Kapitel 3: Überraschung!
...Er streckte mir die Hand entgegen, draußen hämmerte Raoul gegen die Tür. Er will mir etwas zurufen, aber ich verstehe seine Worte nicht mehr. Ich sehe nur noch die Gestalt mit der weißen Maske vor mir. Eine nie gekannte Faszination ging von ihr aus. Wie sehr hatte ich mich nach meinem Engel der Lieder gesehnt! Ihm endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Heute Nacht werde ich ihn bitten, mich mitzunehmen, fort aus dieser Welt, zu der ich nicht gehöre, die so voll ist mit lästernden Fremden. Heute Nacht bin ich bereit, die Erde und alles, was darauf ist, aufzugeben für die geliebte Gegenwart meines Hüters. Der Tod ist ein Preis, den ich nicht mehr in Frage stelle oder zu entrichten fürchte. Diese letzte Woche hat ausgereicht, um mir zu zeigen, dass es ohne ihn für mich einfach kein Leben mehr gibt.
Die Gedanken gingen mir wieder und wieder durch den Kopf. Wie an dem Tag als ich sie zum ersten Mal hatte. Ich strecke ihm meine Hand entgegen und er zieht mich durch den Spiegel. Dahinter, ein langer von Fackeln erhellter Gang. Doch das alles bemerke ich nicht. Mein Blick ist starr auf die Gestalt vor mir gerichtet. Wohin führt er mich? Was will er von mir. Ist er wirklich der Engel der Lieder, von dem mein Vater immer sprach? Tiefer und tiefer führt er mich hinunter, unter die Oper. Von diesem Ort gab es genug Geschichten um ein ganzes Buch damit zu füllen. Als wir an einem unterirdischen Wasserlauf ankommen, sehe ich das Boot das dort festgebunden ist. Wir steigen ein und ich setze mich in den Bug des Schiffes, während mein geheimnisvoller Begleiter nach einer langen Stange greift um das Boot vorwärts zu bewegen. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, die Fahrt kann ein paar Minuten oder auch eine Stunde gedauert haben. Vor dem Boot taucht ein Tor auf. Es ist geschlossen. Doch als sich das Boot nähert, öffnete sich das schwere Gitter wie von Geisterhand. Dahinter, ein riesiger See. Ich hatte von diesem See gehört. Mann benutzte ja schließlich auch das Wasser, um einige Arbeitsabläufe auf der Opernbühne zu vereinfachen. Aber ich hatte in mir anders vorgestellt. Dunkel und verlassen. Doch was ich nun zu sehen bekam, verschlug mir fast den Atem. Der See war nicht dunkel, er wurde erhellt von Hunderten von Kerzen.
Ich erwache aus meiner Bewusstlosigkeit. Geweckt von einer kleinen Spieluhr. Ich weiß nicht, wo ich bin. Wohl aber wie ich hergekommen bin. Ich erinnere mich an den Spiegel, das Boot- und an die Gestalt die mich hergebracht hatte. Ich war noch nie an diesem Ort. Ich lag auf einem bequemen Bett. Um mich herum überall Kerzenlicht. Ein Geräusch dringt durch den leichten Vorhang, der wie ein Baldachin über das Bett gespannt war. Als ich aufstand, zog sich der Vorhang automatisch zurück und gab den Blick auf einen ganz in Schwarz gekleideten Mann frei, der an einem Schreibtisch saß und sich seinen Notizen zugewandt hat. Als er bemerkt, das ich aufgewacht bin, dreht er den Kopf kurz in meine Richtung, wandte sich aber gleich wieder seiner Arbeit zu. Was er dabei nicht bemerkte, war das ich immer näher an ihn herankam und die Hand nach seiner Maske ausstreckte. Als ich sie ihm vom Gesicht nehme, fuhr er mit einem wütenden Aufschrei zu mir herum, so das ich sein Gesicht sehen könnte. Er beschimpfte mich mit allen möglichen Flüchen, wie ich es wagen konnte ihm die Maske abzunehmen. Doch irgendetwas an seinem Gesicht schien nicht zu stimmen. Irgendwie wirkte es – verzerrt! Plötzlich wurden die Konturen klar. Doch anstelle des Gesichtes das ich erwartet habe, blicke ich in das von einem hämischen Grinsen geprägten Gesicht von Raoul.
