Kapitel 15
Die andere Hälfte
Ein Tag kroch träge dahin, dann noch einer. Aewrin aß kaum etwas, sondern lag die meiste Zeit auf ihrem Bett in dem Gästehaus, in dem Elrond sie so freundlich untergebracht hatte und sah hinaus in den blauen Himmel über Bruchtal. Hin und wieder kaum Elladan zu ihr, um zu berichten, dass auf den Pässen nun seltsamerweise Schnee lag, viel zu früh im Jahr und dann es in den nächsten Tagen zu einem Konzil kommen würde. Worum es ging, verriet er ihr nicht, aber ihm war anzusehen, dass es etwas sehr Ernstes sein musste. Seine Besuche waren kurz gehalten, auch wenn er stets beteuerte, dass er es gerne anders hätte, doch Aewrin machte ihm keinen Vorwurf. Sie sah, dass er abends mit seinem Vater oftmals in den Gärten spazieren ging und redete, stundenlang, erregt und traurig zu gleich.
Irgendeine Bedrohung kroch heran wie ein träger Schatten. Es war überall zu fühlen, im Wind, in den flüsternden Stimmen der Elben vor Aewrins Fenster und als es eines Mittags an ihrer Tür klopfte und sie Aragorn davor fand, wusste sie, dass etwas geschehen war.
Die Miene des Waldläufers war ernst, als er an ihr vorbeitrat und die Tür mit bedachter Geste schloss.
„Der Rat der Menschen, Zwerge, Elben und Hobbits hat getagt und mein baldiger Aufbruch ist beschlossen", verkündete er ernst und stellte sich vor sie, sie prüfend musternd. „Aber das ist es nicht, weswegen ich zu Euch komme. Haldir ist hier."
Aewrin ließ sich auf einen Stuhl sinken und verschränkte die Hände, um deren Zittern zu verbergen.
„Das ist – eine Überraschung", murmelte sie leise und sah zu Aragorn, der sie weiterhin mit gütigem, aber traurigem Blick betrachtete. „Was gibt es noch, was Ihr mir dazu sagen wollt?"
„Er war nur sehr kurz bei Elrond und dürfte sich bereits wieder bei den Ställen befinden. Es sieht so aus, als wäre er von Galadriel geschickt worden, um Meldung über den Zustand der Pässe zu machen und sich in ihrem Namen über die bevorstehende Reise meiner Gruppe zu informieren."
Aewrin nickte leicht, ein wenig betäubt von der Nachricht und barg für einen Moment die Augen in der Hand. Dann erhob sie sich. Aragorn trat erneut auf sie zu und ergriff ihre Hand.
„Glaubt Ihr, es ist klug, zu ihm zu gehen?"
„Ich glaube kaum, dass ich bisher darauf geachtet habe, was nun klug ist oder was nicht." Sie tat seine Worte mit einer kleinen Geste ab und seufzte dann leise. „Gerade was ihn angeht -. Da spricht noch zu sehr mein Herz. Vielleicht kann ich es so heilen – auf die eine oder andere Weise."
Aragorn neigte sich mit einer eleganten Bewegung über ihre Hand und gab sie frei.
„Da wir uns vielleicht vor meiner Abreise nicht mehr sehe werden, wünsche ich Euch Erfolg und dass Ihr Euer Glück finden möget. Mögen Eure Füße stets über Blumen und Euer Geist stets bei den Wolken wandeln."
„Dasselbe Wünsche ich Euch, Estel. Und ich danke Euch – für alles."
Er öffnete ihr die Tür und Aewrin eilte hinaus in den hellen Sonnenschein des Nachmittags. Die Röcke ihres Kleides schlugen ihr gegen die Beine, als sie die kiesbestreuten Pfade zu den Ställen hinunterhastete. Mehrere Elben wichen ihr aus und blickten ihr verwundert nach, doch sie ignorierte es und erreichte schließlich den großen Platz vor den Ställen. Er war leer.
