IIIThéodred

„Er hat wirklich seinen eigenen Willen", bemerkte der junge Marschall. „Faszinierend. Es gibt nicht viele Pferde von seiner Sorte."

„Kalohir ist etwa ganz besonderes", sagte Nadana. „Wir sind sehr stolz auf ihn. Ohne ihn stünde mein Vater nicht dort, wo er gerade ist."

Èomer öffnete die Tore zu den Stallungen von Edoras. Es war ein riesengroßes Holzgebäude, das an die 50 Boxen enthielt. Große Fenster erhellten den Stall. Bei einigen Boxen standen die oberen Türabschnitte offen, so dass Nadana einen kurzen Blick in die Boxen werfen konnte. Die meisten Boxen waren jedoch leer.

„Viele der Pferde sind unterwegs mit ihren Herren", erklärte Éomer. „Wir müssen die Grenzen Rohans sichern. Irgendetwas scheint sich zu tun außerhalb unserer Landesgrenzen."

Nadana hörte ihm schon nicht mehr zu. Ihre Aufmerksamkeit ruhte auf einem großen, braunen Pferd. Seine edle Abstammung war deutlich zu erkennen. Stolz hatte das Tier den Kopf erhoben und lauschte den Worten seines Herrn. Dieser war ein Junge von vielleicht 20 Jahren, also in Nadanas Alter. Er hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar, ein hübsches Gesicht und war sehr schlank. Leise redete er auf den Hengst ein und streichelte ihn behutsam.

„Das ist Brego", sagte Èomer. „Auch ein wunderbares Tier. Und sein Herr ist mein Vetter Théodred. Der Sohn unseres Königs. Hier, diese Box haben wir für Kalohir reserviert." Èomer öffnete die Box neben der Bregos. Nadana riß sich von Théodreds Anblick los und ließ Kalohir in die Box gehen.

„Wir dachten, Brego und Kalohir würden sich bestimmt gut verstehen", meinte Èomer. Und mit einem Zwinkern fuhr er fort: „Théodred stelle ich Euch nachher vor, wenn er mit Brego spricht sollte man ihn besser nicht stören."

„Idiot", antwortete Théodred von draußen. Der junge Königssohn betrat die Box. Als er Nadana sah, blieb er auf der Stelle stehen und sah sie gefesselt an.

Große dunkle Augen lächelten ihn an. Sie hatte lange, dunkle, gelockte Haare, die offen auf ihren Rücken fielen. Sie war groß und schlank und der Ausdruck ihrer Gesichtszüge ließen keinen Zweifel zu: in ihren Adern floß elbisches Blut. Théodred öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er schien die Sprache verloren zu haben.

Èomer sah ihn grinsend an und sagte: „Weißt du eigentlich, wie unhöflich das ist?"

Théodred riß sich von Nadanas wunderschönen Augen los und sah Èomer verständnislos an.

„Naja, du starrst Nadana einfach an, ohne sie hier zu begrüßen", grinste Èomer. „Das ist sehr unhöflich und schickt sich nicht für den Sohn des Königs."

„Äh, ja, verzeiht mir", sagte Théodred. Erleichtert darüber, dass er seine Sprache doch wiedergefunden hatte, küsste er leicht Nadanas Hand und fuhr fort: „Herzlich willkommen in Edoras. Hattet Ihr eine gute Reise?"

„Ja, einigermaßen", sagte Nadana. Sie wagte es nicht, Théodred noch einmal in die Augen zu schauen. „Nur etwas lang. Aber Kalohir scheint sie gut überstanden zu haben."

„Das ist Kalohir?" fragte Théodred. Er verbeugte sich leicht vor dem Hengst und sagte dann: „Mae govannen, Kalohir." Und während er weiter leicht vor sich hin murmelnd auf Kalohir einredete, griff er in Kalohirs Zügel und strich dem Pferd sanft über die Nüstern. Nadana beobachtete ergriffen, wie Kalohir den Kopf senkte und sich streicheln ließ. Théodred lächelte und sagte:

„Ein wunderbares Tier. Ihr könnt stolz auf ihn sein."

„Ihr sprecht die Sprache der Elben", sagte Nadana. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Wo habt Ihr das gelernt?"

„Ich habe es von Gandalf gelernt", sagte Théodred. „Er war einige Zeit hier, als er Schattenfell, den Fürst aller Pferde, von meinem Vater bekommen hat. Er hat mir gezeigt, wie man mit diesen besonderen Tieren umgehen muss."

„Ich lasse euch dann mal alleine", grinste Èomer. „Ich habe noch einiges zu erledigen."

„Wir sehen uns nachher beim Essen!" rief Theodred ihm nach.

Einer der Diener hatte Kalohir einen Eimer Wasser geholt. Als Nadana sich hinunterbeugte, um den Eimer anzunehmen, rutschte das Amulett, welches um ihren Hals hing, aus seinem Versteck unter Nadanas Kleid. Théodred sah es und erstaunt sagte er:

„Ihr tragt das Goldene Amulett?"

Nadana hob den Kopf und sagte: „Ihr kennt das Amulett?"

„Jeder Rohirrim kennt das Amulett", sagte Théodred. „Es gehörte einer Elbin, die in Edoras Schutz vor Saurons Missgeburten suchte. Sie konnte das wildeste Pferd zähmen. Sie hat Schattenfell gezähmt."

