Kapitel 10

Abschied

Aewrin ruhte viel im Lauf der Tage und sie nahm kaum bewusst wahr, wie der Lauf der Sonne mit dem des Mondes wechselte. Oft erschien Galadriel bei ihr, doch da Aewrin nicht wusste, worüber sie reden sollte, saß die Herrin des Waldes oft einfach für einige Zeit bei ihr, um dann den Raum wieder zu verlassen, leise und wie ein Hauch von Wind, so wie sie gekommen war.

Eines Abends trat sie an Fenster, die zarten Vorhänge beiseite streichend und blickte hinaus in den Wald, über den die Dämmerung zog und lauschte den Stimmen, die aus der Ferne erklangen. Regen lag in der schweren Luft und Gesänge, so traurig, als wollten sie jeden Schmerz der Welt ausdrücken, Bedeutung, losgelöst von Worten, von Stimmen hinausgetragen in den dunklen Himmel.

Niemand hatte es ihr gesagt, aber sie wusste, dass Rumil in dieser Nacht zu seiner Reise in Mandos Hallen aufbrechen würde. Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper und ihre Hände krallten sich um die die Brüstung aus weichem Holz.

Wie hatte dies alles nur geschehen können? Warum nur hatte sie nicht darauf bestanden, sich nicht zu weit von den sicheren Arealen des Waldes zu entfernen? Dann wäre Rumil, der um eine Elbin geworben hatte und mit seiner Art jeden dunklen Tag erhellen konnte, nicht tot. Es war so sinnlos, so -.

Sie wendete sich um und ging zu der Truhe mit Kleidung, die Galadriel ihr hatte bringen lassen und wählte eine dunkelgrüne Robe. Sie weigerte sich, einen klaren Gedanken zu fassen, weil sie wusste, dass sonst die Selbstvorwürfe und der Schmerz über alles, was geschehen war, zu stark werden würden.

Ihre Schritte trugen sie hinaus aus dem stillen Haus, in dem sie sich eher wie eine Gefangene fühlte denn wie ein Gast. Aewrin war sich bewusst, dass die Herrin des Waldes ihr nur etwas Gutes hatte tun wollen, doch es war das genaue Gegenteil von dem eingetroffen, was Galadriel sich erhofft haben mochte. In ihrem Talan – in Gedanken korrigierte sie sich, in Belegrens Talan – hätte sie die prüfenden Blicke nicht spüren müssen, die man auf sie warf. Ob nun Galadriel, ihre schweigsamen Begleiterinnen oder auch Belgarion, der hin und wieder erschienen war, um nach ihren Verletzungen zu sehen, sie alle hatten sie beobachtet, überwacht. Bewacht. Sie wollte es nicht.

Über Lorien war es still geworden, bis auf jene schwermütigen Gesänge, die durch die Häuser und Bäume hallten und von denen Aewrin meinte, dass sie jedes Herz zerreißen müssten. Sie lief zwischen den Bäume hindurch, schlug hin und wieder nach Ästen, die aus der Dunkelheit heraus nach ihr zu greifen schienen und spürte kaum, was um sie herum geschah.

Hinter dem gewaltigen Stamm eines Baumes machte sie abrupt Halt, als sie vor sich, auf einer Lichtung, die Gestalten sah, die sich dort versammelt hatten. Im Halbkreis standen sie in den Schatten, Aewrin sah das Silbergrau der Galadhrim aufleuchten und es waren auch die Stimmen der Männer und Frauen, die die Gesänge woben.

Mit einigen hastigen Schritten zog sich Aewrin hinter den Baum zurück und lehnte sich an den Stamm, um ein wenig Sicherheit zu gewinnen. Als eine einzelne Stimme erklang, um die Melodie aufzunehmen, gaben Aewrins Knie endgültig nach und sie ließ sich zu Boden fallen.

i Bruder, Du bist fort

An Deiner Stelle bleibt nur der Gedanke

Wir stehen hier zurückgelassen

Senden Dir unsere Wünsche nach

Für eine Reise in das ewige Land

Der Schmerz in unseren Seelen

Ist gleich der Freude Dich wiederzusehen

So gehe dann fort von uns

Wir lassen Dich ziehen. i

Das Gesicht in den Händen verborgen, lauschte sie Haldirs Klage um seinen Bruder und machte sich so klein, wie es nur eben ging. Ihre Schultern gegen die plötzlichen Wind gekrümmt, der durch die Bäume fuhr und in mächtigem Rauschen die goldenen Blätter gemeinsam mit den ersten Regentropfen hin und her warf, verharrte sie am Boden und weinte leise. Sie weinte sie auch um ihrer selbst willen, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte.

Es war zuviel geschehen, als dass sie es wirklich begreifen konnte. Was immer auch geschah, jeder Tag machte ihre Existenz nur noch schlimmer und unerträglicher. Sie wusste, sie hätte damit leben können, an Belegrens Seite zu sein, als seine Frau aber nicht als diejenige, der sein Herz gehörte. Aber was seit seiner Abreise in Lorien vorgefallen war, blieb für sie unfasslich. Die Begegnungen mit Haldir, der sie erschütterte und reizte und nun der Verlust von Rumil, den sie gemocht und geschätzt hatte trotz der kurzen Zeit, die sie sich gekannt hatten. Und die Orks – die Orks.

