AN: Vorsicht, akute Taschentuchgefahr! Außerdem OOC-ness!

Part IV: Remembering

Mehrere Tage vergingen, in denen Kais Verletzungen, welche er in seinem harten Match gegen Ian zugefügt bekommen hatte, langsam wieder heilten. Tage, in denen Tala, Ray, Kenny und Max merkten, daß Kai sich redlich bemühte, ihnen gegenüber weniger kühl und abweisend zu sein – ihr Teamcaptain nahm das Versprechen, das er Thyros gegeben hatte, sehr ernst, auch wenn es ihm schwerfiel. Sich jemandem zu öffnen bedeutete immer die Gefahr, wieder verletzt zu werden. Doch Thyros hatte Kai gesagt, daß von seinem Team für ihn keine Gefahr ausging – sondern, daß die vier anderen Jungen ihn vielmehr sehr mochten.

Und auch wenn Kai noch oft in seine schweigsame, abwehrende Haltung zurückverfiel, so reagierten Max, Ray, Kenny und Tala doch mit erneutem Enthusiasmus auf Kais zögernde Versuche, mehr mit ihnen zu unternehmen und endlich Freundschaft zu schließen. So kam es mit der Zeit auch, daß die Bladebreakers einige Details aus Kais Leben erfuhren – doch am heutigen Tag würde ihnen ein besonders trauriges Kapitel der Vergangenheit ihres Teamchefs eröffnet werden.

Die Mitglieder der anderen Teams waren inzwischen abgereist, da bis zur Abschlußrunde der Champion Ships, welche in Moskau stattfinden würde, noch einige Wochen Zeit war. Daher war nur noch das Team der Bladebreakers in der Stadt, da sie durch die Verletzungen ihres Teamchefs noch nicht hatten abreisen können. Mr. Dickensen hatte den fünf Jungen eine Suite in einem kleinen Hotel besorgt, wo sie bis zu dem Zeitpunkt wohnen würden, da Kai wieder völlig gesund war. Eine Gesundung, welche physisch durch Kais ausgezeichnete Konstitution nicht mehr in Frage stand – doch das emotionale Gleichgewicht des Jungen war eine ganz andere Geschichte.

Schon den ganzen Morgen über war Kai sehr still und in sich selbst zurückgezogen gewesen. Sein Bein war so weit geheilt, daß der Junge mit dem graublauen Haar wieder fast problemlos laufen konnte. Doch seit Stunden stand er nun schon bewegungslos am Fenster und schaute in die Ferne, als sähe er dort etwas, was jeder anderen Person verborgen blieb.

Seinen vier Teamgefährten war dieser abrupte Rückfall in Kais früheres Verhalten, nachdem er in den vergangenen Tagen langsam ihnen gegenüber etwas aufgetaut war, sofort aufgefallen und sie machten sich Sorgen um ihn. Kai hatte in der Frühe kaum etwas gegessen und die ganze Zeit über völlig geistesabwesend gewirkt, so daß er kaum auf die Versuche, mit ihm zu reden, reagierte. Daher hatten Tala und der Rest des Teams es für eine Weile aufgegeben, da sie hofften, Kai werde von allein wieder aus seinem abwesenden Zustand auftauchen.

Doch als ihr Teamcaptain Stunden später nicht zum Mittag erschien, wurde Ray, Max, Tala und Kenny klar, daß sie etwas unternehmen mußten. Sie beratschlagten eine Weile untereinander und beschlossen dabei, Kais zögerliche Zuwendung der letzten Tage zu ihnen dazu zu nutzen, herauszufinden, was ihn bedrückte.

Ray, welcher für das Team das Mittagessen gekocht hatte, erbot sich, die ‚Vorhut' zu bilden und unter dem Vorwand, Kai etwas zu essen zu bringen, den Älteren vielleicht zum Reden bewegen zu können. Kenny, Tala und Max wollten sich vorerst im Hintergrund halten und nur im Notfall hinzukommen.

