Kapitel 1
Nur ein Blick
„Ich komme in einigen Wochen wieder – dringende Geschäfte in Düsterwald."
Belegren lächelte abwesend zu seiner Gefährtin hinüber, während er seine Tasche packte. Aewrin stand stumm neben ihm und nickte lediglich leicht, beobachtend, wie er in aller Pedanterie, die ihm zueigen war, Kleidung, einige Schriften und seine Waffen zusammenpackte. In den Köcher für seinen Langbogen versenkte er ein Bündel von Pfeilen, gefiedert mit den Federn von Raben, dann nahm seinen Bogen auf und bespannte ihn kurz, um kritisch die Zugkraft zu überprüfen. Ann nickte er zufrieden, auch wenn keine Regung auf seinem schönen Gesicht zu erkennen war.
Sein weizenblondes Haar war in ordentliche Zöpfe gebändigt und während Aewrin seine tiefgrünen Augen betrachtete, überkam sie erneut die Sehnsucht, ihn zu berühren, so schön war er. Ihre Hand legte sich leicht auf seinen Ärmel, als er seine schlanke Klinge an seinem Gürtel befestigte.
Er überraschte sie nicht. Ein kühler Blick traf sie, der mehr ausdrücken konnte als tausend Worte und rasch zog sie die Finger zurück, den weichen Stoff seiner Tunika liebkosend anstatt der weißen Haut, nach der sie sich sehnte.
„Ich – ", begann sie leise, doch er winkte ab. Seien Stimme schnitt scharf in die Stille des Talans, die nur von dem leisen Rascheln der Blätter in den Kronen der riesigen Mallorn-Bäume durchbrochen wurde.
„Gehe in Dich, während ich fort bin und denke darüber nach, was Du von mir forderst. Es ist alleinig die Neigung des Geistes, der wir zu folgen bestimmt sind. Den Gelüsten des Körpers gehen nur die Menschen nach – oder die Orks."
Dann nickte er ihr knapp zu, schulterte Bogen und Satteltasche und verließ sie. Aewrin ließ ich auf das Bett sinken und schlug die Hände vor das Gesicht, doch sie weinte nicht. Tiefe Trostlosigkeit erfüllte sie wie saurer Wein ein zerbrechliches Gefäß. Waren ihre Wünsche so wider der Natur? In Bruchtal füllte Leben und Lachen die hohen Wände des Hauses des Herren Elrond, doch an diesem Ort spürte sie nur das Verglimmen der elbischen Seele.
Nach einer kleinen Weile erhob sie sich und begann, den Talan aufzuräumen. Es gab nicht viel zu tun, da Belegren immer alles in Ordnung hielt. So schloss sie nur die Truhen, aus denen er sein Reisegepäck zusammengesucht hatte, ordnete die Flaschen auf ihrer Kommode neu an und spielt gedankenverloren mit dem Kamm aus dunklem Holz, der dort lag.
Ihr Bild in dem polierten Silberspiegel blickte ihr entgegen, blass, besorgt, mit großen, traurigen Augen in der Farbe von Veilchen und Haaren wie Herbstlaub. Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch es war verzerrt und unehrlich.
Der Wald würde ihr ein wenig Trost bringen, wusste sie, und so legte sie rasch ein neues Gewand an, eine schöne Robe aus schimmerndem rostrotem Stoff, die ihre Mutter für sie geschneidert hatte. Den Vorhang vor den Eingang des Talans fallen lassend, trat sie auf die Plattform hinaus und holte tief Luft.
Es war ein schöner Tag und obwohl die Enttäuschung über ihren Gefährten noch immer in ihr schmerzte, formte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht und sie fand den Weg über einige Hängebrücken und eine Treppe zum Waldboden hinunter. Eine Zeitlang wanderte sie nun zwischen den riesenhaften Wurzeln der Bäume und sog den Duft der Erde ein, hielt ihr Gesicht den durch das Laub fallenden Sonnenstrahlen entgegen.
Schließlich betrat sie einen kleinen Waldpfad, den sie noch niemals gegangen war, denn lange war sie noch nie in Lothlorien und die meiste Zeit über war sie bemüht gewesen, Belegren zu gefallen. Je weiter sie dem Weg durch die Bäume folgte, desto seltsamer fühlte sie sich. Das Licht, das vor einem Moment noch bis zum Waldboden vorgedrungen war, schien zwischen den Stämmen zu verschwinden und machte einem matten Glimmen Platz, das um Aewrin herumzutanzen schien wie übermütige Glühwürmchen.
