Kapitel 13

Wahrheit

Als sich Schritte auf dem geharkten Kiespfad näherten, öffnete Aewrin die Augen wieder und lächelte überrascht beim Anblick der Gestalt, die auf sie zukam. Sie erhob sich und nahm die Hände des Mannes in ihre, als er zu ihr trat.

„Estel, es ist lange her."

Der menschliche Waldläufer lächelte und kleine Falten erschienen in den Winkeln seiner durchdringenden, blauen Augen. Aewrin fragte sich, ob diese Falten schon dort gewesen waren, als sie sich das letzte Mal begegnet waren.

„Ja, das ist es. Fünf Jahre in etwa, wenn ich mich nicht irre. Wie geht es Eurer Mutter?"

„Sie ging vor einem Jahr in die unerblichen Lande." Das war kurz vor ihrer Verbindung mit Belegren gewesen und es hatte sie geschmerzt, die Mutter bei der Zeremonie missen zu müssen. „Damit folgte sie meinem Vater, was zu erwarten war."

Aragorn, wie sein Menschenname war, lächelte mitfühlend und Aewrin neidete ihm für einen Moment seine Fähigkeit, tiefe Gefühle empfinden und auch leben zu dürfen. Sie wandte den Blick ab und löste ihre Hände, um die seinen freizugeben. Höflich erkundigte er sich:

„Und – wie ist es Euch ergangen in der letzten Zeit? Jedes Mal, wenn ich herkam, wart Ihr im Studium oder auf Reisen."

Aewrin hob die Schultern.

„Ja, damals war ich sehr beschäftigt und in die Bücher vertieft. Das hat sich ein wenig geändert, denn ich bin jetzt einem Mann aus Lorien verbunden und nur zu Besuch hier."

Aragorn machte eine einladende Geste zur Bank hin und sie nahmen Platz. Warme Sonne schien auf sie hinunter und zwischen den Blüten der Blumen tummelten sich Insekten und kleine Tiere. Aewrin ließ eine Hand über die zartweiße Blüte einer Clematis gleiten und musste unwillkürlich an Galadriel denken. Ihre Miene verfinsterte sich leicht, doch Estel, der viel mit Elben zu tun hatte und fast so etwas wie der Sohn des Hauses war, sprach sofort:

„Etwas betrübt Euch. Was ist es?" Aewrin hob leicht und ein wenig kraftlos die Arm, um abzuwinken, doch Aragorn beharrte: „Ich bitte Euch, Eure Familie liegt mir sehr am Herzen und wenn ich Euch helfen kann, dann werde ich es tun."

„Es ist - ." Sie brach ab. „Etwas sehr Persönliches. Belegren und ich -."

„Belegren?" Aragorns Miene verwandelte sich in eine Maske der Verwunderung. „Ihr seid mit ihm verbunden. Aber ich dachte-."

„Was dachtet Ihr?", platzte es aus Aewrin heraus und sie beugte sich vor. Aragorn wehrte ab, doch sie sagte mit Bestimmtheit in der Stimme, die sie bei sich gar nicht kannte: „Sagt es, ich bitte Euch!"

Der Mensch beugte sich ein wenig vor, die Ellbogen auf den Knien ruhend, den Kopf leicht gesenkt.

„Als ich Belegren kennen lernte, konnte ich keine Anzeichen dafür erkennen, dass er sich jemals – mit einer Frau verbinden würde." Seine Worte erklangen zögerlich und ein gewisser Schmerz klang darin mit. Aewrin ließ sich gegen die Lehne der Bank fallen, denn diese wenigen Worte hatten genügt, um ihr die Situation aufzuzeigen. Doch Aragorn sprach weiter: „Er liebte einen Mann, einen schönen, edlen Krieger, um den ich Belegren wahrhaft beneidete." Auf Aewrins verwunderten Blick hin erklärte er, fast trotzig: „Wenn man eine Seele mit solcher Inbrunst liebt, dass man zerspringen könnte in jedem Moment, in dem man ihr nicht nahe sein kann, dann spielt es keine Rolle, in welchem Körper sie ruht."

„Ihr – habt also diesen Krieger ebenfalls geliebt?" Aewrins Stimme erklang nur noch stockend, denn tief in sich wusste sie, von wem Estel sprach. Ihre im Schoß verkrampften Hände begannen zu zittern. Aragorn nickte.

„Ja, und – er und ich – wir ließen uns hinreißen. Belegren war wütend, denn er erfuhr es durch seinen Geliebten, der viel zu ehrlich war, um es ihm zu verheimlichen. Belegren schwor damals – es mag nicht mehr als ein Jahr her sein – dass er dieser Schmach entsprechend vergelten würde und wandte sich von-."

„- von Haldir ab", beendete Aewrin den Satz und spürte, dass ihr wieder einmal das Wasser in den Augen stand. Doch sie schluckte die Tränen hinunter. Sie hatte schon viel zu viele Tränen vergeudet für zwei Männer, die offenkundig gegeneinander spielten in einem Spiel, in dem sie selbst nur eine Figur war. Langsam erhob sie sich und Aragorn blickte sie verwundert an.

„Was habt Ihr?"

Aewrin drehte sich zu ihm und erklärte leise, aber mit fester Stimme:

„Ich habe verstanden, was vorgeht. Ich glaube, Belegren hat mich zur Frau genommen, um Haldir zu schaden und eifersüchtig zu machen. Und Haldir versucht, alles zu tun, um mich Belegren zu entreißen. Mit allen Mitteln."

Aragorn folgte ihrem Beispiel und erhob sich. Verwirrung und Anteilnahem lag in seinem Blick.

„Das könnte durchaus sein", gab er zu und seufzte leise. „Es tut mir Leid für Euch."

Aewrin schüttelte den Kopf und hob dann stolz das Kinn. In ihrem Inneren tobte ein Sturm aus Zorn und Trauer, doch ihr Zorn nahm überhand und stärkte sie innerlich. Wie hatte sie untere Belegrens Kälte gelitten, die ihrem Wesen so widersprochen hatte. Und wie dumm hatte sie sich benommen, wie leicht war sie zu manipulieren gewesen, um sich in Haldir zu verlieben.

„Das muss es nicht. Ob Ihr es mir glaubt oder nicht, es hilft mir in vielem – denn ich weiß nun, welche Entscheidungen ich zu treffen habe." Sie legte Aragorn die Hand auf den Arm. „Vielmehr muss ich Euch danke, Estel, denn wo Lügen verschwinden erscheint die Wahrheit."

„Was werdet Ihr tun?" Der Waldläufer schien besorgt. „Wie ich sagte, wenn Ihr Hilfe braucht-."

„Nein. Ich werde meinen Weg neu wählen und niemand anderes. Danke." Sie lächelte Aragorn zu und wurde dann einer schlanken Gestalt gewahr, die durch den Garten auf sie zuschritt. Aewrin erkannte Arwen und hob grüßend die Hand. Auch Aragorn drehte sich um und über sein Gesicht glitt ein befreiter, glücklicher Ausdruck. „Wie Ihr es sagtet – es ist die Seele ."

Mit diesen Worten wendete sich Aewrin endgültig ab und ging, um Elladan zu suchen.