Kapitel 9

Der Jäger

Aewrin blieb abrupt stehen und blickte ihn an, nicht wissend, auf was er hinauswollte.

„Haldir", sagte sie langsam. „Ich bin zu müde, um eines Eurer Spielchen zu spielen, also seid so gut und lasst es sein. Wenn Ihr mir etwas sagen wollt, dann tut es."

Einer seiner Mundwinkel zuckte kurz und sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.

„Wie kommst Du darauf, dass ich mit Dir spiele, Aewrin?" Eine Stimme wie ein Streicheln. Er kam näher und blieb dicht vor ihr stehen. Eine seiner Hände umfasst eine ihrer Haarsträhnen, die ihm der Nachtwind genau hineinwehte. „Wenn ich spiele, dann bin ich stets der Jäger, der weiß, was seine Beute ist. Bist Du Beute? Willst Du es sein?"

Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte keinen Ton hervor. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Er lachte spöttisch auf und griff plötzlich in ihren Nacken, um ihren Kopf zu sich zu ziehen und sie auf die Stirn zu küssen. Eine an sich väterliche Geste, die bei ihm wirkte, als würde er ihr ein glühend heißes Brandzeichen aufdrücken. Aewrin wich zurück.

„Nein", brachte sie hervor, doch er hatte sich schon abgewendet und sich wieder in Bewegung gesetzt. Mehr zur Nacht als zu ihr sprach er:

„Wir können keine Pause machen. Es sind mehr Orks in diesen Landen unterwegs als ich dachte, als wir alle dachten. Ein schwerwiegender Fehler. Erst in Lorien werden wir wieder sicher sein."

Er würde keine Widerworte dulden, spürte Aewrin und so fügte sie sich und folgte ihm, den Blick gesenkt. Nachdenklichkeit erfüllte sie und half ihr, sich von ihrer Erschöpfung und den Schmerzen abzulenken. Warum glaubte sie ihm nicht? Waren es all die Andeutungen, die über ihn gemacht waren? Sein Verhalten war unmöglich, hin und wieder gar bedrohlich, aber sie konnte nicht abstreiten, dass ihre Faszination für Haldir mit jedem Treffen wuchs. Ganz gleich, wie sehr sie sich dagegen wehrte, sie spürte, dass er ihr ähnlich war. Noch niemals war sie einem Elben begegnet, der seinen Gefühlen derart freien Lauf gestattete, auch wenn er sich oftmals den Anschein gab, als könne ihn nichts und niemand wirklich berühren.

Die nächsten Stunden vergingen im Schweigen. Aewrin starrte in stummer Trauer um Rumil die meiste Zeit auf den Boden, die Ereignisse der Nacht völlig von sich schiebend. Irgendwann spürte sie ihren Körper kaum mehr, reagierte nur noch auf Haldirs Führung. Dass irgendwann die Sonne aufging und sich die Ränder des Goldenen Waldes sachte in dem frühen Licht erglühten, sah sie erst, als Rufe aus den Bäumen ihre Rückkehr begrüßten.

Und auch wenn ihr die Schönheit ihrer neuen Heimat ans Herz ging, so konnte Loriens Aura sie an diesem Tag nicht vollends durchdringen und selbst als man sie sofort zu Galadriels Talan brachte und die Herrin heraustrat, vermochte Aewrin kaum den Kopf zu geben und auch nur einen Hauch Glück über ihre sichere und unbeschadete Rückkehr zu empfinden.

Galadriel kam mit leichten Schritten die Treppe vor ihrem Talan hinunter, die wie ihr ganzes Heim wie aus dem Wuchs einer einzigen Pflanze entstanden zu sein schien. Sie hob die Hände Aewrin entgegen und langsam hob die junge Elbin den Kopf, als ein überwältigendes Gefühl von Geborgenheit sie überkam und wie von selbst und ohne ihren eigenen Willen trugen ihre Beine sie in die sanfte Umarmung der Herrin.