Daher schritt Ray nun mit einem vollbeladenen Tablett zu dem Zimmer, welches Kai in ihrer Suite bewohnte und klopfte vorsichtig an. Als auch nach mehrmaligem Klopfen keine Aufforderung zum Eintreten kam, zuckte Ray die Schultern und drückte einfach die Klinke herunter.

Eintretend bemerkte er Kai am Fenster stehend und regungslos in die Ferne schauen. Der ältere Junge gab kein Anzeichen von sich, seinen Teamgefährten bemerkt zu haben, sondern machte auf Ray eher den Eindruck, völlig in Gedanken versunken zu sein. Und zwar keinen glücklichen Gedanken, fiel dem jungen Chinesen auf, als er den Ausdruck von kaum verhaltenem Schmerz in den sonst so ruhigen Augen seines Teamcaptains erkannte.

Das Tablett mit dem Mittagessen auf einem nahen Tisch abstellend, trat Ray auf Kai zu und berührte diesen dann behutsam an der Schulter, um den Älteren auf sich aufmerksam zu machen. Doch er mußte Kai erst ein wenig rütteln, bevor dieser endlich den Blick von der Weite abwandte und leicht zusammenzuckte, als er den jüngeren Blader neben sich stehen sah. Kais Augen hatten einen schmerzvollen, verhangenen Ausdruck, welcher sich nur langsam wieder klärte – bevor sich ihr Blick fragend auf Ray richtete. Dabei konnte dieser mitansehen, wie Kai instinktiv versuchte, seine Emotionen zu verbergen...die Maske, welche der Ältere so lange auch den vier Bladebreakers gegenüber getragen hatte, wieder aufzusetzen.

Warum dieser Instinkt, fragte sich Ray im Stillen, ‚Glaubt Kai, seine Gefühle vor uns verbergen zu müssen, damit wir unsere Meinung über ihn nicht verlieren? Warum ist er so sicher, daß wir ihn verletzen würden, wenn er uns ein wenig vertraut?'

„Bitte, tu das nicht, Kai", bat der junge Chinese daher mit leiser, aber eindringlicher Stimme. „Verbirg nicht vor uns, wenn du Kummer hast. Wir würden dir gern helfen, doch das können wir nicht, wenn du uns nicht sagst, was dich bedrückt."

Nach seinen Worten spürte Ray, wie Kai sich unter seiner Hand, die noch immer auf der Schulter des älteren Bladers lag, verspannte. Der Teamchef der Bladebreakers wandte den Blick von Ray ab und wieder dem Fenster zu, als wolle er diesem sagen, er solle ihn allein lassen. Abwesend fuhr Kais linke Hand zu seinem Hals und holte eine unter dem Ausschnitt seines Shirts verborgene Kette hervor. An dem feingliedrigen silbernen Kettchen hing eine weiße Feder. Doch es war nicht irgendeine Feder, wurde Ray bewußt, dessen Blick sich instinktiv auf den Gegenstand an der Kette gesenkt hatte. Diese Feder, welche Kais Hand jetzt wie haltsuchend umfaßte, strahlte ein fast unsichtbares Schimmern aus. Es war eine Feder aus einem Flügel des Engels...von Kais Freund. Seinem Schutzengel.

„Kai?", sprach Ray seinen Teamchef erneut mit gesenkter Stimme an. Es schien ihm, als dürfe er jetzt nichts Falsches sagen, sonst würde Kai sich ihm und dem Rest ihrer Freunde niemals anvertrauen. Und das wäre etwas, was ihr Team letztendlich nicht verkraften würde. Es würde sie auseinanderreißen.

Und das wollte Ray auf jeden Fall verhindern.

Als sich der Blick der karmesinroten Augen nach ein paar Sekunden des Schweigens wieder auf ihn richtete, deutete Ray auf die Feder in Kais Hand. „Sie ist wunderschön, Kai", begann der junge Chinese und fühlte Erleichterung, als Kais Blick sich klärte und sichtlich wärmer wurde, als der ältere Blader die weißleuchtende Feder in seiner Hand betrachtete. „Sie ist von deinem Engel, nicht wahr?", fügte Ray dann hinzu. Kai schaute nicht wieder auf, doch er nickte schließlich schweigend.