Mit einem leisen Aufschrei schreckte ich aus dem Alptraum hoch. Ich brauchte einige Augenblicke, um zu realisieren wo ich mich eigentlich befand. Doch schnell hatte ich mich wieder gefangen. Neben mir lag Erik im Bett. Doch seine tiefen Atemzüge verrieten mir das er fest schlief. Als er neben mir auf dem Bett saß, hatte er mich gebeten ihm von seiner Tochter zu erzählen. Was ich auch getan hatte. Er fragte mich auch nach ihrem Namen. Ich hatte ihr den Namen Madeleine gegeben. Darauf sah er mich an und meinte: Ein sehr schöner Name. Meine Mutter hieß auch Madeleine. Ich war überrascht, dass hatte ich nicht gewusst. Er hatte mir nur gesagt, dass ich ihr sehr ähnlich bin. Wie lange wir uns wohl noch unterhalten hatten?
Da er sich nicht einmal umgezogen hatte, muss er wohl einfach eingeschlafen sein, denn er hatte gerade mal seine Schuhe ausgezogen, und seine Maske abgelegt. Sein Aussehen störte mich allerdings schon lange nicht mehr. Doch wenn die Liebe über sie Gewinnt, wirst du mein Los verstehen. Ich wollte ihn nicht wecken, also beschloss ich mich noch mal hinzulegen und versuchte noch ein wenig zu schlafen. Dabei rückte ich ein Stück näher zu Erik, denn so komisch es sich auch anhören mag, ich sehne mich nach seiner Berührung. Im Schlaf legte er mir seinen Arm um die Hüfte und wenig später war ich auch wieder eingeschlafen. Denn hier bei meinem geliebten Phantom würde mir nichts passieren. Das wusste ich einfach.
Am nächsten morgen erwachte ich erholt und ausgeruht. Als ich mich umsah, stellte ich fest das ich alleine in meinem Zimmer war. Da ich sowieso nicht wusste wie spät es war, beschloss ich einfach aufzustehen. Ich zog mich noch um, da einige meiner Kleider hier waren, stellte dies kein Problem dar. Doch dann fiel mein Blick auf den Diamantring, den ich noch trug. Es war mein Ehering. Ich betrachtete ihn gedankenverloren. Doch ich hatte mich bereits entschieden. Ich nahm den Ring ab und setzte den schmalen Goldreif auf, denn mir Erik geschenkt hatte. Er lag immer noch in dem kleinen Kästchen, das auf meiner Kommode stand.
Nach ein paar Minuten die ich brauchte um meine Gedanken zu ordnen, hatte ich mich endgültig entschieden. Ich ging nach draußen und blieb am Ufer des Sees stehen. Ohne dem Ring noch einmal zu betrachten, nahm ich ihn in die Hand und warf ihn soweit ich konnte ins dunkle Wasser. Als ich dies getan hatte, überkam mich ein Gefühl als hätte ich Raoul verraten. Und im Grunde hatte ich ja genau das getan. Aber nun gibt es kein zurück mehr. Ich hatte mich für die Freiheit entschieden. Eine Freiheit, die ich an der Seite eines Adligen nie haben könnte.
Kurz darauf ging ich ins Haus zurück, es war tiefer Winter und das spürte man auch hier außerhalb des Hauses tief unter der Erdoberfläche. Doch ich war wieder einmal alleine in der Wohnung. Doch das war ich ja auch früher schon. Erik ging immer wieder nach oben. Ich sollte ihn Fragen ob er immer noch die kleinen Ballettmädchen erschreckt, so wie er es immer schon gemacht hatte. Er meint es gehört zu seinem Ruf das er alle in Angst und Schrecken versetzte. Womit er Recht hatte. Alle an der Oper erzählten sich die Schauergeschichten vom Dunklen Phantom, dass Sängerinnen verschleppte. Und allen voran meine beste Freundin Meg.