„Sie war meine Urgroßmutter", sagte Nadana. „Sie hat meinem Vater das Amulett geschenkt, und vor unserer Reise hierher hat mein Vater es mir geschenkt. Es ist ein Familienerbstück."

Théodred trat vor Bewunderung einen Schritt zurück. Èomer lächelte und zwinkerte Nadana zu.

„Ihr tragt dieses Amulett nicht einfach so", meinte Théodred dann. „Das Amulett lässt sich nur von demjenigen tragen, der es verdient. Zeigt Ihr uns Eure Künste?"

„Natürlich", sagte Nadana. „Doch zuerst muss ich mich um Kalohir kümmern."

„Wir stören Euch bestimmt nur", sagte Èomer. „Los, Théodred, wir müssen zum König."

Théodred nickte und verabschiedete sich von Nadana.

„Sie ist eine Pferdeflüsterin", sagte Théodred, als die beiden Freunde die Treppenstufen zur goldenen Halle von Meduseld erklommen.

„Wundert dich das?" fragte Èomer.

„Dich nicht?" entgegnete Théodred.

„Ich bitte dich", sagte Èomer. „Kalohir hat seinen eigenen Willen, wie Schattenfell, Felárof oder Brego. Nadana jedoch pflegt ihn. Ist das nicht schon ein Zeichen, dass sie sehr gut mit Pferden umgehen kann?"

„Trotzdem", sagte Théodred. „Das Amulett zu tragen, heißt, größte Achtung gegenüber Pferden zu empfinden. Und in ihren Adern fließt elbisches Blut."

„Dafür, dass sie nur ein Gast ist, bewunderst du sie sehr", sagte Èomer schmunzelnd.

„Das gebührt ihr auch", sagte Théodred. „Wer das Amulett trägt, dem schulden wir größten Respekt."

„Bruderherz!" Èomers hübsche Schwester Èowyn kam aus ihren Gemächern. „Sind die Gäste eingetroffen?"

„Oh ja", sagte Èomer. „Die Tochter von Naored trägt das goldene Amulett von Awaren."

„Tatsächlich?" sagte Èowyn und Bewunderung klang in ihrer Stimme mit. „Das ist eine hohe Auszeichnung."

„Mein Herr Théodred?" Diener Háma kam aus der goldenen Halle.

„Ja, Háma?" fragte Théodred.

„Der König wünscht, Euch zu sehen", sagte Háma.

„Ich werde gleich zu ihm gehen", sagte Théodred. Er grinste Èomer zu und verschwand in die Goldene Halle.

„Was ist los?" fragte Èowyn. „Warum grinst ihr so?"

„Théodred bewundert Nadana sehr", sagte Èomer. „Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden demnächst viel Zeit miteinander verbringen."

„Er hat sich verliebt?" fragte Èowyn.

„Und wie", lächelte Èomer. „Wenn du mich fragst, bis über beide Ohren. Endlich. Vielleicht kann sie Brego helfen."

„Master Èomer?" Gamling und Nadana kamen aus Richtung der Stallungen. „Lady Nadana möchte ihre Gemächer sehen."

„Kommt mit, ich zeige sie Euch", sagte Èomer. „Das ist meine Schwester, Èowyn. Èowyn, das ist Nadana."

„Herzlich willkommen in Edoras", sagte Èowyn. „Ich hörte bereits, dass Ihr Trägerin des Goldenen Amuletts seid." Und plötzlich klang deutliche Kälte in ihrer Stimme mit. Èomer bemerkte es sofort und warf seiner Schwester einen warnenden Blick zu. Èowyn musterte Nadana. Sie war sehr hübsch, das musste sie zugeben.

„Es gehörte meiner Urgroßmutter", sagte Nadana. „Wenn Ihr mich entschuldigt, ich würde mich gerne frisch machen."

„Natürlich", sagte Èowyn.

Sie sah Nadana und ihrem Bruder nach. Und plötzlich fühlte sie einen Stich im Herzen, als sie die bewundernden Blicke der Diener sah, die Nadana nachschauten.

„Und fühlt sich Kalohir wohl hier?" fragte Èomer, als sie durch die Gänge schritten.

„Oh ja", sagte Nadana. „Er fühlt sich sehr wohl. Die Ställe sind sehr gepflegt."

„Ja, da kümmert sich Théodred persönlich drum", sagte Èomer. „Ihm liegt das Wohl der Pferde sehr am Herzen."

„Sie sind auch unsere wichtigsten Gefährten", meinte Nadana.

„Das ist wahr", nickte Èomer. „So, hier sind Eure Gemächer. Wenn Ihr mögt, kommt doch später nach draußen, dann können wir Euch Edoras zeigen."

„Sehr gerne", lächelte Nadana. „Danke."

Sie betrat ihr Gemach. Ihr Gepäck stand bereits vor dem Bett. Nadana trat ans Fenster. Ein weiter Blick über die Ebene vor Edoras öffnete sich ihr. Sie atmete tief durch. Natürlich hatte auch sie die plötzliche Kälte in Èowyns Stimme gespürt. Sie war doch nicht nach Edoras gekommen, um sofort Unfrieden zu stiften! Und so richtig wohl fühlte sie sich sowieso nicht. Die Goldene Halle strahlte zwar Stolz und Erhabenheit aus, aber einladend wirkte sie nicht gerade. Nadana seufzte und beugte sich zu ihrem Gepäck.