Das Gefühl, das sie befiel, war nicht unangenehm, aber sonderbar, da es sie vollkommen zu durchdringen schien. Lächelnd ging sie weiter und traf nach einer kleinen Weile auf die Überreste von weißen Steinen, die verstreut im Wald lagen, wohl Zeugnisse einer früheren Siedlung, die lange nicht mehr existierte. Eine kleine Treppe tauchte aus dem Nichts auf und führte zu einer Ebene ein Stück unterhalb des Pfades und Aewrin eilte leichtfüßig hinunter.
Die Gestalt, die dort unten stand und ihr den Rücken zukehrte, sah sie erst, als sie erneut ebenen Grund unter den Füssen hatte. Fast geriet sie ins Taumeln, als sich die Frau umdrehte, die mit einer Kanne in der Hand an einer hohen Schale stand. Sachte wehte ihr Gewand im Wind, das weiß war, so rein, dass es in dem dämmrigen Licht leuchtete wie eine Fackel. Ihr Gesicht war bleich und die blauen Augen darin schienen in einer Farbe zu lodern, die nicht zu beschreiben war.
Mit einem Mal wurde es Aewrin heiß und kalt zugleich. Über das Gesicht der Herrin Galadriel glitt ein Lächeln, das so perfekt erschien wie jedes Detail ihrer hohen, schlanken Gestalt.
„Ah, Aewrin."Eine Stimme, sanft und nur ein Flüstern. „Du bist neugierig."
„Herrin, ich wollte Euch nicht stören."Aewrin hatte die Gebieterin des Waldes nur einmal kurz gesehen, als diese sie nach ihrer Ankunft in Lorien begrüßt hatte. Schon damals hatte die Aura des Wissens und der Macht, die Galadriel umgab, sie im Innersten berührt. Und nun -. „Ich werde mich zurückziehen."
„Nein." Galadriel winkte sie zu sich, noch immer lächelnd. Aus der silbernen Kanne goss sie Wasser in die Schale vor sich, glitzernd in dem seltsamen Licht, bis die letzten Tropfen sich ergossen hatten und sich die Oberfläche des Wassers in der Schale wieder beruhigte. „Sieh hinein, Aewrin. Dieser Ort gewährt Dir den Blick auf das, was Du willst – was sein könnte, aber nicht muss."
Unwiderstehlich herangezogen, folgte die junge Elbe der Aufforderung und trat an die Schale, die Hände auf die Ränder legend, fasziniert in die klare Flüssigkeit blickend. Anfangs sah sie rein gar nichts, doch plötzlich spürte sie zwei Hände, die sich auf ihre Schultern legten.
„Blicke tiefer. Nicht nur in das Wasser, sondern auch in Dich, was Du Dir ersehnst ist ebenso wichtig wie das, was ich Dir zeigen kann."
Aewrin schloss die Augen und wurde ruhig, dachte daran zurück, wie ihr Gefährte sie an diesem Morgen verlassen hatte, wie er sie so oft zurückgewiesen hatte in den vergangenen Wochen. Ihre Träume, ihr Wünsche und Sehnsüchte zogen in der Dunkelheit ihres Geistes an ihr vorbei. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah.
Fort das Bild der Schale, des Waldes, der Druck von Galadriels Händen. Was blieb, waren Bilder, die sie weniger sah als spürte. Körper, verschlungen, zitternd. Frauen, Männer, sie sah sich selbst, wie sie beide Geschlechter gleichermaßen umarmte und hörte ihre eigenen Worte, die von Verzückung uns Lust sprachen. Blondes Haar. Blaue Augen, die sie anblickten. Und dann ein Schwert, das herniederfiel. Blut.
„Nein" , hörte sie sich selbst flüstern und es war nicht ihr Selbst in dem Traum, den sie hatte, sondern ein Laut aus ihrem Mund. Die Bilder zerstoben in einem wirren Regen von Farben und sie sah wieder den Wald, sah Galadriel, die ihr jetzt gegenüberstand und sie mit einem ausdruckslosen Blick bedachte. Scham und Angst stiegen in Aewrin empor und ihre Wangen begannen zu glühen. Mit einem erstickten Schluchzen fuhr sie fort von der silbernen Schale und rannte davon, so schnell sie nur eben konnte.