„Erinnerst du dich daran, was er vor ein paar Tagen in dem Krankenzimmer gesagt hat? Die Erklärung, warum wir ihn zu sehen vermochten?", fuhr Ray fort, als Kai weiterhin schweigsam blieb.

‚Kai, auch Freundschaft ist eine Form von Liebe. Die Zuneigung, die man seinem Freund oder seiner Freundin entgegenbringt, hat sehr große Macht und setzt daher manchmal sogar gewisse Regeln außer Kraft. Du wolltest mir nicht glauben, als ich dir sagte, auch andere Personen würden dich sehr mögen, doch nun hast du den besten Beweis dafür bekommen, daß ich Recht hatte mit meinen Worten.'

Als hätte Thyros diese Worte gerade eben laut ausgesprochen, hörte Kai sie erklingen und wandte nun endlich den Blick von der Feder in seiner Hand ab. Während er seine Augen erneut auf Ray richtete, hörte er ebenfalls, was sein bester Freund ihm damals noch gesagt hatte.

‚Laß sie an dich heran, Kai. Keiner von ihnen will dir etwas Böses – vielmehr mögen sie dich sehr, vor allem dein eigenes Team. Versuch, dich ihnen gegenüber etwas zu öffnen – du wirst es nicht bereuen, mein Freund.'

Und er hatte Thyros versprochen, es zu versuchen. Kai hatte dieses Versprechen die letzten Tage über einzulösen versucht, obwohl es ihn teilweise große Mühe gekostet hatte, die Schutzmauern um sein Herz herabzulassen. Doch er hatte auch bemerkt, wie sehr sich Ray, Tala, Kenny und Max über sein verändertes Verhalten freuten.

Heute jedoch hatte Kai nicht die Kraft dafür, eine Freundschaft zwischen sich und seinem Team aufzubauen. Heute brauchte er alle Kraft für sich selbst, um den Tag zu überstehen.

Heute war ein Tag, der Kai jedes Jahr zu zerreißen drohte.

„Kai, die Anderen und ich sind jederzeit für dich da. Wir sind deine Freunde", erklang erneut Rays leise Stimme. Ein leichtes Flehen lag darin, als wolle der jüngere Blader ihn von der Wahrheit seiner Worte überzeugen, fiel Kai auf. „Wenn du jetzt nicht mit mir reden willst, dann verstehe ich das und werde wieder gehen. Doch ich habe dir etwas zum Essen mitgebracht, da du vorhin nicht zum Mittag gekommen bist", fügte Ray hinzu. „Bitte iß wenigstens etwas. Es wird dir helfen, wieder ganz gesund zu werden."

‚Es wird dir helfen, wieder ganz gesund zu werden.' Dieser letzte Satz hallte förmlich in Kais Kopf wider. Ein bitteres Lächeln flog über die Züge des älteren Bladebreakers. Als wenn ihm eine Mahlzeit dabei helfen würde, gesund zu werden. Sie würde seinem Körper wichtige Nährstoffe geben, doch die Wunden in seinem Herz und seiner Seele würden davon nicht heilen. Besonders nicht am heutigen Tag.

Dennoch wandte Kai unwillkürlich den Kopf, um zu sehen, was Ray gekocht hatte. Als sein Blick auf das Tablett mit dem großen Teller Spaghetti fiel, zuckte Kai sichtlich zusammen und Schmerz huschte erneut durch seine Augen, als er von Erinnerungen überflutet wurde. Sie hatte Spaghetti immer geliebt.

Leichte Schritte rissen Kai aus seinen Gedanken und er blinzelte, um sich von den Fetzen dieser Erinnerung zu befreien. Den Kopf zur Tür wendend, welche in diesem Moment leicht quietschend geöffnet wurde, sprach Kai zum ersten Mal, seit Ray den Raum betreten hatte. „Hol die Anderen her, Ray. Ich habe euch allen etwas zu erzählen."

