Kapitel 3 - Straßenkinder

Ich weiß nicht genau, wie lange ich bewusstlos dalag, vielleicht 5 Minuten, vielleicht 10. Als ich erwachte wusste ich nur, dass ich so schnell wie möglich weg musste. Natürlich würden sie die Flussufer entlang suchen und ich hatte nicht all die Strapazen auf mich genommen, um dann gefasst zu werden.

Ich zwang meinen geschundenen Körper aufzustehen, das nasse Bündel immer noch eng an mich gepresst. Alles drehte sich vor meinen Augen und ich hielt mich an einem Brückenpfeiler fest, bis die Welt wieder halbwegs stillstand. Erst einmal musste ich meine Orientierung wieder finden, dann wäre ich im Nu zu Hause, niemand kennt sich in Budapest besser aus als Straßenkinder. Nach weiteren kostbaren Minuten war mein Verstand endlich klar genug um meine Umgebung wieder zu erkennen. Auf Umwegen durch verwinkelte Seitenstraßen und Gassen gelangte ich in das Elendsviertel von Budapest, wo ich und meine Brüder lebten.

Kaum hatte ich die Tür geöffnet, stürmten meine Brüder mir mit entsetzen Gesichtern entgegen. "Um Gottes willen, Sarika! Was ist passiert? Haben sie dich erwischt?" Man konnte ihnen den Schreck nicht verübeln. Ich war bis auf die Knochen durchnässt, mein Haare verklebt und mein Gesicht blutverschmiert von der Wunde an meinem Kopf, meine Kleider an manchen Stellen zerfetzt und auch darunter schimmerte Blut. "Ja..." keuchte ich erschöpft. Aber das hier, " ich lies das Bündel auf den Tisch fallen, "habe ich mitgenommen." Als ich es endlich in Sicherheit wusste, verließen mich die letzten Kraftreserven und ich hörte nur noch aus weiter Entfernung wie meine Brüder meinen Namen schrieen, als ich zu Boden sank.

Es war nicht das erste mal, dass ich bei einem Raubzug verletzt wurde, aber es war das erste Mal seit langem, dass es so schwer war.
Als ich noch ein kleines Kind war, passierte mir das ständig. Mein Körper trug noch die Spuren dieser Zeit. Bissspuren am Oberschenkel vom Hund eines Metzgers, eine Narbe auf der Schulter von einem wütenden Bauern, der nichts dabei fand ein 5-jähriges Kind das Hunger hatte, für einen gestohlenen Apfel wie ein Vieh zu brandmarken...

Die Kunst mit den Schatten zu verschmelzen und mich geräuschlos und ungesehen bewegen zu können, hatte ich auf sehr schmerzhafte Weise erlernen müssen. Aber da war ich nicht alleine. So ging es allen Kindern die in den Straßen von Budapest aufwuchsen, ich war nichts Besonderes. Nur eine unter vielen. Höchstens ungewöhnlich, denn ich war ein Mädchen. Die meisten Mädchen starben auf der Straße, nur wenige überlebten ihre harte Kindheit. Deswegen war ich auch nur mit Jungen an meiner Seite groß geworden, ich hatte nie Freundinnen gehabt. Von Kindheit konnte man eigentlich gar nicht sprechen, denn wir kannten keine sorgenfreien Spiele, so wie die anderen Kinder sie spielten. Es war ein trostloses Dasein, geprägt vom ständigen Kampf ums Überleben und der allgegenwärtigen Sorge, wo man das Essen für den nächsten Tag herbekam.

Ich hatte keine Eltern gekannt, ein paar ältere Kinder die aus dem Waisenhaus ausgebrochen waren, hatten mich einfach an der Hand genommen und mit sich gezogen als ich etwa 4 war. Zuerst kümmerten sie sich noch um mich, besorgten mir Essen und Kleidung, aber als es immer schwieriger wurde, behielten sie die Nahrung für sich und sagten mir, wenn ich etwas haben wollte, müsste ich es mir schon selbst verschaffen, sie könnten mich nicht ewig durchfüttern. Nach und nach verschwanden sie... verkauften ihre Körper an die Freudenhäuser der Stadt und ihre Seelen an die grüne Fee. Ich und die anderen jüngeren Kinder blieben zurück und schlugen uns alleine mit betteln und stehlen durch.

Authors Note:
Während ich an diesem Kapitel geschrieben habe, hab ich das erste Mal "Moulin Rouge" gesehen. Daher auch die kleine Anspielung mit der grünen Fee. Es ist allerdings der Geschichte ganz und gar nicht dienlich gewesen, die ganze Zeit Dracula im Kopf zu haben, der in einem englischen Morgenrock durch die Gegend hüpft und "Like a Virgin" kreischt. Deshalb ist der Film jetzt auch erst mal in's hinterste Eck meines DVD-Regals verbannt, bis die Story hier fertig ist. (Was durchaus noch lange dauern könnte) Nicht falsch verstehen, ich finde den Film absolut genial, nur ist meine Phantasie eben etwas übereifrig.