Kapitel 16
Entschlüsse
Aragorn verließ Bruchtal einen Tag später und Aewrin erfuhr es erst, als Elladan ihr am Abend beim gemeinsamen Training davon berichtete. Während er bedächtig einige Schläge führte, erzählte er:
„Sie haben sogar einen Zwerg dabei. Wollen wir hoffen, dass es da keine Probleme gibt – Zwerge können solch einen Dickschädel haben."
„Ich glaube, dass Elben den auch haben, nur sind unsere Schädel nicht ganz so breit", gab Aewrin lächelnd zurück und wehrte seine Angriffe ab. Doch sie tat es eher halbherzig und so glitt die Spitze seiner Klinge, die sie an ihrer herabrutschen ließ, gefährlich nah an ihrer Schulter vorbei. Elladan schüttelt den Kopf und trat rasch zurück.
„So geht das nicht. Du musst Dich schon konzentrieren, sonst wird einer von uns beiden verletzt."
„Entschuldige bitte." Sie seufzte leise und ließ die Waffe sinken, während sie zum Rand des Pavillons trat und auf das abendliche Bruchtal hinabblickte.
„Ich muss meinem Sohn zustimmen", erklang Elronds leicht tadelnde, aber nicht unfreundliche Stimme, als er von der anderen Seite des kleinen Baus her eintrat. „Ihr wirkt sehr durcheinander in den letzten Tagen und ich komme, um mich danach zu erkundigen."
Er entließ seinen Sohn mit einer Handbewegung, die Elladan sofort befolgte, nicht aber, ohne ihr noch einen letzten aufmunternden Blick zugeworfen zu haben. Aewrin verneigte sich leicht vor dem Herrn von Bruchtal und steckte ihr Schwert weg.
„Ihr seid überaus freundlich, Herr Elrond. Aber – es ist nichts. Nichts, was nicht irgendwann einmal vergehen würde."
Dessen war sie sich eigentlich nicht sicher, aber es berührte sie eher unangenehm, dass ihr Kummer selbst zu Elrond gedrungen war und er sich bemüht sah, in diesen schlimmen Zeiten nach ihr zu sehen.
„Elladan war so freundlich, mir ein wenig Aufschluss über Euer Befinden zu geben", vertraute der Herr von Bruchtal ihr an und Aewrin biss sich verärgert auf die Lippe. Doch dann gab sie ihre Haltung auf, wusste sie doch, dass ihr Freund nur besorgt war.
„Ich leide unter einem Herzensschmerz", fasste sie all das, was in ihrem Inneren vorging, in einfache Worte und schenkte Elrond ein zittriges Lächeln. „Es ist, als könnte ich mich nie mehr über etwas freuen."
Der Elb senkte leicht den dunklen Kopf und für eine kleine Weile entstand Schweigen, nur durchbrochen vom Rauschen der Blätter der nahen Bäume. Dann erhob er wieder seine Stimme, sehr leise und sanft:
„Als meine Frau von mir ging, ging es mir ebenso, aber ich hatte drei wunderbare Kinder, die mir Halt gaben und in jeder ihrer Geste erkennen ließen, wie sehr sie Celebrian ähnelten. Ich weiß, dass sie auf mich wartet und ich sie bald wiedersehen werde, wenn ich in den Westen gehe. Ihr aber seid allein, Aewrin und ich glaube, dass nicht einmal Freundschaft, wie sie mein Sohn Euch entbietet, Euch über Euren Schmerz hinweghelfen wird. Es wäre mir eine Freude, wenn Ihr mit mir und meiner Tochter ginget, wenn wir aufbrechen. Bis dahin ist nicht mehr lange Zeit. Ich glaube, dass Eure Eltern Euch sehnlichst erwarten in den Landen und dass ihre Liebe Euch helfen wird über das Leid, was Euch wiederfahren ist."
Lange sann Aewrin über Elronds Rede nach. Er verharrte neben ihr, legte nur einen Moment sacht die Hand auf ihre Schulter, als sie ihre Augen dem Tal entgegenwandte und die Schönheit in sich aufnahm, die ihr nun stumpf und trist vorkam. Ja, es gab nichts, was sie in Mittelerde hielt, hier lagen nur Erinnerungen, die in ihr Herz schnitten und es auch weiterhin tun würden, wenn sie blieb.
