Kapitel 6

Orks

Der nächste Morgen dämmerte bronzefarben über dem Wald und Aewrin erhob sich nach Stunden ohne Ruhe, um an den Ort zu gehen, an dem sie sich gebraucht fühlte. Im Lazarett traf sie auf Belgarion, der Verbände wusch und Salben auf einem Tisch voller Kräuter anrührte. Er blickte auf und musterte sie kurz.

„Schön, Euch zu sehen. Es hat schon jemand nach Euch gefragt."

„Wer?" Sie klang irritierter, als sie eigentlich wollte.

„Ich", erklang es hinter ihr und der Vorhang zu den Ruhezimmern der Kranken wurde zur Seite geschoben. Herein trat Haldirs Bruder, der einzige, dessen Namen sie noch nicht kannte. Er lächelte sie an, sein hübsches Gesicht strahlte Wärme aus. „Ich habe vergessen, mich Euch gestern vorzustellen."

Sie winkte ab, froh darüber, dass es nicht Haldir gewesen war, der auf sie wartete.

„Das Leben Eures Bruders ging natürlich vor. Wie geht es ihm?"

„Viel besser, er ist schon wieder kaum davon abzuhalten, aus dem Bett zu springen und Orks zu jagen. Zum Glück hat ihm seine Verbundene gedroht, ein Jahr kein Wort mehr mit ihm zu sprechen, wenn er sich in der nächsten Woche bewegt. Das wirkt."Er nahm Aewrins Hand und verneigte sich leicht. „Ich bin Rumil, nettester, bestaussehendster und klügster von drei Brüdern, die Ihr alle schon kennt und ich bin Euch für Eure Hilfe sehr dankbar, Aewrin."

„Ihr kennt mich?"Bei seinen Worten musste die unwillkürlich lachen.

„Ich war so frei, mich nach Euch zu erkundigen."Er schmunzelte. „Ihr habt meinem ältesten Bruder getrotzt, meinem jüngsten geholfen – das hat mir gefallen. Darf ich Euch zu einem Spaziergang einladen? Oder einen Ausritt?"

Aewrins Augen leuchteten auf im Angesicht dieses verlockenden Angebotes und als Belgarion die beide aus dem Talan der Heilung scheuchte, sich Ruhe für seine Patienten erbittend, war ihre Entscheidung schon gefallen. Die Nase der Morgensonne entgegenhaltend, erkundigte sie sich:

„Ein Ausritt wäre schön. Dazu müsste ich mich allerdings umziehen."

Sie wies auf ihre weiße Morgenrobe, die zwar wunderschön, aber unpraktisch war. Er nickte nur.

„Dann kommt doch in die Ställe nach und ich lasse zwei Pferde satteln – habt Ihr ein eigenes?"

„Ja, eine sandfarbene Stute namens Yel. Bis später."

Sie eilte zurück in den Talan und öffnete dort eine der Kisten, in denen ihre Gewänder lagerten. Rasch streifte sie die Robe ab und wählte eine waldgrüne Tunika und ebensolche Hosen. An ihrem Gürtel befestigte sie einen kleinen Dolch und nach kurzem Überlegen schnallte sie sich auch ihren Köcher auf den Rücken. Der Angriff der Orks auf die Patrouillen hatte sie vorsichtig gemacht. Mit ihrem Bogen in der Hand traf sie wenig später bei den Ställen ein, wo gerade der Stallmeister die zwei Pferde vorführte. Rumil schwang sich in den Sattel und Aewrin tat es ihm gleich, den Bogen in einer Halterung am Sattel befestigend. Auch der Elb an ihrer Seite war bewaffnet und nickte ihr zu:

„Ich sehe, Ihr habt auch keine Lust, Euch von Orks den Tag verderben zu lassen. Ich schlage dennoch vor, dass wir uns ein Stück von den Grenzen entfernt aushalten."

Sie ritten los und Aewrin genoss das Gefühl, wieder auf einem Pferderücken zu sitzen. Die letzten Monate hatte sie fast nur mit Belegren verbracht, um ihn kennenzulernen und auch die Spannungen zwischen ihnen zu beseitigen, was ihr bisher nicht gelungen war. Der Tag hielt, was er mit einem wunderschönen Morgen versprochen hatte. Die beiden Elben ließen die Pferde zwischen den Bäumen entlang traben und ihren Weg finden, während sie sich über alles und nichts unterhielten. Rumil war charmant, aber nicht zu übertrieben und ein angenehmer Gesellschafter. Er erzählt von einer zauberhaften Elbin aus dem Düsterwald, die er freien wollte und Aewrin berichtete etwas von ihrem Leben in Bruchtal in Elronds Haus.

