Kapitel 4
Faszination
Kaum war der wütende Aufschrei verklungen, da hörte Aewrin Schritte hinter sich. Sie fuhr herum. Lothenon schloss den Vorhang zu den hinteren Räumen hinter sich und trat auf sie zu. Er musste jedes Wort gehört haben, denn seine Miene war besorgt. Mit einer sehr sanften, aber nachdrücklichen Geste hob er ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
„Macht keinen Fehler, Aewrin. Ich sehe, dass er Euch fasziniert und er weiß, dass es so ist. Begeht bitte keinen Fehler, denn es gibt unausgesprochene Dinge in diesen Wäldern, von denen Ihr nichts ahnt und an denen ich nicht das Recht habe, sie auszusprechen. Haltet Euch von ihm fern und fragt Euren Verbundenen, wenn er zurückkehrt." Sie öffnete den Mund, doch er schüttelte den Kopf. „Geht, ruht Euch aus und denkt über meine Worte nach."
Sie nickte leicht, zitternd von den seltsamen Begebenheiten und den warnenden Worten, dann drehte sie sich um und eilte in ihren Talan zurück, wo sie sich wusch und zur Nacht kleidete. Doch kaum lag sie auf dem weichen Lager, spürte sie die Unrast, die noch immer in ihr tobte.
Nach einer Weile erhob sie sich wieder und trat hinaus in die Nacht. Es war Herbst, doch die Blätter würden in diesem Wald niemals fallen und eine Wärme pulste durch Lorien, die selbst Schnee niemals nehmen würde, wenn er sich zum Erdboden verirrte.
Ein leichter Wind fing sich in ihren Haaren und ein Schauer lief über ihren Körper in der dünnen Robe.
‚Aewrin', hauchte eine Stimme, getragen von den Geräuschen des Waldes und der Luft. Der Elbin erschrak nicht, denn sie kannte die Stimme, doch Verwunderung machte sich in ihr breit. ‚Komm zu mir.'
Die Worte Galadriels hallten noch in ihrem Kopf wieder, als Aewrin in den Talan zurückkehrte und sich einen Mantel überwarf. Den Weg zu dem großen Talan der Herrin fand sie ganz automatisch, sie vergaß nie einen Weg, den sie schon einmal gegangen war. Zwei Elbinnen öffneten ihr die Pforte schon in dem Moment, als sie die Treppen hinaufging und führten sie schweigend durch einen Vorraum im Talan zu einem kleineren Gemach, in dem sie sie warten ließen.
Der Raum war vollkommen aus grünlichen Ranken gebildet, die von sich selbst aus ein sanftes, weißliches Licht abgaben, das sich warm und kühl zugleich anfühlte. Mit einem leisen Seufzen ließ sich Aewrin auf einem Stuhl nieder, sich umsehend. Das Zimmer war schlicht eingerichtet, mit einem Tisch, aus dem allerlei Schreibutensilien lagen, sowie einem breiten Ruhebett und einigen Kommoden, aus Holz gearbeitet und wunderschön schlicht. Weiße Vorhänge verdeckten zum Teil die Wände und flatterten leicht in der Nachtluft, die erfrischend durch das Fenster drang.
Sie spürte Galadriels Präsenz schon, bevor diese den Raum betrat – hinter einem der Vorhänge hervor, der eine zweite, kleinere Tür offenbarte. In ihrer Begleitung kam eine Frau, die ein Tablett mit einer Silberkaraffe und zwei Kelchen trug, das sie auf einer der Kommoden abstellte. Auf einen Wink Galadriels hin zog sie sich wieder durch die versteckte Tür zurück und ließ die beiden anderen Frauen alleine im Raum zurück.
„Herrin, ich.. ."
Galadriel winkte ab und stahl Aewrin die Worte.
„Du hast einen anstrengenden Tag hinter Dir, wie ich gehört habe. Ich möchte Dir noch einmal für die Hilfe danken, weiß ich doch, wie fremd Du Dich hier fühlst und wie unnütz zu mancher Stunde."
Aewrins Kopf sank nach unten und sie konnte nur ein leichtes Nicken hervorbringen. Sie fühlte sich in irgendeiner Form verraten und ausgeliefert, spürte, wie ihr innerster Schmerz, an dem sie selbst ständig rührte, seit sie den Bund mit Belegren eingegangen war, empor kochte, aber nicht mehr nur ihr allein bekannt war.
