Per Anhalter fahren ist gefährlich...oder zumindest nervtötend

Seit dem Unfall waren schon einige Stunden vergangen. Der Tag neigte sich dem Ende zu und langsam wurde es dunkel. Shego lag mehrere Meter von der Pfütze, die einmal ihr Auto war, entfernt. Es war unklar, ob sie aus dem Wagen geschleudert wurde oder ob sie von alleine herausgeklettert war und dann das Bewusstsein verlor, doch dem Geier, der sich ihr näherte war das ohnehin egal.
Nicht egal war ihm hingegen, dass er gerade, als er fröhlich drauf los picken wollte, von seinem vermeintlichen Abendessen am Hals gepackt, herumgewirbelt und durch die Luft geworfen wurde.
„Niemand frisst mich, solange ich noch am Leben bin. Und selbst danach würde ich es mir noch überlegen!" rief Shego dem frustriert davonfliegendem Geier hinterher.
Langsam stand sie auf und sah sich um. Die Erinnerung an den Unfall kam wieder hoch. Nach einer kurzen Selbstuntersuchung war sie sich sicher, dass sie bis auf ein paar kleinere Schrammen unverletzt war. Keine große Überraschung. Sie hatte schon schlimmeres überstanden. Sie ging zu den Überresten ihres Autos und stellte erstaunt fest, dass inmitten der grünen Matschpfütze ein völlig unversehrter Koffer lag.
„Hm, immerhin etwas gutes", sagte sie zu sich selbst und fischte den Koffer vorsichtig heraus.
In dem Koffer befand sich ihr komplettes Reisegepäck. Ja, sicher, Frauen reisen normalerweise nie mit nur einem Koffer, aber Shego dachte schon immer eher praktisch und packte nie mehr ein, als nötig.
Leider brachte ihr das jetzt herzlich wenig. Sie stand mitten auf einer endlos scheinenden Wüstenstraße, ohne Auto, ohne Telefon ohne auch nur eine Ahnung, wie weit die nächste Ortschaft weg sein könnte. Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern stattdessen einfach ihre Reise fortzusetzen.
Irgendwann war es schließlich Nacht. Es war keine Wolke am Himmel und der Mond und die Sterne warfen ein helles Licht auf die Straße. Eine zusätzliche Lichtquelle kam von Shegos linker Hand. Das „Feuer", das in ihren Händen brannte, war nicht nur eine hervorragende Waffe für den Nahkampf, sondern auch eine gute Präventivmaßnahme gegen in der Nacht jagende Raubtiere aller Art. Nicht einmal der dümmste Kojote – ja, ich meine den, aus den Road Runner-Cartoons – würde es wagen eine Frau mit einer grün glühenden Hand anzugreifen.
Langsam näherten sich Motorgeräusche hinter Shego. Sie drehte sich um und sah ein Auto näherkommen. Um niemanden zu erschrecken, löschte sie ihre Hand und streckte den Daumen raus. Das Auto blieb stehen.
„Brauchen sie Hilfe? Sie sehen schlimm aus." fragte Carl, der Fahrer des Autos.
Shego sah ihn sich ganz genau an und sagte: „Nein, ist schon gut. Ich warte auf den Nächsten."
„Das kann aber eine Zeit lang dauern, bis wieder jemand vorbei kommt. Vor allem Nachts ist diese Straße wie ausgestorben."
„Nein, schon gut."
„Was haben sie gegen mich?"
„Um ehrlich zu sein, ihr Aussehen. Dieses blasse Gesicht, der exakt gezogene Seitenscheitel, das weisse Hemd und ihre schiefe Nickelbrille schreien geradezu: „Ich bin ein gestörter Serienkiller" und ich wette, wenn ich den Kofferraum aufmache, finde ich dort ihre Mutter oder zumindest einen Teil von ihr."
Carl lächelte schief.
„Wenn ich für jedes Mal, wenn ich das höre einen Dollar bekommen würde, dann hätte ich jetzt...nicht viel. Aber ich kann ihnen schwören, ich bin kein Serienkiller und meine Mutter lebt in einem netten, kleinen Häuschen in Florida."