„Aewrin!", erklang Elladans Stimme hinter ihr und sie zuckte angespannt zusammen. Er erreichte den Ort wenige Augenblicke nach ihr. „Was willst Du hier?", fragte er und ein Hauch von Anklage lag in seiner Stimme. „Du wirst ihn hier nicht mehr finden. Sicherlich ist er schon abgereist."
Sie blickte in das vertraute und geschätzte Gesicht des Mannes und musste wider Willen lächeln, so sehr rührte sie seine Besorgnis an.
„Mach Dir bitte keine Sorgen um mich. Mir geht es sehr gut. Und ich weiß, was ich will."
„Aewrin, ich will nur, dass Du glücklich bist, hier bei uns, bei mir-." Beschwörend legte er die Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie leicht. Er setzte schon zu einer weiteren Rede an, als eine kühle Stimme sagte:
„Entschuldigt die Störung."
Die Tür zu den Stallungen schwang auf und Haldir erschien, gekleidet in die staubige Rüstung und Tunika eines Galadhrim. Er blickte von Aewrin zu Elladan und Elronds Sohn ließ abrupt die Hände fallen. Aewrin errötete vor lauter Wut über den Vorwurf in Haldirs Augen, denn sie ahnte, was er gesehen zu haben meinte. Eigentlich, so sagte sie sich, musste sie sich nicht rechtfertigen. Doch der Gedanken, ihm wehgetan zu haben, war noch schlimmer als ihr verletzter Stolz und so trat sie auf ihn zu.
„Haldir-", sagte sie sanft und mit zitternder Stimme. Statt zu antworten schwang er sich in den Sattel und blickte auf sie herab, Hochmut in den Augen. „Ich möchte Dir sagen, dass -."
Doch er schüttelte nur den Kopf. Trauer und Resignation schwangen in seinem Tonfall mit, nur ganz sacht, für niemanden, der ihn nicht kannte, zu erkennen.
„Ich wüsste nicht, was wir uns noch zu sagen hätten, Aewrin. Jeder sollte sein Glück auf seine Weise finden und wenn Du glaubst, dass es an diesem Ort liegt, dann gönne ich es Dir." Sprachlos wollte Aewrin erneut anheben, doch ihr versagte die Stimme. „Ich hoffe, Du verzeihst mir, den ich hab viele Fehler gemacht. Aber der größte war wohl zu glauben, dass es bei dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, uns eine Zukunft gemeinsam bestimmt wäre. Leb wohl."
Er drückte seinem weißen Hengst die Fersen in die Seite und das Tier stob davon. Aewrin starrte ihm in fassungsloser Erschütterung hinterher und spürte Elladans Hand auf ihrer Schulter ruhen. Als das Geräusch der Hufe in der Ferne verklungen war, sagte er sanft:
„Ich glaube, dass es so am besten ist. Ich weiß zwar nicht, was zwischen Euch gewesen ist, aber-."
„Vorgefallen?" Aewrin schüttelte nur den Kopf und versuchte vergeblich, ihrer Stimme ein Hauch Amüsement zu verleihen, doch alles, was sie sagte, klang bitter und tot. „Es ist nichts – vorgefallen. Nichts, was wirklich eine Versprechung oder Hoffnung zu erkennen erlaubt hätte." Dann wendete sie sich ab und streifte seine Hand sanft, aber bestimmt von ihrer Schulter. „Vielleicht habe ich zuviel in ihm gesehen. Weil ich es so wollte. Den Seelenverwandten, den ich in meiner Traurigkeit gesucht habe. Doch ich habe zu wenig nachgedacht, wie mir scheint und zu wenig auf die Stimmen der Vernunft gehört, die mich von Anfang an gewarnt haben."
„Mach Dir bitte keine Vorwürfe", erklang Elladans hilflose Stimme hinter ihr, als sie sich anschickte, zum Haus zurückzukehren. Sie sah nicht zurück, blickte nur stumm zu Boden. Vorwürfe? Sie wusste nicht einmal, warum sie das tat. Weil sie sich in Haldir getäuscht hatte? Oder weil ihr Herz so laut nach seiner verlorenen Hälfte schrie, sie aber nicht bereit war, dem Drängen nachzugeben? Erneut eine Frage ohne Antwort.