Zwei Finger legten sich unter ihr Kinn und hoben es an. Galadriel stand plötzlich vor ihr, zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. Warmes Grün traf auf kaltes Blau. Aewrin erhob sich, wie gezogen von einer seltsame Macht und Ohnmacht, die Galadriel umgab und starrte die Herrin an. Ihr Mund formte Worte, von denen sie glaubte, dass sie niemals ihrem Geist entsprungen sein konnten, losgelöst von jeder Kontrolle, die sie in der vergangenen Zeit aufgebaut hatte.
„Ich hasse es, mich so zu fühlen. Als ich ihn kennen lernte, dachte ich, wir würden verbunden sein, für immer. Und nun komme ich mir so undankbar vor, dass ich ihm im Stillen diese Vorwürfe mache. Er ist immer noch derselbe, nur habe ich Wünsche, die den seinen nicht entsprechen und es kommt mir so vor, als würde uns diese Unzufriedenheit entzweien, kaum, dass wir uns gefunden haben. Es ist alles meine Schuld."
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, sich abzuwenden, doch Galadriel hielt sie an den Handgelenken fest, mit erstaunlicher Kraft und großem Willen. Während Aewrin die Tränen über die Wangen strömten, blickte Galadriel sie an, das schöne, bleiche Gesicht unbewegt, bis das Schluchzen schließlich langsam verebbte.
Dann ließ sie Aewrin los und trat einige Schritte zurück, mit weichen Bewegungen, die nichts mehr mit Gebundenheit an die Erde zu tun hatten.
„Ich war auch einmal wie Du. Voller Leben und Sehnen nach dem, was sich greifen lässt und nicht nach dem, was eigentlich unsere Natur ist. Seit Du hierher gekommen bist, beobachte ich Dich und sehe Dich allein durch den Wald wandeln. Belegren – ich schätze ihn als einen guten Botschafter und Diplomaten, aber mir ist ebenso bewusst, dass er Dir nicht das geben wird, was Du Dir wünschst. Warum es so ist, das sollte nicht ich Dir erzählen, da liegt das Recht bei ihm."
Aewrin runzelte die Stirn und trocknete ihre Augen, noch immer zitternd von dem plötzlichen Ansturm ihrer Gefühle. Diese Anspielungen, erst hörte sie sie von Lothenon, dann von Galadriel. Es beunruhigte sie, dass es Unausgesprochenes gab, von dem sie nichts ahnte und von dem ihr jeder die Kenntnis verweigerte. Sie seufzte leise und in ihrer Stimme klang Resignation mit, als sie leise fragte:
„Das alles – warum wusste ich es nicht vorher? Warum hat er nie darüber gesprochen, dass er – anders empfindet als ich?"
Galadriels Mundwinkel kräuselten sich.
„Ich weiß nicht alles, Aewrin. Ein Vergehen an Dir und Deinen Wünschen ist begangen worden, das steht außer Frage. Wie Du damit umgehst, das ist nun Deine Entscheidung, denn Du weißt, dass er sich nicht ändern wird."
„Ich könnte niemals – ich meine, ich kann nicht-."
„Was kannst Du nicht?"Erneut hatte Galadriel sich ihr genähert und stand nun so nahe vor ihr, dass Aewrin meinte, das Licht, das von der anderen Frau ausging, körperlich spüren zu können. „Sprichst Du von Betrug? Dem Ausleben Deines Begehrens? Warum kannst Du es nicht?"Ihre Hand glitt sachte an Aewrins Wange vorbei, umfasste mit einer bestimmten Geste ihren Hinterkopf. „Sag es mir."
Der Puls der jungen Elbin schnellte hoch und ihr Mund wurde trocken. Ihre Lippen teilten sich, wollten eine Rechtfertigung formulieren. Wollten von Zweifeln reden, die sie empfand, da sie nicht wusste, ob sie Gefühl und Begehren trennen konnte und damit letztendlich Belegren entgültig verraten würde.
Doch als sie Galadriels kühle, weiche Lippen auf den ihren fühlte, vergaß sie einfach.