„Ich gehe trotzdem lieber zu Fuß. Ich hatte heute schon genug Ärger."
„Gut, wenn sie meinen? Aber bis zur nächsten Tankstelle sind es noch 37 Km und bis zum nächsten Ort sogar nochmal so viel."
Shego überlegte.
Nach einigen Sekunden sagte sie: „Okay, aber nur, weil ich es eilig habe."
Sie verstaute ihren Koffer im leichenfreien Kofferraum und setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Wissen sie", sagte Carl, „eigentlich bin ich es, der sich in Gefahr begibt, denn normalerweise sind es immer die Anhalter, die sich als gefährliche Psychopathen entpuppen."
„Psychopath? Nein. Gefährlich? Ja."
Carl grinste. Er nahm diese Bemerkung in keinster Weise ernst.
„Warum sind sie mitten in der Nacht zu Fuß unterwegs? Hatten sie einen Unfall?"
„Ja."
„Sieht man. Ich weiss nicht, ob sie schon die Chance hatten, sich im Spiegel zu betrachten, aber sie sind ziemlich verdreckt und haben eine üble Schramme an der Stirn."
„Weniger reden und mehr Autofahren."
„Wie unhöflich."
Carl nahm Shego ihr Verhalten nicht wirklich übel. Shego klappte den Sichtschutz runter und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah nicht allzu schlimm aus, wenn man bedenkt, was für einen Unfall sie hinter sich hatte, aber es würde reichen, um nicht in ein Restaurant gelassen zu werden. Am schlimmsten sah die Schramme auf ihrer Stirn aus. Sie hatte nur kurz geblutet, dafür aber um so heftiger und könnte so manch zartbesaitete Person zu Tode erschrecken.

„Aufwachen, wir sind da", sagte Carl.
Shego schreckte auf. Sie war kurz eingenickt. Mittlerweile hatten sie die erwähnte Tankstelle erreicht. Während Carl das Auto auftankte, ging Shego in den Tankstellenshop.
„Heilige Heilige", sagte der Tankwart erschrocken, als er Shego sah. „Was ist denn mit ihnen passiert, Lady?"
„Sieht schlimmer aus, als es ist. Haben sie ein Telefon?"„Ja, ist aber seit einigen Stunden kaputt. Mein Bruder hat draufgekotzt, und dann versucht, es mit Bier wieder zu reinigen. Hab den Trottel nach Hause geschickt, aber das Telefon ist hin."
„Haben sie ein Funkgerät?"
„Ja, aber da hat mein Bruder auch draufgekotzt."
Shego rollte genervt mit den Augen.
„Hat er auch in den Waschraum gekotzt?"
„Nö."
„Dann hätte ich gerne den Schlüssel dafür."
„Gibt keinen Schlüssel. Den hat mein Bruder veschluckt. Darum kotzt er ständig. Die Tür ist aber offen. Gehen sie draussen einfach rechts um die Ecke."
Ohne etwas zu sagen ging Shego zum Waschraum. Sie erwartete das Schlimmste, doch als sie das Licht einschaltete kam ihr der Verdacht, dass sie stärker am Kopf verletzt wurde, als sie ursprünglich dachte.
Der Waschraum war mit den weissesten Fliesen gekachelt, die sie je gesehen hatte. Die Spiegel glänzten wie Diamanten und die goldenen Wasserhähne standen dem in nichts nach.
Nur die Seife stank wie ausgekotzt.
Kurze Zeit später setzte sich Shego wieder in Carls Auto, das Gesicht von überflüssigem Dreck und Blut befreit.
„Alles klar?" fragte Carl vom Fahrersitz aus.„Ja."
„Gut, dann anschnallen. UND KOPF RUNTER!"
Von den vielen Dingen, die Shego im Laufe ihres Lebens gelernt hatte, war eines: Wenn jemand „Kopf runter" ruft, sollte man das sofort tun, ohne auch nur daran zu denken, nach dem „warum" zu fragen. In einer echten Krisensituation ist „Kopf runter" des öfteren der Garant für einen weiteren Tag, an dem man sich über diese Welt ärgern kann. Sollte man hingegen nur spaßeshalber zum senken des Kopfes aufgefordert werden, kann man dem Spaßvogel nachher immer noch eine reinhauen.