Verwundert blickte der Angesprochene sich zu seinem Teamchef um. Kais Stimme klang müde, doch gleichzeitig schwang in ihr auch die innere Stärke und Entschlossenheit mit, welche Ray an dem älteren Jungen so bewunderte.

Er sah, wie Kais Blick an dem Teller mit dem Essen hing, welchen er diesem gebracht hatte und fragte sich besorgt, was der Grund für die fast sichtbare Aura aus Schmerz war, welche seinen Teamchef umgab. Doch dann nickte er nur stumm und verließ das Zimmer, um den Rest der Bladebreakers zu holen, wie Kai verlangt hatte.

Wenige Minuten später standen die vier Jungen vor Kais Zimmertür und blickten sich für einen Augenblick schweigend an. Sie spürten, daß etwas Bedeutsames in der Luft hing. Etwas würde bald geschehen und die Jungen stählten sich unwillkürlich in Erwartung darauf.

Eintretend fiel ihr Blick auf Kai, welcher inzwischen wieder am Fenster stand und hinaussah. Dieses Mal bemerkte er jedoch, daß jemand in sein Zimmer kam und drehte sich daher um. Als Kais Blick auf die angespannten Mienen seiner Teammitglieder fiel und er die Besorgnis um ihn in ihren Augen lesen konnte, löste dies widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Einerseits bestärkte ihn die Sorge seines Teams um ihn in seinem spontan gefaßtem Entschluß, ihnen einen Teil seiner Vergangenheit anzuvertrauen – andererseits hätte er sie aber auch am liebsten so weit wie möglich weggeschickt. Und sich unter der Bettdecke verkrochen, bis dieser Tag vorbei war.

Doch dies paßte nicht zu ihm.

Kai war noch nie vor einem Problem davongelaufen – von denen es in seinem bisherigen Leben einige gegeben hatte. Er hatte sich stets auf die eine oder andere Weise dem Hindernis gestellt – und es überwunden. Die seelischen Wunden, die er dabei davongetragen hatte, waren jedoch manchmal so tief gewesen, so daß sie beim geringsten Anlaß aufbrachen und erneut bluteten.

So wie die Begegnung mit Boris vor ein paar Tagen.

So wie das Datum des heutigen Tages.

Wie der Anblick eines Tellers Spaghetti.

All diese Dinge brachten Erinnerungen mit sich, die Kai quälten und sich verwundbar und allein fühlen ließen. Verlassen. Einsam. Hoffnungslos.

Als hätten sie seine Gedanken und Gefühle vernommen, begannen sowohl die Feder an der Kette um Kais Hals als auch sein Beyblade mit dem Abbild von Dranzer, dem goldroten Phönix, in einem warmen Lichtschein zu glühen. Das weiche Licht erfüllte das Zimmer mit einem unhörbaren Versprechen nach Schutz und Wärme – hüllte Kai gleichsam in einen beschützenden Mantel aus Geborgenheit.

Ray, Tala, Max und Kenny beobachteten das Geschehen fasziniert, aber auch sehr besorgt, denn Kais ungewöhnliches Verhalten gab ihnen zu denken. Zuvor war ihr Teamchef stets sehr kühl und abweisend gewesen, doch heute war dies anders – er schien seine Haltung nur mühsam zu bewahren. Die Gelassenheit, welche Kai sonst immer ausstrahlte – diese Aura aus Stärke und Selbstbewußtsein – fehlte fast gänzlich und wurde ersetzt durch Verletzlichkeit und Schmerz.

So vertieft waren die vier Jungen in ihre Gedanken über ihren Teamcaptain und Freund, daß ihnen fast entgangen wäre, als dieser schließlich zu sprechen begann. Kai hatte den Trost, den ihm das Licht der Feder und seines Beyblades geschenkt hatte, genossen und daraus die Stärke gezogen, sich dem zu stellen, was er jetzt seinen Teamgefährten offenbaren wollte.

Nein, berichtigte sich Kai im Stillen – er würde es seinen Freunden erzählen.

