Kapitel 5
Ein nächtlicher Besuch
Der Kuss war unendlich sanft und kontrastierte die Hitze, die Aewrin durchtoste, mit Galadriels kühler Entschlossenheit. Mit einem Seufzen gab sie sich den Gefühlen hin, die die Herrin Loriens durch ihre Berührungen auszulösen vermochte und spürte, wie kundige Finger über ihren Rücken glitten und ihre Hüften umfassten. Näher, noch näher zog Galadriel sie und vertiefte den Kuss, schickte mit jeder neckenden Geste Schauer durch Aewrins Leib.
Fortgewischt waren ihre Zweifel ebenso wie ihre Gedanken an Belegren und, tief verborgen, auch an Haldir. Was sie wahrnahm, war die Nähe der anderen Frau, der Druck ihrer Hände und ihres Mundes, die Aura von samtiger Kälte, die Galadriel umgab wie ein zusätzliches Gewand.
Dann war es vorbei. Sie blinzelte und sah, dass Galadriel einen Schritt zurückgetreten war und lächelte. Schwer atmend, wisperte sie:
„Was – sollte das beweisen?"
Die Herrin wandte sich kurz ab, um die beiden Becher mit Wein zu füllen und reichte einen dann weiter, den Aewrin mit zitternder Hand ergriff.
„Kind, allein der Gedanke, dass es etwas beweisen sollte, verrät die Wahrheit. Deine Zweifel sind so übermächtig, dass sie alles zu unterdrücken suchen. Aber wenn Du in Dich hineinblickst – wie kannst Du versuchen, Deine Leidenschaft zu unterdrücken, wenn sie doch alles bestimmt, was Du tust? Sie macht Dich einzigartig und Du teilst sie mit sehr wenigen Elben in diesem Wald."
„Aber ich habe Angst."Aewrin nahm einen Schluck von dem Wein, der schwer und süß war, den sie aber nicht zu würdigen wusste. Aufgewühlt starrte sie in die goldene Flüssigkeit. „Früher habe ich auf diese Art gelebt, gefühlt – und mit einem Male wurde von mir erwartet, mich zurückzuhalten. Auch ist ein Teil meiner Gefühle für Belegren verloren gegangen und ich fürchte, durch einen Rückfall in mein altes Leben wird auch der Rest von dem schwinden, was ich noch für ihn empfinde."
Galadriel wiegte leicht den Kopf.
„Denkst Du nicht, dass es ebenso geschehen wird, wenn Du weiterhin seinen Weg gehst? Jahrhunderte lang?"
Aewrin trat an das Fenster und blickte hinaus in die von lichten Schimmern durchzogene Nacht, den Kelch mit beiden Händen fest umschlossen.
„Ich habe so oft darüber nachgedacht, beide Seite abgewogen und mir immer wieder gesagt, dass ich Belegren noch nicht lange genug kenne und mit ihm verbunden bin, um einschätzen zu können, wie er sich – und ich mich – entwickelt. Immer und immer wieder, in jeder Nacht und an jedem Tag. Kein Ergebnis, mit dem ich leben könnte."Ein sachter Hauch von Kälte in ihrem Nacken, ein Streicheln von kundigen Fingern. Aewrin schloss die Augen und seufzte, neigte sich der Berührung entgegen. Doch sie vermittelte ihr weder den Trost noch den Ratschlag, den sie brauchte. Mit einer unwilligen Bewegung löste sie sich von Galadriel und stellte ihren Kelch heftiger als nötig auf dem Tisch ab. „Ich werde gehen."
„Das steht Dir frei, aber ich weiß, dass Du wiederkommen wirst." Galadriel nippte an ihrem Wein, vollkommen gefasst und mit einem Ausdruck von Amüsement auf dem schönen, kühlen Gesicht. „Ich kenne Dich."
Schon halb zur Tür hinaus, innerlich bebend, hörte Aewrin noch diese letzten Worte, die sie mehr schreckten als jedes andere wahre Wort, das Galadriel an diesem Abend gesprochen hatte. Ihre Füße beschleunigten wie von selbst, sie wollte nur weg von Galadriels wissendem Gebaren und dem Knistern, das im Raum gelegen hatte. Sie eilte die Treppe hinunter, über die Hängebrücken, in Richtung ihres Talans, blind vor Hast und auch von Tränen, die ihr wieder in die Augen stürzten.
Endlich in ihrem Heim angekommen, stürzte sie blindlings hinein und riss den Vorhang hinter sich zu, froh über einen Moment der Ruhe an diesem Tag. Doch dass diese nicht anhielt, kündigte ein Räuspern hinter ihr an. Sie fuhr herum.
Auf ihrem und Belegrens gemeinsamem Bett sah Haldir, die Beine ausgestreckt, den Mund zu einem halbem, spöttischem Lächeln verzogen.
„Hätte ich gewusst, dass ich ungelegen komme -."
Aewrin starrte ihn etwas fassungslos an über die unglaubliche Frechheit, ungefragt ein fremdes Quartier zu betreten und es sich derart gemütlich zu machen. Mit dem Handrücken wischte sie sich heftig die Tränen weg und funkelte ihn an.
„- wärt Ihr trotzdem gekommen, nicht wahr? Ihr habt das unglaubliche Talent, Haldir, immer in unpassenden Momenten zu erscheinen und dann auch noch unverschämt zu werden."
Er erhob sich lässig und trat zu ihr, wie schon bei ihren anderen Begegnungen mit seiner Größe und seiner Wirkung spielend. Trotz ihres Zustandes darauf vorbereitet oder vielleicht auch gerade deshalb, verschränkte sie die Arme und blickte ihm in die Augen. Er lächelte blendend.
„Dann muss ich mich wohl erneut entschuldigen."
Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie. Sie wusste nicht genau, ob es das zu glatte Lächeln war oder der seltsame Ausdruck seiner Augen – gepaart mit dem, was ihr über den Tag hinweg angedeutet worden war, erwachte bohrendes Misstrauen in ihr.
„Ihr verbergt etwas vor mir", sagte sie langsam und zog eine Augenbraue hoch. Ihre Wut war verraucht, was blieb, war reine Neugierde. Interessiert betrachtete sie das kurze Zucken in seinem Gesicht und wie er ein Stück weit vor ihr zurückwich und setzte sofort nach. „Warum seid Ihr so plötzlich und wütend aus dem Talan der Heilung gelaufen? Wollt Ihr mir das erklären, Haldir?"
Er senkte kurz den Kopf, so dass ihr der Blick in sein Gesicht verwehrt wurde und schwieg eine Weile. Aewrin nutzte die Zeit, um sich selbst auf das Bett zu setzen und ihn zu zwingen, ihr und ihren Bewegungen zu folgen. Wenn er meinte, mit ihr spielen zu müssen, dann würde sie wenigstens ihre eigenen Regeln aufstellen. Als er seinen Blick wieder auf sie richtete, brannte etwas in ihm, das sie nicht benennen konnte.
„Ich möchte darüber nicht reden."Es fiel ihm sichtlich schwer, die Worte zwischen den zusammengepressten Zähnen hervorzuquetschen. „. Mit Euch hat das nichts zu tun."
„Nicht?" Sie seufzte leise, plötzlich erschöpft. „Warum seid Ihr dann hier, wenn es nichts mit mir zu tun hat?"
Er lachte plötzlich auf und drehte sich um, um zu gehen. Als seine Hand den Vorhang zur Seite strich, drehte er sich noch einmal um:
„Vielleicht begehre ich Euch, Aewrin."
Dann war er fort.
