Kapitel 2
Haldir
In den nächsten Tagen versteckte sich Aewrin in ihrem Talan, verzweifelt versuchend, die Erinnerung an die erotischen Bilder endgültig aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Galadriel hatte sie seitdem nicht mehr gesehen und sie fürchtete, dass die Herrin ihre Vision geteilt hatte und sie nun für ihr Begehren verachtete.
Als sie sich wieder hervortraute, an einem sonnigen Vormittag, geriet sie direkt in äußerste Unruhe, denn sie bemerkte, dass auf den Stegen zwischen den Talanen und deren Plattformen viele Elben standen, die ihre Blicke gen Südosten gerichtet hatten.
Ein Krieger in einer grauen Tunika eilte auf Aewrin zu, als sie das hektische Treiben beobachtete.
„Herrin Aewrin?"
„Die bin ich, was kann ich für Euch tun?"
„Die Herrin Galadriel bittet Euch, Euch zum Talan der Kranken zu begeben und dort zu helfen. Einige Grenzpatrouillen sind auf Orks gestoßen und es gab mehrere Verletzte."
Aewrin nickte und machte sich sofort auf den Weg. Zwischen den Bäumen weit unter ihr ertönten nun aufgeregte Rufe, sie hörte Hufe von Pferden und das Klirren von Waffen. Besorgt ließ sie einige Treppen hinter sich und fragte sich, was sie erwarten würde. Ihre Mutter war eine der Heilerinnen, die in Bruchtal die Kranken versorgte und Aewrin hatte genug von ihr gelernt, um bei dem Gedanken an Verwundete nicht direkt in Panik zu verfallen.
Der Talan der Heilung war ein großer, aus Ästen geformter länglicher Raum, an den sich weitere Räume anschlossen, abgetrennt von Ranken und Vorhängen. Im vordersten Bereich gab es einige Liegen, die wohl dazu dienten, die Verwundeten zu versorgen, die Räume im hinteren Bereich dazu, die Patienten, die länger in dem Talan weilen mussten, aufzunehmen.
Einige Elben waren bereits beschäftigt, Wasser, saubere Tücher und zierliche Werkzeuge aus glänzendem Metall auf den Tischwn bei den Liegen bereitzustellen, eingewiesen von einer beeindruckenden Gestalt in der Mitte des vordersten Zimmers, einem Elb mit pechschwarzem Haar und grauen Augen. Er strahlte Alter und Weisheit aus und sein Lächeln war freundlich, als Aewrin erblickte.
„Ihr seid wohl die Hilfe, um die ich gebeten habe. Mein Name ist Lothenon, dies in mein Haus. Was für eine Erfahrung habt Ihr?"
„Ich habe lange meiner Mutter, der Heilerin Miriel zu Bruchtal, geholfen und bei ihr gelernt."
Lothenon nickte leicht und maß sie mit einem ruhigen Blick.
„Ein guter Name. Ich vertraue auf Eure Fähigkeiten."Die ersten Schritte und Stimmen waren auf der Treppe vom Erdboden zum Talan zu hören. „Es geht los."
Wenige Momente später war der erste Raum des Talans voll mit Elben. Verwundete Männer und Frauen in den grau-silbernen Tuniken der Grenzwachen, der Galadhrim, wurden von ihren Freunden und Kameraden hereingetragen. Blut tropfte aus zahlreichen Wunden zu Boden und sickerte zwischen das Astwerk. Lothenon teilte die Verwundeten zu, überwies einige weniger schwere Fälle an seine unerfahrenen Helfer, Schnittwunden von Schwertern und den einen oder anderen Pfeil, der in einem Arm oder einem Bein steckte.
Einige schwerer Fälle ließ er für sich selbst und Aewrin. Die erste Frau, die vor ihr auf das Lager gelegt wurde, war von einem Schwert dicht unter dem Ende ihrer Rippen durchbohrt worden. Aus der Wunde pulsierte Blut in hellen Strömen und als die Elbin hustete, sprühte auch Blut aus ihrem Mund hervor und benetzte Aewrins weißes Gewand. Sofort legte Aewrin nach dem ersten Ausspülen der Wunde mit einem reinigenden Kräutersud einen Verband an, um die Blutung zu stillen und flößte der Frau einen heilenden Trank ein, obwohl diese sich heftig wehrte. Die schlanke Hand der Verletzten krallte sich in Aewrins Arm und hinterließ einige Kratzer, die sie nicht beachtete. Stattdessen hielt sie die Schultern der anderen Elbe fest, bis diese in einen tiefen Schlummer der Heilung fiel.