Doch wo anfangen? Wo anfangen, über die Geschehnisse seiner Vergangenheit zu berichten?

Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen, trat Kai wieder an den Tisch heran, auf dem Ray zuvor das Essen abgestellt hatte. Den Teller Spaghetti betrachtend, wurde Kai erneut von Erinnerungen heimgesucht. Doch dieses Mal wehrte er sich nicht gegen sie, sondern betrachtete jedes einzelne der mentalen Bilder ganz genau.

„Sie liebte Spaghetti über alles", begann er schließlich leise zu erzählen und konnte förmlich spüren, wie sich die alleinige Aufmerksamkeit von Tala, Ray, Max und Kenny auf ihn konzentrierte. „Mindestens einmal pro Woche mußte es Spaghetti geben. Mit viel Tomatensoße", fügte Kai mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu, als er an die leuchtenden Augen seiner kleinen Schwester dachte, wenn ihre Mutter zu Tisch rief und jeweils ein großer Topf Nudeln und einer Tomatensoße bereitstand.

„Kayla liebte Spaghetti über alles", wiederholte Kai leise, bevor sein Lächeln sichtbar zärtlich wurde, wenn auch nur für einen kurzen Moment. „Wenn sie mit essen fertig war, hatte es jedoch meist nur etwa die Hälfte davon in ihren Bauch geschafft. Der Rest zierte sie von oben bis unten."

Bilder seiner kleinen Schwester erschienen vor Kais innerem Auge, als er dies sagte. Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. An ein anderes Leben.

Strahlende blaue Augen. Ein lachender Mund in einem kleinen runden Gesicht, das rundherum mit Tomatensoße verschmiert war. Kleine Händchen, welche nach ihm griffen und kichernd mit sich zogen, wenn ihre Mutter scheinbar strafend den Kopf schüttelte und mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Badezimmer wies. Das leise Lachen ihres Vaters, wenn Kai folgsam dem Zug der kleinen Hand in seiner größeren nachgab und Kayla ins Badezimmer begleitete, wo er ihr behutsam die Tomatensoße aus dem Gesicht und von den Händen wusch – woraufhin sie sich ihm hinterher stets strahlend um den Hals warf und als Dank tausend kleine warme Küßchen über seine Wangen verteilte.

Ein Kloß erschien in Kais Kehle und er schluckte krampfhaft die Tränen herunter, die sich in seinen Augen bildeten. Jetzt war nicht die Zeit, zusammenzubrechen. Noch nicht. Erst mußte er erzählen, was er sich vorgenommen hatte, zu offenbaren. Erst, wenn sein Team von diesem Teil seiner Vergangenheit wußte, konnte er die Tür hinter ihnen schließen, sich in sein Bett legen und den Tränen nachgeben.

Kai schloß die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Auch ohne die vier anderen Jungen anzusehen, wußte er, daß sie ihn aufmerksam beobachteten. Sicher bemerkten sie seinen noch wirksamen Versuch, sich zu beherrschen – und er war dankbar dafür, daß sie ihn nicht unterbrachen. Selbst Max blieb still, der sonst die Quasselstrippe des Teams war.

Noch einmal tief durchatmend, sprach Kai weiter. „Heute ist...ist...", der Blader mit dem blaugrauen Haar zögerte, „...kein guter Tag für mich." ‚Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts', schalt eine bittere Stimme in Kai. ‚Sag es ihnen endlich!'

„Heute vor...vor 9 Jahren sind...", Kais Stimme zitterte leicht, bevor er sich einen sichtbaren Ruck gab und dann von irgendwoher die Kraft nahm, mit fester Stimme das zuende zu bringen, was er angefangen hatte. „Heute ist der Todestag meiner Familie. Meiner Mutter, meines Vaters und...meiner kleinen Schwester."

Überraschtes Atemholen durchschnitt die Stille, welche sich nach Kais Worten zuerst über das Zimmer gelegt hatte. Ein leises „Oh mein Gott" wurde entsetzt geflüstert, bevor wieder Ruhe herrschte.