Sie merkten kaum, dass eine Stunde verstrich und näherten sich immer weiter den äußeren Bereichen von Lorien, wo sich der Wald lichtete. Hin und wieder stieß Rumil einen Pfiff aus und aus den Schatten der Baumkronen lösten sich kurz elbische Wächter, die zu ihnen hinunter grüßen und dann wieder auf ihren Posten unsichtbar wurden.

Einige Blätter segelten durch die Luft, die vom Herbst sprach. Galadriels Macht beschränkte sich auf das Innere des Waldes und hielt in eine Zustand ewigen Wachens und Unvergänglichkeit, doch außerhalb ihres Einflusses, der langsam schwand, gingen die Jahre über Mittelerde hinweg. In den Augen der Elben ein ruhiges Fließen der Kräfte, der Entwicklungen, der Könige und Herrscher, die kamen und deren Staub irgendwann im Wind verwehte. Bald würden auch sie nur noch eine Geschichte im Wind sein.

Aewrin fing eines der Blätter auf und betrachtete es, rot und golden, dann überließ sie es wieder dem Wind. Rumil neben ihr sah sie an

„Warum seid Ihr so traurig?"

Sie schwieg eine Weile und sagt dann:

„Ich denke nicht, dass ich hierher gehöre. Ich spüre es jeden Tag aufs Neue."

Sie war nur zu froh, dass er nicht weiter nachfragte, sondern lediglich sein Pferd ein wenig enger an ihres führte und sie anlächelte. Der Moment war zu schön und kostbar, war gefüllt mit einer Ruhe, die sie in der vergangenen Zeit nicht oft gefühlt hatte.

Aber Ruhe hatte die Angewohnheit, schnell vergangen zu sein und als sie nach einer kleinen Weile Rumil bitten wollte zurückzureiten, spürte sie plötzlich, wie die Luft um sie herum jäh zerschnitten wurde. Das Pfeifen der Feile hörte sie kaum einen Lidschlag später und ließ sich aus einem Reflex heraus seitlich aus dem Sattel fallen. Am Boden aufgekommen, riss sie noch ihren Bogen aus der Halterung, dann sah sie, wie überall um sie herum Pfeile einschlugen. Hässliche, schwarz befiederte Pfeile. Yel, ihre Stute, stürmte davon und Aewrin suchte Deckung hinter dem nächsten Baum, hinter dem sie Rumil antraf, der ebenso wie sie verfahren war und seinen Hegst fortgejagt hatte.

Der Elb blickte grimmig drei.

„Wie kommen sie so nahe heran?", murmelte er leise und bespannte seinen Bogen. Dann stieß er einen Ruf aus, um die Grenzwachen zu alarmieren. „Schau, was Du siehst."

Von einem Moment zum anderen war die Förmlichkeit wie weggewischt und auch der fröhliche Ausdruck von Sorglosigkeit in seinem Gesicht. Aewrin duckte sich und neigte sich leicht vor, um in die Richtung zu schauen, aus der die Pfeile gekommen waren. Anfangs blieb es ruhig. Sie beobachtete den schmalen Streifen, in dem der Wald in niedrigeres Gehölz überging, scharf, jeden Busch, jeden Baumstamm, ob liegend oder stehend. Schließlich sah sie es. Schwrazes Metall blitze kurz auf und ein Busch bewegte sich. Sie zählte die Pfeile. Es waren mindestens zwanzig.

Sie richtete sich wieder auf und stellte den Fuß auf den unteren Teil ihres Bogens, um ihn zu bespannen.

„Fünfzig Schritt, in den Büschen. Sicherlich mehr als dreißig. Man kann sie fast riechen. "

Seltsamerweise fühlte sie keine Panik bei dem Gedanken an die Übermacht. Noch niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie ihre Waffen gegen ein anderes Lebewesen eingesetzt – und sei es auch ein Ork. Mit einer gut geübten Geste legte sie einen Pfeil auf und stellte sich dann Rücken an Rücken mit Rumil, um die Orks zu erwarten.

Zunächst erklang nur ein Wispern aus rauen Kehlen, das Rascheln von Blättern und das Klirren von Waffen, die von unachtsamen Klauen gehalten aneinander stießen. Dann ein lauer, langgezogener Schrei. Aewrin schluckte trocken. Dann sprang sie gemeinsam mit Rumil hinter dem Baum hervor und sah sie. Orks.