Kapitel IIAnkunft in Edoras

Mit gedankenverlorem Blick saß Nadana auf dem Rücken eines kräftigen Pferdes. Immer wieder dachte sie während der Reise nach Edoras an diese letzten Ereignisse. Locker hielt sie in der einen Hand die Zügel von Kalohir, der mit stolz erhobenem Kopf neben ihr herschritt. Es war, als hätten sich alle anderen Pferde der kleinen Eskorte aus Erednin dem Hengst untergeordnet; mit leicht gesenkten Köpfen trotteten die Pferde neben, hinter oder vor Kalohir her. Nadana ritt neben Balrod her, mit dem sie sich seit Kindheitstagen sehr gut verstand und der sie immer wieder zum Lachen brachte. Auch Gluthwine war mitgekommen, außerdem noch eine Handvoll Soldaten aus Edoras, die König Théoden als Begleitung und Schutz gesichert hatte. Natürlich wollte der König nicht, dass Kalohir auch nur die geringste Kleinigkeit zustieß.

Mittlerweile hatten sie die West-Fold Rohans durchquert und befanden sich etwa einen Tagesritt vor Edoras, der Hauptstadt Rohans. Kalohir schien die Reise nicht geschadet zu haben, im Gegenteil. Er wirkte fröhlich, gut gelaunt und zufrieden, als wüsste er, was auf ihn zukam und worauf es ankam: auf ihn. Auch Nadana blühte während der Reise sichtlich auf. Immer wieder erkannte ihr Vater, dass das kleine Dorf ein Käfig für seine Tochter gewesen war. Ihre schönen, dunklen Augen nahmen wissbegierig alles auf, was sie sahen, immer wieder fragte sie Balrod, Gluthwine und ihn selbst über Edoras und die Königsfamilie aus. Doch sehr viel konnten ihr ihre Freunde und ihr Vater auch nicht sagen, denn sie wussten selbst nicht so viel über König Théoden und seine Familie, außer, dass er das edelste Ross in ganz Rohan besaß: Schneemähne.

Am Abend rasteten sie in der Nähe eines kleinen Weihers. Es lag dort wie eine Oase: Umrandet von Bäumen, die so dicht wuchsen, dass sie sich sogar sicher fühlten.

„Wie weit ist es noch bis Edoras?" fragte Nadana aufgeregt.

„Wir werden gegen Mittag da sein", sagte Balrod. „Das ist gut, dann haben wir noch den halben Tag, um unsere Quartiere zu beziehen. Du freust dich schon auf Edoras, was?"

„Oh ja", sagte Nadana. „Es ist der Traum jedes Mädchens, das im Dorf wohnt, die goldene Halle einmal zu sehen. Und ich werde jetzt sogar den König kennenlernen! Das ist eine sehr große Ehre."

„Das stimmt", meinte Balrod. „Für jeden von uns ist es eine Ehre, König Théoden zu treffen." Der junge Mann lächelte und sagte: „Und das haben wir einzig Kalohir zu verdanken. Wenn wir in Edoras sind, bekommt er eine Extraportion Möhren."

„Mindestens", lachte Nadana. „Er ist wirklich ein großartiges Pferd." Sie gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Leg dich schlafen, Kind", sagte ihr Vater. „Morgen wird nochmal ein anstrengender Tag für dich. Wir haben noch ein ganzes Stück Weg vor uns."

„Seid mir nicht böse, ich bin wirklich hundemüde", meinte Nadana, ein wenig beschämt.

„Um Eru willen, du brauchst dich doch nicht dafür zu entschuldigen", sagte Balrod lächelnd. „Leg dich schlafen, morgen stehen wir wieder früh auf."

Wenige Minuten später kuschelte sich Nadana in ihre Ecke und dachte daran, was sie wohl morgen alles erwarten würde. Beim Gedanken an die goldene Halle, das Wahrzeichen von Edoras und Regierungshalle von König Théoden, lächelte sie und schloss die Augen. Sofort war sie eingeschlafen und wachte erst auf, als ihr Vater sie sanft an der Schulter rüttelte.

„Nadana? Wach auf, Liebes, wir müssen weiter."

Nadana schlug die Augen auf. Ihr Vater lächelte. „Wir wollen doch rechtzeitig in Edoras sein", fuhr er fort. „Komm, Balrod hat etwas zu essen zubereitet."

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie schließlich um eine kleine Berggruppe bogen und am Horizont der Hügel auftauchte, auf dem Edoras stand. Nadanas Blick blieb an der goldenen Halle geheftet, die auf dem obersten Zipfel des Berges stand und weit über das Land hin sichtbar war. Die riesige Halle fesselte sie und Balrod, der neben ihr ritt, stieß ihr leicht in die Seite.

„He, Nadana, träumst du?"