Kai hatte nach seinem ‚Geständnis' die Augen geschlossen und erwartete eine Unzahl an Fragen von seinen vier Teamgefährten. Doch als diese auch nach mehreren Minuten noch still blieben, entspannte sich der Junge mit dem graublauen Haar ein wenig. Dankbarkeit durchflutete ihn, als er bemerkte, daß sein Team so sensibel auf dieses Thema reagierte – die Vier wollten ihn offensichtlich nicht ausfragen, sondern nur das hören, was er entschied, ihnen anzuvertrauen.

Dieses unerwartete Feingefühl von Max, Ray, Tala und Kenny ließ Kai die Kraft in sich finden, mehr ins Detail zu gehen über die Ursache des Todes seiner Familie. Abwesend über die Gabel streichend, welche neben dem Teller lag, als wolle er gleich anfangen zu essen, sammelte Kai erneut seine Gedanken. Dann begann er erneut zu sprechen.

„Ich war sieben, als es geschah. Meine Großmutter war wenige Jahre zuvor gestorben, so daß ich mich kaum an sie erinnere. Mein Vater, der mit uns in Japan wohnte, wo er Mutter kennengelernt hatte, entschied damals, daß es für Großvater besser wäre, nicht allein zu leben, nachdem er Großmutter verloren hatte.
Daher zogen wir nach Rußland – Moskau, um genau zu sein – wo ein Jahr darauf Kayla geboren wurde. Großvater lebte auf, nachdem er meine Schwester das erste Mal im Arm hielt und wurde wieder fast so fröhlich wie vor dem Tod von Großmutter. Er war sehr glücklich darüber, daß wir zu ihm gezogen waren und das große Haus, welches er besaß, wieder mit Leben erfüllten, wie er es nannte. Kaylas Geburt dort war für ihn ein Zeichen, daß sich das Weiterleben lohnte."

Kai stockte kurz in seiner Rede, als er sich daran erinnerte, wie oft sein Großvater und er gemeinsam an Kaylas Wiege gestanden hatten und Voltaire ihm erzählte, daß er als der große Bruder stets gut auf Kayla aufpassen müsse. Sein Großvater hatte Kai – damals selbst gerade erst knapp drei Jahre – außerdem aber auch viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ihm Geschichten erzählt, ihm die Anfänge des Beybladens beigebracht. Voltaire Hiwatari war ein guter, liebevoller Großvater gewesen.

Bis sich alles änderte.

„Fünf Jahre lang lebten wir bei Großvater, welcher eine bekannte Firma für Technik leitete, welche auch in der Beyblade-Forschung schon große Erfolge erzielt hatte. Mutter hatte währenddessen beruflich eine neue Richtung eingeschlagen. Sie war Waise, ihre Eltern schon lange tot, bevor sie Vater kennenlernte. Darum wollte sie Kindern, denen es ähnlich erging, helfen. Sie gründete in Moskau, nahe von Hiwatari Mansion, ein Waisenhaus in einer alten Abtei. ‚Hope', so nannte sie es. Hoffnung."

‚Heute wäre Damnation viel angebrachter', fuhr es Kai durch den Sinn. Ja, Verdammnis kam dem Schicksal wohl recht nahe, was den Kindern, welche heute in der Abtei aufwuchsen, widerfuhr.

„Vater war wieder bei Großvater in der Firma eingestiegen, wo er als Forscher tätig war. Er entwickelte einen neuen Blade, welcher sich besser lenken ließ und viel mehr aushielt als ältere Versionen. Ich durfte ihn öfter mal begleiten, da Vater wußte, wie sehr ich es liebte, ihm bei der Arbeit an den Blades zuschauen zu dürfen. Dort lernte ich dann Boris kennen, einen ‚Arbeitskollegen' meines Vaters." Kai schüttelte sich unwillkürlich, ohne es zu bemerken. Doch seinen vier Freunden, die atemlos der Geschichte ihres Teamcaptains lauschten, entging diese Regung nicht und sie konnten sich vorstellen, was Kai für jenen Mann empfand.

