zu ihm? So sehr sehnte sie sich nun nach einer Umarmung, ein paar Wörter, die sie aufmuntern konnten. Doch ihr eigener Vater... schien sie nicht bei sich haben zu wollen.

„Er ist bei einer Tante von dir. Mehr hat er nicht gesagt. Er war recht kurz angebunden. Dein Vater hat sich verändert. Ich weiß noch wie er damals den Kinderwagen die Straße hoch und runter geschoben hat, weil du sonst nicht eingeschlafen bist. Ach ja, du warst so ein hübsches Baby und dein Vater war der Stolz wie ins Gesicht geschrieben."Die Frau legte die Stirn in Falten und seufzte deutlich in Erinnerungen schwelgend. Doch dass war das letzte was Hermine nun hören wollte. Sie nickte ihr kurz zu und stand dann auf. Vielleicht würden ihre Schulbücher sie ein wenig ablenken?

Am 1 September nahm sie sich dann wirkliche in Taxi und ließ sich mit samt ihrem Gebäck zum Bahnhof fahren. Sie würde sich im Hogwarts Express ein Abteil mit dem anderen Schulsprecher teilen, also konnte sie sich auch nicht zu Ron und Harry setzen.

Bevor sie in den Zug einstieg warf sie noch einen Blick auf Dumbledore's Brief, den sie in ihrer Jackentasche bei sich trug. Nun gut, dann würde sie nun ihr Gebäck erst einmal verstauen. Vielleicht konnte sie auf der Fahrt auch ein wenig schlafen, denn der Schlaf kam in letzter Zeit wirklich viel zu kurz und sie spürte es deutlich. Ihre Augenlider fühlten sich schwerer als sonst an und sie war schwach und müde. Aber die Angst ihre Mutter noch einmal sehen müssen oder das was von ihr übrig geblieben war, siegte jede Nacht. Der Feuerwehrmann, der erklärte wo man sie gefunden hatte... Sie wollte es nicht noch einmal erleben!

Schweigend zog sie die Abteiltür auf und sah sich um. Es war noch niemand da. Hinter sich die Tür wieder schließend setzte sie sich mit einem ihrer neuen Schulbücher hin. Doch schon nach wenigen Minuten wurde sie unsanft unterbrochen. „Granger, was willst du hier?", schnauzte sie eine wohlbekannte Stimme an. Malfoy... Was wollte der denn hier?

„Siehst du das?", fragte Hermine provozierend und deutete auf ihr Abzeichen, dass sie auf ihrer Schulkleidung trug. Sogleich wanderte ihr Blick zu Malfoys Kleidung... „Oh nein!"Ihre Stimme war deutlich leiser geworden und sie ließ den Kopf auf ihre Brust sinken. Konnte es schlimmer werden? Malfoy war auch Schulsprecher?

Wieso konnte es niemand von den Ravenclaws sein? Oder ein Hufflepuff? Warum er? Und ihren letzten Gedanken sprach sie ungewollt laut aus. „Gute Frage: Warum DU?", erwiderte er nur kalt und setzte sich ihr gegenüber.

Erfolgreich versuchte sie ihn die restliche Fahrt über zu ignorieren und er schien das Gleiche zu tun. Gut, so ließ es sich wenigstens aushalten...

Irgendwann war sie dann doch über ihrem Schulbuch eingeschlafen. Ihre Müdigkeit forderte seinen Tribut.

Flammen. Unbändige Hitze und ihre eigene Stimme. War das wirklich ihre Stimme? Etwas schrie. Schrie ganz laut. „Hier... Finde mich...Rette mich...Es ist so heiß!"Nein, das war ihre Mutter. Hermine zerrte an der Wohnzimmertür. Doch sie war verschlossen. Sie konnte nicht hinein. Immer mehr Flammen, sie krochen ihre Beine hinauf. Plötzlich stand ihr Vater hinter ihr. „Willst du deiner Mutter nicht helfen? Denn ich werde es nicht tun! Ich will euch beide nicht mehr sehen!"Mit diesen Worten drehte er sich um und ging quer durch das Feuer nach draußen. Hermine blickte ihm nach. Dann sprang die Wohnzimmertür wie von selbst auf und die Flammen waren verschwunden. Stattdessen lag nur ein Häufchen Asche mitten im Zimmer. „Mein einziges Kind... Wieso hast du mich umgebracht?!", flüsterten die schwarzen Wände, der Fußboden... und plötzlich schien aus dem kleinen Häufchen Asche ihre Mutter heraus zu steigen. Ihr wurde heiß, immer heißer... Würde sie selbst nun auch verbrennen? „Nein, ich habe dich nicht umgebracht...!", schrie Hermine und plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz auf ihrer Wange.

„Hey Granger, was brüllst du hier so rum?", fragte Malfoy sie und langsam drangen die Worte zu ihr durch. Sie schlug die Augen auf und fühlte ihre Wange. „Hast du...?", fragte sie leise und langsam begreifend, dass sie wieder geträumt hatte. „...dich geohrfeigt, richtig. Und es hat sich toll angefühlt!", beendete Malfoy ihren Satz und lachte gehässig.

Hermine hingegen spürte wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen und war froh darüber, dass er demonstrativ zum Fenster hinaus schaute und kein weiteres Wort über eben geschehenes verlor.