„Was?" Nadana fuhr ein wenig zusammen. „Sie ist wunderschön, sogar von weitem, findest du nicht auch?"

„Ja, sie fesselt", sagte Balrod. „Warte erst mal, bis wir davor stehen."

„Dann bin ich überhaupt nicht mehr ansprechbar", lächelte Nadana. „Oh Mann, und was soll ich überhaupt sagen, wenn wir beim König sind? Oh, ich bin so aufgeregt!"

„Lass einfach deinen Vater reden", empfahl ihr Balrod. „Er weiß bestimmt, was zu sagen ist. Ich bin auch aufgeregt. Schließlich hat man nicht alle Tage die Möglichkeit, den König von Rohan kennenzulernen!"

„Eben", sagte Nadana. „Aber er soll ja sehr nett sein, oder?"

„Da fragst du den falschen", gab Balrod zu. „Ich habe keine Ahnung, wie der König ist. Klar, die Leute erzählen viel. Aber es stimmt auch eine Menge davon nicht. Da, sieh, sie erwarten uns schon!"

Tatsächlich kam eine kleine Eskorte rohirrischer Krieger auf sie zugeritten. Ihr Anführer war groß und schlank. Er hatte das markante Gesicht eines Kriegers, der schon viele Schlachten gefochten hatte und sicher hoch in der Gunst des Königs stand. Interessiert blickte er die kleine Gruppe der Fremden an und ließ seine Reiter anhalten.

„Ihr müsst die Gruppe um Naored sein, die den Hengst Kalohir nach Edoras bringen sollte", sagte er.

Nadanas Vater ritt nach vorne. Kalohir warf den Kopf stolz nach oben, als er seinen Namen hörte.

„Ja, Herr, ich bin Naored", sagte er. „Dieser Prachthengst hier ist Kalohir." Er deutete auf den stolzen Hengst.

Der junge Anführer musterte das Tier und nickte. „Ein wunderschönes Pferd. Wem gehört er?"

„Er gehört niemandem", warf Nadana ein. „Er ist niemandes Eigentum."

Alle Blicke wandten sich zu ihr. Auch sie musterte der Anführer von oben bis unten und Nadana lief rot an.

„Ihr müsst Nadana sein", sagte er. „Die einzige Frau, auf die Kalohir hört." Er lachte, ob Nadanas erstauntem Blick. „Tja, Ihr seht, Euer Name ist weit über Rohan bekannt. Ich bin Èomer, Neffe von König Théoden und erster Marschall der Riddermark. Wir sollen Euch nach Edoras bringen. Folgt uns, es ist nicht mehr weit."

Nadana sah ihren Vater fragend an. Der lächelte nur ermunternd und lenkte sein Pferd neben Èomers. Nadana hielt sich zurück und war froh, dass Balrod neben ihr herritt, so dass kein Rohirrim die Möglichkeit hatte, sie über Kalohir auszufragen.

Es dauerte tatsächlich nur noch etwa eine halbe Stunde, bis sie das Tor von Edoras passierten. Am Wegrand hinauf zur goldenen Halle drehten sich die Bewohner von Edoras erstaunt zu der Gruppe um. Kalohir zog alle Blicke auf sich. Und der Hengst schien das zu genießen. Nadana war es fast ein wenig peinlich, dass jeder nur auf Kalohir zu achten schien.

Und dann kamen sie endlich an der goldenen Halle an. Bewundernd und fasziniert betrachtete Nadana den mit goldenen Schriften und Reliefs verzierten Eingangsbereich. Balrod stieß sie an und etwas erschreckt sprang Nadana von dem Rücken ihres Pferdes. Ihre Begleiter standen bereits vor den Treppenstufen, die hinauf zum Eingangstor in die goldene Halle von Meduseld führten.

Èomer sprang von dem Rücken seines Pferdes und sagte zu Naored:

„So, Herr, der König erwartet Euch bereits. Háma hier wird euch in die goldene Halle begleiten."

Èomer wandte sich zu Nadana, die aufgeregt leicht den Kopf neigte zur Andeutung einer Verbeugung.

„Ich glaube, es ist am besten, wenn ich Euch erst mal die Stallungen zeige", sagte er und zwinkerte Nadana zu. Nadana lächelte zurück und sagte:

„Ja, das wäre gut. Kalohir muss sich ausruhen. Vater, ist dir das recht, wenn ich erst mal nicht mit zum König komme, sondern mich um Kalohir kümmere?"

„Natürlich, Liebes", sagte Naored. „Kalohir muss sich hier wohlfühlen. Wir komme dann später in die Stallungen."

Nadana streichelte Kalohir und sagte: „Na, Süßer, kommst du mit in den Stall? Da kannst du dich ausruhen."

Kalohir nickte mit dem Kopf und folgte Nadana und einem verblüfften Èomer, der das Tier bewundernd ansah.