Dieses „Kopf runter" war kein Spaß. Der Tankwart kam mit einer Schrotflinte bewaffnet nach draussen gerannt und schoss durchs Heckfenster. Carl trat aufs Gas und preschte mit durchdrehenden Reifen davon.
„Verdammt, was war da los?" wollte Shego wissen.
„Ich habe keine Ahnung, der Typ war vorhin schon so komisch. Der...äh...dachte, sie wären meine Freundin und ich hätte sie verprügelt und er wollte mir beibringen, wie man mit Frauen umgeht."
„Indem er sowohl den Täter als auch das Opfer umbringt?"
„Anscheinend."
„Warum glaube ich ihnen nicht?"
„Gute Frage."
„Sie sind nervös."
„Natürlich. Ein wahnsinniger Tankwart wollte mich gerade wegen nichts erschießen!"
Shego beließ es für Erste dabei. Sie glaubte Carl aber noch immer nicht und als sie einen Blick nach hinten warf, um zu sehen ob sie verfolgt werden, wurde ihr Verdacht bestätigt.
„Kann es sein, dass er uns vielleicht wegen der Plastiktüte mit Geld, die vorhin noch nicht auf dem Rücksitz lag, erschießen wollte?"
„Plastiktüte mit Geld? Was für eine Plastiktüte mit Geld?"
Shego griff sich die sehr kleine Tüte und hielt sie Carl unter die Nase.
„Hier, diese Tüte!"
„Ich...ääh...sehe keine Tüte? Und auch kein Geld. Ihre Hände sind leer, sie sind ja verrückt."
Shego ließ ihre rechte Hand glühen und flüsterte Carl leise ins Ohr: „Anhalten. Sofort."
Carl tat das, worum man ihn so nett gebeten hatte.
„Aussteigen."
Auch das tat Carl, ohne zu zögern.
„Was", rief Shego in die Nacht, als sie ausstieg, „hat sie dazu getrieben, gerade jetzt eine Tankstelle zu überfallen? Und dann auch noch für so wenig Geld! In der Tüte sind vielleicht gerade mal 35 $!"
„Genau 42,74$."
„Und das Meiste davon in Münzen!"
Carl senkte schuldbewusst seinen Kopf.
„Ich weiss, das war böse und es tut mir auch leid."
„Hören sie mit dem Mist auf. Ich bin die letzte Person auf der Welt, die irgendwem Vorträge über Anstand und Moral hält. Alles, was ich wissen will, ist, warum sie so unfassbar blöd waren?"
„Naja, ich...habe mich auf Anhieb in sie verliebt und ich dachte, wenn ich die Tankstelle ausraube, dann hätten ich genug Geld, um mit ihnen eine gemeinsame Zukunft anzufangen."
Shego war unbeeindruckt.
„Sie sind ein noch mieserer Lügner, als Tankstellenräuber."
„Okay, ich bin ein Serien-Tankstellenräuber, der in drei Bundesstaaten gesucht wird und ich habe sie auch nur mitgenommen, um sie im Notfall als Geisel zu nehmen."
Shego verschränkte die Arme vor dem Körper und zischte einmal skeptisch durch die Vorderzähne.
„Gut, okay", sagte Carl schließlich, „ich bin nur ein kleiner Versicherungsvertreter in der Midlife-Crisis. Ich fahre Ziellos durch die Gegend, auf der Suche nach irgendwelchen dummen Abenteuern, durch die ich mich wieder jung fühle und als wir an der Tankstelle gehalten haben, kam mir die Schnapsidee, sie auszurauben! Ich habe keine Waffe, also habe ich die alte Finger-in-Jackentasche-Nummer durchgezogen und der Tankwart hat mir geglaubt, bis er anfing, mit einer Schrotflinte herum zu ballern. Zufrieden?"
