Kapitel 17
Licht und Schatten
Über den Pässen lag undurchdringlicher Frost, viel zu früh für die Jahreszeit und Aewrin und Orophin mussten mehr als einmal die Rücken der Pferde verlassen, um diese vorsichtig selbst über besonders gefährliche Stellen des Pfades zu führen. Doch irgendwann war der Grat überschritten und sie bewegten sich hinab in das sich sanft windende Tal des Anduin und die Luft wurde wärmer. Die Schneeflocken, die auf Aewrins Haar und ihrem grauen Mantel lagen, schmolzen und vermischten sich mit dem sachten Regen, der vom drückenden Himmel fiel.
Orophin bot ihr nicht an, eine Pause zu machen, denn er schien zu wissen, dass sie das nicht wollte. Je grüner die Bäume wurden, je saftiger das Land, desto unruhiger wurde sie und als sie nach fast zwei Tagen gegen Abend den Goldenen Wald erreichten, war ihr, als müsste sie vor Nervosität fast zerspringen.
Die Wachen auf den Bäumen grüßten zu ihnen hinunter und mehr als ein verwunderter Blick traf die beiden Reiter, denen die Hast und Strapaze ihrer Reise anzusehen war. Sie trabten durch den lichten Wald und Orophins Miene war wie Stein, als er die Hand hob, um auf etwas vor ihnen zu zeigen. Aewrin hob den Kopf und sah am Fuß eines gewaltigen Mallornabaumes, der die Peripherie des innersten Rings Lothlóriens kennzeichnete, Belegren auf einem schwarzen Ross.
Als sie näher kamen, trabte auch er an und kam zwischen Orophin und Aewrin zum Stehen. Er maß sie mit einem kalten, verächtlichen Blick.
„Ich hätte mir denken können, dass Du herkommst, Aewrin. Treibt Dich Dein beschädigter Ruf so um, dass Du Elronds Haus verlassen musstest?"
Sie hob das Kinn und blickte ihm geradewegs in die Augen.
„Ein Ruf, den Du zerstörtest. Aber nein, Du irrst Dich. Ich kam nicht wegen mir – oder gar wegen Dir. Und nun lass mich vorbei."
Belegren deutete im Sattel eine spöttische Verbeugung an.
„Es gibt hier nichts mehr zu retten für Dich. Die Entscheidungen sind längst getroffen und das Schicksal nicht mehr abzuwenden."
Aewrin beachtete ihn nicht und trieb ihr Pferd wortlos an ihm vorbei und er bemühte sich nicht, sie zu verfolgen. Als sie zu Orophin sah, der wieder zu ihr aufschloss, sah sie sein freundliches Nicken und fühlte sich ein wenig besser.
An den Ställen ließen sie die Tiere in fachkundigen Händen zurück und betraten eine breite Wendeltreppe, die sie in die Höhe führte. Als sie oben standen, verharrte Orophin kurz und blickte Aewrin durchdringend an.
„Ihr solltet vielleicht zuerst Galadriel aufsuchen. Sie war nicht sehr erfreut über das, was geschehen ist."
Die Elbe schüttelte nur stumm den Kopf.
„Wenn ich einige Stunden später zu ihr komme, dann wird das auch nichts ungeschehen machen für sie – aber vielleicht eine Menge für Euren Bruder."
Orophin neigte leicht den Kopf und ein Lächeln überzog sein sonst so beherrschtes, hübsches Gesicht.
„Wenn Ihr Hilfe braucht, wendet Euch an mich."
Dann wendete er sich ab und war wenig später über eine Brücke im Geäst eines Baumes verschwunden. Aewrin verharrte eine Weile dort, wo sie stand und sah ihm nach, doch schließlich vermochte sie sich in Bewegung zu setzen und sich auf den Weg zu Haldirs Talan zu machen.
Der Blick hinunter auf den Boden des Waldes offenbarte ihr einige Aktivität – offenbar wurden dort die Vorbereitungen für den Aufbruch der elbischen Kampfgruppe getroffen, die der Hauptmann der Galadhrim übernehmen sollte. Das sirrende Klingen eines Ambosses hallte durch die Kronen der Mallornbäume und machte Aewrin bewusst, dass ihr nur noch sehr wenig Zeit blieb.