Die Gesänge im Goldenen Wald verstummten, doch sie nahm es kaum wahr, auch nicht den Fortgang der Versammelten, der ohne Absprache und ohne ein weiteres Wort verlief. Irgendwann hob sie jedoch den Kopf, als sie spürte, dass sie nicht mehr alleine war. Haldir lehnte ein Stück entfernt von ihr an einem Baum, ein Bein lässig am Stamm abgestützt, der Blick wie immer kühl und undeutbar.

„Weinst Du um Dich selbst?", erkundigte er sich barsch. „Ich schwöre, ich habe noch niemals eine Frau unseres edlen Volkes so oft weinen sehen wie Dich."

Sie wusste, dass er sie verletzten wollte, wieder einmal und dass er wusste, dass es ihm auch gelang. Mit all der Würde, die ihr noch geblieben war, erhob sie sich und streifte die Tränen von den kalten Wangen, dann ging sie auf ihn zu. Mit Kraft schlug sie ihm ins Gesicht.

„Ihr habt gesagt, ich würde nicht wissen, warum ich Euch hasse? Ich sage, Ihr irrt Euch. Ich hasse Euch für jedes gemeine Worte, jede Wahrheit, die Ihr mir nicht erzählt, jeden Spott." Ihre Stimme hob sich leicht, kündete von ihrer kalten Wut. „Und ich hasse Euch, weil, was immer ich auch tue, Eure Wut gegen mich niemals abkühlen wird. Ich bin hergekommen, um Euren Bruder zu begleiten in Gedanken und wenn Ihr mir das recht dazu absprechen wollt, dann tut es ruhig. Was immer ich getan haben mag, um Euch gegen mich aufzubringen, ich akzeptiere es nicht als Grund, mich von Euch demütigen zu lassen."

Haldir hatte ihren Schlag mit stoischer Gelassenheit ertragen und seine Lippen bildete ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Dann wendete er den Blick ab.

„Du? Du hast mir nicht getan, Aewrin. Dich trifft an diesem Ganzen keine Schuld."

„Aber warum dann dies alles?" Sie ergriff seinen Arm, in Rage geraten wie stets, wenn er bei ihr war. „Warum seid Ihr so wütend und so verletzt und warum muss ich es immer wieder spüren?" Mit einem Ruck machte er sich los und ging davon, mit Schritten, die in allem an eine Flucht erinnerten. Doch Aewrin war nicht mehr bereit, auf eine Antwort zu verzichten und lief ihm nach. Regen bahnte sich mit immer größerer Gewalt den Weg zur Erde und benetzte ihr Gesicht und ihr Haar. „Bleibt stehen. Haldir. – Bitte!"

Sie überholte ihn und stellt sich ihm in den Weg, als er nicht reagierte. Was sie in seinem Gesicht sah, als sie ihn anblickte, ließ ihr den Atem stocken. Die Maske, die er trug, war fort und alle Qual, die er in diesem Augenblick empfinden mochte, war in seinen Zügen zu sehen.

„Geh", sagte er. „Lass mich alleine."

Es klang so müde, dass sich Aewrins Herz zusammenzog. Ihr Zorn war längst verraucht und hatte einem anderen Gefühl Platz gemacht, das viel tiefer in sie drang. Sie wollte es nicht deuten, dafür fehlte ihr an diesem Abend der Mut und der Wille.

„Nein, ich lasse Dich nicht. Was immer Dich angeht, ich kann nicht davon lassen." Sie hob trotzig den Kopf und trat auf ihn zu. Haldir wich zurück und hob eine Hand, wie um sie abzuwehren, doch sie ergriff sie mit beiden Händen und sah ihm in die Augen. „Warum nur habe ich das Gefühl, das sich alles verändert, seit ich Dir begegnet bin? Du kannst mich nicht in Ruhe lassen, jetzt nicht mehr, auch wenn Du es willst."

Der Galadhrim entzog sich ihr dieses Mal nicht. Kein Wort kam über seine Lippen, als er sie seinerseits musterte und schließlich seine freie Hand hob, um ihr eine nasse Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Sachte berührten seine Fingerspitzen ihre Schläfe und ihren Hals und Aewrin verharrte bewegungslos, weil sie diese Sanftheit erschütterte, mehr als jeder seiner Ausbrüche.

Seine nächsten Worte erklangen bitter hinaus in den Regen und in ihr Gesicht.

„Es ist noch nicht zu spät. Ich kann Dir nicht sagen, warum, aber Du wirst einmal begreifen, was ich meine. Noch einmal: bleib fern von mir und das, was begonnen hat, als wir uns das erste Mal trafen wir ein Ende finden, ohne dass Du verletzt werden wirst. Werde nicht zur Beute, wie Du es versprochen hast. Denn das wäre der Ruin. Ich werde Dich nicht weiter bedrängen."

Dann glitten seine Hände von ihr weg und er ließ sie alleine. Aewrin blieb inmitten des Regens stehen, sah ihm nach und fühlte, dass es bereits zu spät war.