„Nein. Aber immerhin haben sie mir die Wahrheit gesagt. Jetzt sollten wir aber schnell von hier verschwinden, bevor uns der Tankwart mit seinem klapperigen Pick Up einholt und uns abknallt."
„Meinen sie, er macht das?"
„Sagen wir es mal so: Da hinten kommt der Tankwart mit seinem klapperigen Pick Up und will uns abknallen."
Carl sah nach rechts und sah ein Paar schnell näherkommender Scheinwerfer.
„Woher wollen sie wissen, ob das wirklich..." Ein Schuss löste sich. „Okay, nichts wie weg."
Carl wollte sich gerade hinters Steuer setzen, als Shego in zur Seite schubste.
„Nichts da. Ich fahre."
Widerwillig stieg der Besitzer des Autos auf der Beifahrerseite ein.
„Anschnallen", befahl ihm Shego. „Hat der Wagen Airbags?"
Der Tankwart schoss erneut, verfehlte aber sein Ziel. Es ist schwierig, bei voller Fahrt das Gewehr ruhig zu halten und dabei mit der anderen Hand das Lenkrad zu bedienen.
„Nur auf der Fahrerseite", wimmerte Carl und versuchte, an etwas schönes zu denken.
„Das reicht aus."
Der Pick Up kam immer näher. Shego startete den Motor, wartete aber noch etwas mit dem Losfahren. Sie ließ den Tankwart immer näher kommen, bis sie meinte, dass der Moment richtig war. Sie haute regelrecht den Rückwärtsgang rein, trat aufs Gas und fuhr ihrem Gegner so frontal hinein. Der Airbag auf der Fahrerseite öffnete sich. Carl überstand es ohne größere Schäden. Der Tankwart trug die nächsten Tage eine riesige Beule auf der Stirn. Er hatte aber keine Zeit um sich jetzt darüber zu ärgern, weil er von Shego sofort aus dem Auto gezerrt wurde. Sie nahm sein Gewehr und schmiss es in die Dunkelheit.
„Hey!" protestierte der Tankwart, doch dann holte Shego aus und...gab ihm das Geld wieder.
„Warum tun sie das?" fragte Carl und auch der Tankwart war neugierig auf die Antwort.
„Weil sie ein dummer Vollidiot sind, der für einen minimalen Geldbetrag mein Leben riskiert hat. Ausserdem ist er", sie zeigte auf den Tankwart, „ebenfalls ein Vollidiot, weil er wegen dem bisschen Geld einen Riesenaufstand macht. Bei ihm glaube ich aber, dass es ums Prinzip ging, habe ich recht?" Der Tankwart nickte. „Und genau deshalb gebe ich ihm sein Taschengeld wieder, damit er aufhört, Charles Bronson zu spielen."
„Wenn sie vorhatten, ihm das Geld wiederzugeben, warum dann die ganze Nummer mit den Autos?"
„Weil er uns bestimmt nicht zugehört hätte. Habe ich recht?"
Der Tankwart nickte erneut.
„Warum musste ich dann einsteigen?"
„Weil alles ihre Schuld war! Ich baue doch nicht den zweiten Unfall innerhalb von einem Tag und verschone dabei den Mann, der an allem Schuld ist! Oh, verflucht, mein Koffer!"
Shego versuchte den völlig verbeulten Kofferraum erst auf konventionelle Weise zu öffnen, dann riss sie mit ihren glühenden Händen ein Loch hinein. Carl stand daneben und grinste.
„So wie es aussieht, war es wohl ein Gyrossieg für sie?"
„Gyros?"
„Ja, der Grieche, der eine Schlacht gewonnen, dabei aber fast sein ganzes Heer verloren hat. So wie sie ihren Koffer."
„Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll, sie zu korrigieren", sagte Shego und zog ihren völlig unbeschädigten Koffer durch das Loch nach draussen. „Dieser Koffer wurde für die Ewigkeit gemacht. Steigen sie ein, sie fahren wieder."
Den Rest der Fahrt schwiegen Shego und Carl.
Einmal wagte er es zu fragen: „"Was war da eigentlich mit ihrer Hand? Warum hat die geglüht?"
Shego antwortete darauf nicht.