Der Vorhang zu Haldirs Behausung war geschlossen und wurde nur durch einen leichten Windhauch bewegt. Aewrin strich ihn lautlos zur Seite und trat in den Eingang. Ihr Herz begann schmerzvoll zu schlagen, als sie ihn an seinem Tisch sitzen sah, mit dem Rücken zu ihr. Sein Oberkörper war unbekleidet, doch breite Streifen von Verbänden um seine linke Schulter und seinen Rücken stachen milchweiß von seiner Haut ab. Wirres blondes Haar fiel darüber, wie um die Spuren der blutigen Auseinandersetzung zu verdecken. Haldir saß einfach nur da, die Hände flach auf dem Holz der Tischplatte liegend und sah aus dem Fenster.
„Geh weg, Orophin!" Seine Stimme war nicht mehr als ein kühles Flüstern. „Deine Ratschläge kann ich wirklich nicht brauchen." Aewrin vermochte nichts zu sagen, doch sie atmete tief aus und plötzlich spannte sich Haldirs Rücken an. Doch noch immer drehte er sich nicht zu ihr um. Aewrin überwand ihre plötzliche Scheu und trat leise näher. Nach einem unmerklichen Zögern legte sie eine Hand auf seine unverletzte Schulter und spürte, dass er zusammenzuckte. „Warum bist Du zurückgekommen?"
Doch plötzlich legte sich seine Hand über ihre und sie wusste, dass der ruhige Ton seiner Stimme trog. Zu oft, viel zu oft war es ihm gelungen, ihr etwas vorzumachen und seine wahren Gefühle hinter einer Maske zu verbergen.
„Ich kann an keinem Ort verweilen, an dem Du nicht bist", wisperte sie und verflocht ihre Finger mit seinen. Und dann schließlich erhob er sich, um sie anzusehen und was sie in seine schönen Gesicht erblickte, ließ sie zittern vor Freude und doch ungeahnt tiefer Traurigkeit. „Ich habe noch nie das Sonnenlicht so hell scheinen gesehen und ich habe noch niemals eine solche Dunkelheit verspürt wie in diesem Augenblick."
Haldir beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen und sie spürte, dass auch er vor unterdrückter Emotion zitterte. Dennoch war die Umarmung, in die er sie zog, von großer Sanftheit.
„Es tut mir leid", sagte er leise und ließ die Spitzen seiner Finger durch ihr Haar und über ihren Rücken gleiten. „Du bist wohl umsonst gekommen."
Aewrin wollte nachfragen, doch plötzlich begriff sie. Aus den Augenwinkeln sah sie ein goldenes Blitzen und bemerkte plötzlich die Teile einer prachtvollen Rüstung in der Ecke des Talans liegen, aufgereiht auf kostbarem, schwerem Tuch.
„Warum?", entfuhr es ihr und sie wollte zurückweichen, doch nun hielt er sie fest, damit sie ihm nicht entkam. Sie wehrte sich nur kurz, dann erschlaffte sie. Jener kleine Zweifel, der ihr auf dem Weg nach Lorien bereits gekommen war, wurde nun übermächtig und zur ein bodenloses Loch erzeugenden Gewissheit. Sie nickte an seiner Schulter und schluckte. „Ich verstehe. Ganz gleich, worum ich Dich bitte, Du wirst gehen. Weil Du Dich Deiner Heimat verpflichtet fühlst – und Galadriel."
Ein Hauch von Bitterkeit bemächtigte sich ihrer. Sollte alles umsonst gewesen sein? All die Missgunst, der Verrat und die Schmerzen, die alle Beteiligten ausgestanden haben mussten? Doch dann sprach Haldir und es waren schlichte Worte, ganz andere als jene, die Aewrin erwartete hatte.
„Nein. Ich gehe, weil ich Dich liebe und in einer Welt, in der Du bedroht würdest, würde ich nicht weiterleben wollen."