„Boris entwickelte ebenfalls neue Blades, doch hatte er völlig andere Ansichten über die Nutzung der daraus entstehenden Beyblades. Ebenso über die Personen, welche die Blades schließlich zum Einsatz bringen sollten. Aus diesem Grund gerieten Vater und er oft aneinander und stritten sich über die Art und Weise, wie die neuen Blades genutzt werden sollten. Schließlich kam es soweit, daß Großvater einschreiten mußte, als Boris meinem Vater gegenüber handgreiflich wurde. Großvater warf Boris aus der Firma, woraufhin dieser sowohl ihm als auch Vater drohte." Kais Augen verdunkelten sich.

An jenem schicksalhaften Tag, welcher seine Schatten bis in die heutige Zeit warf, war er ebenfalls in der Firma seines Großvaters gewesen, ohne es seiner Familie zu sagen. Er hatte seinen Großvater überraschen wollen, indem er ihm zeigte, wie gut er inzwischen mit einem von seinem Vater entwickelten Prototyp eines neuen Beyblades umgehen konnte. Dabei hatte er die ganze Szene mitangesehen, ohne daß die drei Erwachsenen es bemerkten. Er hatte Boris' Drohung gegenüber seiner Familie gehört und das manische Funkeln in den kalten Augen des Mannes gesehen, als dieser die Firma verließ. Und Kai konnte sich gut an das Gefühl der Vorahnung erinnern, welches ihm damals kalt den Rücken hinuntergelaufen war. Selbst mit seinen erst knapp sieben Jahren war dem Jungen damals bewußt geworden, daß Boris gefährlich war.

Wie gefährlich, wurde erst drei Monate später in all seiner Grausamkeit deutlich.

„Boris' Verschwinden aus Großvaters Firma kam für viele einer Erleichterung gleich, denn er war wegen seiner Art sehr unbeliebt gewesen. Großvater und Vater vergaßen die Drohung, welche Boris ihnen gegenüber ausgestoßen hatte, als er augenscheinlich in der Versenkung verschwand und man nichts mehr von ihm hörte. Das war ihr Fehler. Denn Boris vergaß sie nicht. Ganz im Gegenteil.
Im Geheimen baute er sich seine eigene Firma auf, wo er auf seine kranke Art und Weise die Beyblade-Forschung weitertrieb. Doch dabei verlor er sein Ziel nicht aus den Augen, sich an meiner Familie zu rächen. Drei Monate nach seinem Hinauswurf kehrte er dann aus der Versenkung zurück und vollzog seine Rache auf die wohl grausamste Weise, die man sich vorstellen kann." Kai schluckte schwer, als er sich an den Tag erinnerte, der sein weiteres Leben bestimmen sollte.

„Großvater hatte mir zu meinem siebten Geburtstag eine Reise zu einer Beyblade-Meisterschaft geschenkt. Ich war noch zu klein, um selbst mitzumachen, doch da er zu den Sponsoren der Aktion gehörte, dachte er wohl, es würde mir eine Freude bereiten. Es war wundervoll dort – doch als wir einen Tag später nach Hause zurückkehrten, erwartete uns die Polizei. Jemand war in die Mansion eingebrochen und...", Kais Stimme begann wiederum zu zittern, während sich seine Hände um die Lehne des Stuhles krampften, an dem er stand.

„Die Polizei glaubte, daß der Einbrecher von meinen Eltern überrascht wurde und sie deshalb sterben mußten. Doch warum hätte er dann auch ein fünfjähriges Kind ermorden müssen, welches in einem völlig anderen Teil des Hauses schlief?", fügte Kai bitter hinzu.

„Ich erinnerte mich sofort an Boris und seine Drohung, sich zu rächen. Doch die Polizei schenkte der Aussage eines siebenjährigen Kindes kaum Glauben und Großvater war durch den Tod meiner Eltern – und vor allem Kaylas – völlig am Boden zerstört. Kayla war sein Ein und Alles gewesen, sein Sonnenschein, wie er sie immer nannte. Und nun war sie...sie war einfach...tot." Das letzte Wort flüsterte Kai nur noch, während sich seine Augen erneut mit Tränen füllten. Er kämpfte noch immer dagegen an, sich seinen Schmerz allzu deutlich anmerken zu lassen, dennoch spürten Kenny, Max, Tala und Ray die Wunde, welche in Kais Herzen blutete.