Erik hatte mir anvertraut, dass er mich das erste mal mit Meg zusammen auf der Opernbühne gesehen hatte. Damals hatten wir uns von den Proben davongeschlichen und uns die Bühne angesehen. Im Orchestergraben erzählte mir Meg dann einige der Schauergeschichten. Einmal war der Boden der Gardarobe voller Blut, und er verstecke auch immer Haarbürsten und Puderquasten. Das, so sagte mir Erik mit einem schmunzeln habe er nie getan, was solle er den mit Puderquasten anfangen. Doch sobald irgendetwas verschwand, war immer das Phantom schuld daran. Was wir allerdings beide nicht wussten war, dass Erik zu dem Zeitpunkt in seiner Loge gesessen und alles mitgehört hatte. Er meinte auch Meg sollte lieber Schauerromane schreiben. Dazu hätte sie noch mehr Talent, als im Kostüm einer Nymphe über die Bühne zu schweben. Auch wenn er es nie zugegeben hatte. Ich wusste das er Meg gern mochte. Immerhin hatte er ihrer Mutter vermutlich sein Leben zu verdanken. Sie war es auch, die ihn in der Oper versteckt hatte. Doch das ist schon Jahre her. Doch war sie nach wie vor seine Vertraute. Und er zeigte sich auch oft erkenntlich. Schließlich war er es auch, der Meg zur Solotänzerin gemacht hatte. Es ist schon erstaunlich, was man durch ein Gespräch von Mann zu Mann so erreichen kann. Trotzdem möchte ich nicht in der Haut der Operndirektoren stecken. Denn auf die beiden hatte er es besonders abgesehen. Ich weiß gar nicht, wie oft er die beiden schon zur Weißglut getrieben hatte. Und eigentlich war es mir auch egal.
Nach einiger Zeit, hörte ich wie die Tür der Spiegelkammer geöffnet und auch wieder geschlossen wurde. Ich wurde unruhig. Erik benutzte diese Tür nie. Ich ertappte mich schon bei dem Gedanken, dass Raoul hergekommen war um mich zurückzuholen, oder um mich womöglich gleich umzubringen. Leise um kein Geräusch zu machen, schob ich die Tür meines Zimmers soweit auf, das ich durch den Spalt sehen konnte wer hier hergekommen war.
Erik? Bist du hier? Die Stimme die ich hörte, kam mir bekannt vor. Doch erst als ich die Person sah, zu der sie gehörte, konnte ich ihr einen Namen geben. Es war der Perser - Nadir. Ein alter Freund von Erik aus früheren Jahren. Er kam oft her um mit ihm zu reden und Neuigkeiten auszutauschen. Und von ihm ging auch keine Gefahr für mich aus. Ich öffnete die Tür um ihn zu begrüßen. Guten Tag Nadir! Erschrocken fuhr er zu mir um und sah mich an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Ma- Ma- Madame, ihr seid hier? Wie , warum ich meine – hat er sie hergebracht?
Er war kaum in der Lage einen ganzen Satz am Stück zu sprechen. Ja ich freue mich auch dich zu sehen Nadir! Könntest du mir verraten was mit dir los ist? Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen. Wie kommst du darauf das Erik mich entführt hat? Langsam schien er sich wieder zu fangen. Madame bitte verzeiht mir mein unerwartetes Auftauchen, aber ich musste herkommen. Als ich gehört habe, dass ihr verschwunden seit. Ich dachte Erik hat euch entführt und hergebracht. Und da ihr wirklich hier seit, liege ich mit meiner Vermutung gar nicht so falsch oder?
Unweigerlich musste ich lachen. Erik hat mich nicht entführt, keine Angst. Ich bin aus freien Stücken hier. Ich sah das Nadir ein Stein vom Herzen gefallen sein muss. Oh Gott sei dank. Das hätte gerade noch gefehlt. Euer verschwinden steht in allen Zeitungen. Als ich das hörte, versteifte ich mich innerlich. Was steht den genau in den Artikeln? – Ja das würde ich auch gerne hören. Die stimme kam vom anderen Ende des Zimmers. Erik war wieder da. Doch als ich mich umdrehte um ihn zu begrüßen, sah ich das er nicht alleine gekommen war. Neben ihm stand eine kleine zierliche Gestalt. Meg. Und sie hatte meine Tochter im Arm.
Aus Susan Kays Roman Das Phantom