Die Schlafende wurde vorsichtig fortgetragen, in die hinteren Räume, wo sie weiter betreut werden würde und Aewrin spülte ihre blutigen Hände mit Wasser ab, bevor sie sich wieder der Liege zuwandte, auf die der nächste Verwundete gelegt worden war. Es war ein hübscher Elb mit hellblonden Haaren und arroganten Gesichtszügen, der noch bei Bewusstsein war und mit weit aufgerissenen Augen und stoßweise gehendem Atem zu seinem Begleiter blickte, der neben dem Bett hockte und seine Hand hielt. Zwei Pfeile, die Schäfte schon abgebrochen, steckten in seiner Brust.
„Nicht sterben, Orophin", flüsterte der gesunde Elb, dessen Tunika von Blut verschmiert war und sein Blick kreuzte den Aewrins. „Helft ihm, er ist mein Bruder."
Mehr zur Bestätigung als als Versprechen gedacht, nickte Aewrin und untersuchte, wie weit die Pfeile in den Körper des Kriegers vorgedrungen waren. Sie riss seine Tunika auf und entblößte weiße Haut. Für einen Moment dachte sie nach und entschied sich dann dagegen, die Spitzen durchzustoßen – dies würde nur noch mehr Schaden anrichten. Der Verletzte begann zu zittern und sein Bruder fing an, ihm das blutige und verdreckte Haar aus dem Gesicht zu streichen und neben seinem Ohr Worte der Beruhigung zu flüstern.
Aewrin griff zu einem der scharfen, silbernen Messer und atmete kurz durch, bevor sie die Klinge neben der ersten Pfeilspitze ansetzte und zu schneiden begann. Ihre Bewegungen waren sicher, kein Zittern durchlief ihr Hände, als sie mit äußerster Präzision das hässliche Geschoss mit den Widerhaken freilegte und entfernte. Dabei rief sie einen von Lothenons Helfern zu sich, den sie anwies, diese erste Wunde zu spülen und fest zu verbinden.
Als sie sich anschickte, die zweite Wunde weiter aufzutrennen, erklang plötzlich eine befehlsgewohnte Stimme hinter ihr und eine kräftige Hand, blut – und schlammbesudelt, ergriff ihren Arm und riss sie herum.
„Was macht Ihr mit meinem Bruder?"Sie blickte in das harte, schöne Gesicht eines Elben, dem man deutlich ansah, dass auch er an den erbitterten Kämpfen teilgenommen haben musste. Seine blauen Augen blitzten, die Anspannung seines Körpers verriet Aufregung und Zorn. „Ich habe Euch etwas gefragt! Ich kenne Euch nicht und erlaube nicht, dass Ihr Hand an ihn legt."
Aewrin blinzelte und spürte ebenfalls Wut in sich aufsteigen, heiß und bitter. Ihre Stimme klang kühl und fremd, als sie seinen Griff abschüttelte und ihn direkt ansah.
„Da Ihr mich nicht kennt, könnt Ihr auch nicht einschätzen, zu was ich fähig bin. Also verlasst augenblicklich diesen Raum und kommt wieder, wenn Ihr Euch zu benehmen wisst!"
Im Talan war es merklich ruhiger geworden, bis sich der Elb neben Orophins Bett erhob.
„Geh, Haldir. Du weißt kaum, was Du sagst. Ich bleibe bei unserem Bruder."
Der Mann namens Haldir musterte Aewrin noch einmal, dann straffte er seine breiten Schultern und verließ den Talan so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Sie atmete kurz durch, schüttelte die Erinnerung an den bezwingenden Blick blauer Augen ab, wusch sich erneut die Hände, die er verschmutzt hatte und machte sich wieder an die Arbeit.