Zärtliche Hände strichen über ihr wirres Haar, in dem sich Blätter und Schmutz versponnen hatten und Aewrin ließ es nur zitternd geschehen. Sie spürte, wie sich ihr Haldirs Blick in den Rücken bohrte, doch es war ihr gleich und als sie sich schließlich zu ihm umdrehte, um ihm zu danken, war ihre Miene gelassen und entspannt. So viel Ballast und Erinnerung fiel von ihr ab, dass sie es kaum fassen möchte, dass sie diese überhaupt hatte auf sich laden können, ohne zusammenzubrechen.

Haldirs Miene war undeutbar, als er zu den beiden Frauen blickte und auch als Galadriel das Wort an ihn richtete, war keinerlei Emotionen in seinen schönen Zügen zu sehen.

„Haldir, ich danke Dir, dass Du Aewrin wohlbehalten zurückgebracht hast."

Er verneigte sich knapp.

„Das war meine Aufgabe als Euere Grenzwächter."

Galadriel schüttelte leicht den Kopf und ihr Haar löste sich ein wenig über ihren Schultern und fiel ihr in das blasse Gesicht. Tiefer Kummer zeichnete sich auf ihren Zügen ab.

„Der Verlust Eures Bruders ist ein tiefer Schock für uns alle."

Mit einem Male kam Bewegung in Haldirs Gestalt und er schien ein winziges Stück in sich zusammenzusinken. Seine Augen wurden dunkel und wehmütig, doch es stand auch heller Zorn in ihnen geschrieben, der plötzlich an die Oberfläche drängte.

„Allein ich und meine Familie haben das recht zu trauern. Ihr wisst nichts über ihn, Herrin, genauso wenig wie Ihr über das Leben am Rand Eures ach so heilen Waldes wisst."

Er fuhr auf dem Absatz herum und ging davon, hoch aufgerichtete, zornbebend. Galadriel löste eine Hand von Aewrins Schultern, die sie die ganze Zeit über berührt hatte wie eine Mutter, die ihr Kind beschützen wollte, und hob sie, so als könne sie mit allein dieser Geste den wütenden Mann zurückhalten.

Seufzend gab sie auf, als Haldir fort war und wendete sich wieder zu der jungen Elbe.

„Du musst vollkommen erschöpft sein." Aewrin neigte leicht den Kopf, unfähig, nach Haldirs erneutem Ausbruch etwas zu sagen. „Ich möchte, dass Du in meinem Haus wohnst, bis Du Dich erholt hast und ich werde keine Widerrede dulden, auch wenn diese Dir schon auf der Zunge liegt." Als sie keine Antwort bekam, nahm sie Aewrin an der Hand und zog sie bestimmt, aber sachte in das Haus. Die Herrin führte sie in einen kleinen Raum, der im hinteren Teil des Talans lag und mit einem breiten Lager und den Vorhängen aus dunklen, warmen Stoffen gemütlich und einladend wirkte. „Wenn Du etwas brauchst, dann zögere nicht zu rufen und darum zu bitten. Ob nun ein Bad oder ein Gespräch, Du sollst alles haben. Belgarion wartet draußen. Willst Du ihn sehen?"

Stumm schüttelte Aewrin den Kopf. Nein, sie brauchte keinen Heiler, sie wollte nur ruhen und vergessen, begreifen und verarbeiten. Da verließ Galadriel nach einem letzten Lächeln das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Mit einem tonlosen Seufzen ließ Aewrin Haldirs Mantel von ihren Schultern fallen und sah an ihrem Körper hinunter. Überall Kratzer, aus denen an einigen Stelle Blut gelaufen war, Prellungen. Ihr Gesicht, über das sie tastete, musste schlimm aussehen, da überall Schwellungen zu fühlen waren. Der Blick in den Spiegel, der über dem kleinen Frisiertisch hing, an den sie sich setzte, war unnötig – die Oberfläche ihres Körpers war ebenso verletzt wie ihr Innerstes.

Als sie aus einer kleinen Schale mit Wasser mit einem Tuch die Feuchtigkeit aufnahm, um sich zu waschen, fingen ihre Hände unvermittelt an zu zittern und es dauerte lange, sehr lange, bis sie fähig war, sich ihre Haar zu kämmen und sich dann nackt unter der Decke ihres Bettes zusammenzurollen. Und erst gegen Mittag konnte sie dann endlich Ruhe finden.