„Ich werde mit Euch kommen", entschied sie dann und musste dann den Pavillon verlassen, um vor Elrond nicht in Tränen ausbrechen zu müssen. Ihr Herz schrie nach Haldir, aber ihr Verstand hatte bei ihrer Entscheidung die Oberhand behalten und nun gab es kein Zurück mehr. Zu oft schon war sie wankelmütig und schwach gewesen, wie oft hatte sie ihre Gefühle sprechen lassen, wenn doch ihre Vernunft der richtige Weg zur Findung einer Entscheidung gewesen wäre? Mit Schritten, die von Mal zu Mal entschiedener wurden, kehrte sie in ihr Zimmer zurück.
Die folgenden Tage vergingen wie im Flug. Aewrin hatte nicht lange gebraucht, um ihre liebsten Besitztümer zusammenzusuchen und zu packen. Es war traurig und bedrückend zu sehen, wie sich Bruchtal, das so voller Leben gewesen war, nun nach und nach in einen Ort der Stille verwandelte. Immer wieder zogen nun Gruppen von Elben dem Westen entgegen, ihre Gesänge erfüllten das Tal mit den donnernden Wasserfälle und den stets grünen Bäumen, bis sie in der Ferne verklangen. Sie alle sprachen nur ‚Lebt wohl, bis wir uns wiedersehen'.
Elrond, seine Tochter und seine engsten Vertrauten würden als letzte Gruppe das Haus des Halbelben verlassen und es ehrte Aewrin, zu ihnen gehören zu dürfen, aber je näher der Tag kam, desto unruhiger wurde sie. Mochten es die dunklen Wolken sein, die hin und wieder wie verkrüppelte Arme über die Berge reichten oder die ungewohnte Ruhe, die über dem Ort lag – sie wusste nicht zu deuten, was vor sich ging.
Eines Nachmittags, als sie im Stall bei ihrer Stute war, um ihr eine neue Satteldecke für den weiten Ritt zum Ozean anzumessen, hörte sie, wie sich eiliger Hufschlag näherte. Als sie aus dem Stallgebäude trat, um zu sehen, blieb ihr fast das Herz stehen. Der silberblonde Reiter, der sein Pferd hart zügelte, als er sie sah, kam fast einen Augenschlag später mit beiden Füßen auf dem Boden auf, sein Pferd am Zügel packend, und verneigte sich vor ihr.
„Orophin", stammelte sie. „Was führt Euch her. Ist etwas geschehen?"
„Ich fürchte, ich kann keine guten Nachrichten überbringen", sagte Haldirs Bruder und wischte sich den Staub des heftigen Rittes aus der Stirn. „Es gab einen heftigen Kampf zwischen Eurem Gefährten Belegren und meinem Bruder."
„Ist Haldir verletzt?", entfuhr es Aewrin und sie sah, dass Orophins Augenbraue anerkennend kurz zuckte, was sie schmerzlich an seinen Bruder erinnerte.
„Ich sehe, Haldir ging nicht fehlt, als er Euch zu seiner Priorität machte – Ihr haltet es wohl ebenso. - Belegren beschmutzte Euren und Haldirs Namen und mein Bruder sah sich genötigt, Euren Gefährten herauszufordern. Zu guter Letzt konnte die Herrin beide trennen, doch nun liegt unversöhnlicher Hass über Lorien. Zur Strafe für sein Fehlverhalten und die Nichtbeachtung ihrer Befehle beauftragte die Herrin Galadriel Haldir mit der Führung eines Trupps von Kriegern, die zu den Menschen in eine Schlacht gehen sollen. Eine wie ich fürchte aussichtslose Schlacht. Die Orks überschwemmen das flache Land der Reitervölker wie ein schwarzes Meer."
Aewrin stand wie versteinert und brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten.
„Sie schickt ihn in den Tod?"
Orophin nickte grimmig.
„Ja, denn er ist verletzt, aber sein Stolz und sein Wille hindern ihn daran, ihr zu widersprechen. Er ist der Meinung, alles verloren zu haben, was ihm wertvoll war. Zuerst unseren geliebten Bruder und nun Euch. Ein Wort der Entschuldigung von ihm an Galadriel, die im von Herzen zugetan ist, und sie würde ihn zurückziehen von diesem Kommando, doch er ist zu stolz und zu bitter."
„Ist er bereits fortgezogen?"
„Nein, aber es kann sich nur noch um Tage handeln."
„Dann werde ich Euch begleiten, Orophin."