Hilflos sahen sie sich an, da sie nicht wußten, was sie nun tun sollten. Am liebsten wären sie alle aufgesprungen und hätten Kai in den Arm genommen, um ihn zu trösten – doch ahnten sie, daß er darauf bei ihnen nicht gut reagieren würde. Ihre Freundschaft war für Kai noch zu neu, als daß er sich erlaubt hätte, in ihrer Gegenwart loszulassen und zu weinen.

Augen voller Mitgefühl lagen auf Kai, der inzwischen am ganzen Körper zitterte und den vier Bladebreakers den Rücken zudrehte. Ein instinktiver Wunsch klang in den Herzen der Jungen, die ihrem Teamchef so gern helfen wollten. ‚Engel, bitte komm und hilf Kai, er braucht dich!'

Und als hätte Kais Freund den stummen Aufschrei gehört, erhellte im nächsten Moment ein weiches, weißes Licht das Zimmer und der Engel erschien. Augenblicklich erfaßte er die Lage und eilte auf Kai zu, dessen zitternde Gestalt er sanft mit seinen Armen umschloß. Weißleuchtende Schwingen entfalteten sich zu ihrer vollen Größe und legten sich in einer Imitation des Geschehens bei Kais Match gegen Ian schützend um den Jungen mit dem blaugrauen Haar. Nur schützten sie Kai dieses Mal nicht gegen physische Schmerzen, sondern versuchten, seine emotionale Qual zu lindern.

Kai fest in den Armen haltend, wandte sich Thyros für ein paar Augenblicke den vier Jungen zu, die ihren Freund mitfühlend musterten. Es war ihr gemeinsamer Wunsch gewesen – die Dringlichkeit, mit der sie Kais Schmerz gelindert wissen wollten – der Thyros augenblicklich hierher gebracht hatte.

Eigentlich war er unabkömmlich gewesen, doch schon seit dem Morgen wollte er bei Kai sein. Thyros hatte den Schmerz seines Freundes gespürt, seine hilflose Pein angesichts dieses Tages. Jedes Jahr war Thyros bei Kai gewesen und hatte diesen Tag mit ihm verbracht, um seinem Freund das Gefühl zu geben, er wäre trotz des Verlustes seiner Familie nicht allein. Und so hatte es den Engel gequält, daß er dieses Jahr wahrscheinlich aufgrund der Geschehnisse im Reich der Engel Kai nicht würde beistehen können. Doch der Hilferuf von Kais Freunden hatte alles Andere unwichtig gemacht – Kai brauchte ihn und daher eilte ihm Thyros ohne Zögern zu Hilfe.

Nun musterte er die vier Jungen aus mitternachtsblauen Augen, während er Kai tröstend an sich drückte. Thyros war beeindruckt von ihrem sensiblen Verhalten und schenkte ihnen daher ein leichtes Lächeln voller Sanftheit und Dankbarkeit. Doch es war auch traurig und ein wenig schuldbewußt, denn der Engel wußte, Kai brauchte jetzt nur ihn, um den Tränen freien Lauf lassen zu können.

Ray, Tala, Kenny und Max ein stummes „Danke" zuwerfend, drehte Thyros den Kopf zur Tür und schaute dann zu den vier Bladebreakers zurück. Und sie verstanden, daß ihre Anwesenheit jetzt nur stören würde. Daher erhoben sie sich und verließen mit einem letzten Blick auf Kai und den Engel das Zimmer.

Hui! Das war echt zum Heulen, das Kapitel! Im nächsten erfahrt ihr dann mehr darüber, wie es mit Kais Leben weiterging – und, wie er Thyros kennenlernte! Bis dann! R & R!

Dragon's Angel